Verfahrensgang
AG München (Aktenzeichen 127 VIII 3021/86) |
Tenor
Die Rechte des Beschwerdeführers aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes) werden dadurch verletzt, daß das Amtsgericht München es unterlassen hat, das Verfahren über die Regelung des Umgangsrechts des Beschwerdeführers mit seinen Kindern in einer Weise zu fördern, die einen Abschluß in angemessener Zeit ermöglicht.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Rüge überlanger Dauer eines erstinstanzlichen Verfahrens vor dem Amtsgericht – Vormundschaftsgericht –, in dem der Beschwerdeführer als nichtehelicher Vater eine Umgangsrechtsregelung mit seinen Kindern beantragt hat.
1. Der Beschwerdeführer und die Beteiligte des Ausgangsverfahrens heirateten im September 1985 nach mosaischem Ritus. Aus dieser Ehe gingen zwei im Juli 1986 und im Mai 1988 geborene Söhne hervor. Da eine staatliche Eheschließung nicht erfolgt war, gelten beide Kinder formell als nichtehelich.
Der Beschwerdeführer und seine Frau trennten sich Anfang 1989. Im September 1990 strengte der Beschwerdeführer ein Umgangsrechtsverfahren an. Bereits im ersten Termin wurde deutlich, daß sich die Mutter einem Umgangsrecht des Vaters widersetzte, obwohl das Jugendamt Kontakte mit dem Vater zum Wohl der Kinder befürwortet hatte. Diese Empfehlung war allerdings ohne Beteiligung der Mutter zustandegekommen, da sich diese allen Angeboten zu einem Gespräch widersetzte und zuletzt den Mitarbeiter des Jugendamtes wegen Befangenheit ablehnte. Auch die Richterin wies im Termin darauf hin, daß der Umgang mit dem Vater für die Entwicklung der Kinder unbedingt erforderlich sei. Daraufhin stimmte die Mutter der Einholung eines familienpsychologischen Gutachtens zu, in dem gleichzeitig unter psychiatrischer Sichtweise der Eltern geklärt werden sollte, ob ein Umgangsrecht des Vaters dem Wohle der Kinder diene.
Im Juni 1991 wurde die Ehe nach rabbinischem Recht geschieden, wobei der in G. ansässige Oberrabbiner in seinem Urteil schwere Vorwürfe gegen die Ehefrau erhob, da diese einerseits dem Beschwerdeführer keinerlei Gelegenheit gebe, seine Kinder zu sehen, andererseits aber sämtliche Ladungen verschiedener Rabbinatsgerichte ignoriert habe.
Etwa ein Jahr nach dem ersten Termin vor dem Amtsgericht fand ein weiterer Termin statt. Dort legte die Mutter zum wiederholten Male dar, der Beschwerdeführer leide unter einer Todessehnsucht und sie habe deshalb Angst, er könne den Kindern etwas antun. Sie erklärte jedoch ihr grundsätzliches Einverständnis zu einem Gespräch mit dem vom Gericht ausgewählten Sachverständigen, auch unter Einbeziehung der Kinder. Ein konkreter Termin wurde laut Protokoll für Ende Oktober 1992 vereinbart.
In der Folgezeit teilte der Sachverständige mit, es habe zwar ein Einzelgespräch mit der Kindesmutter stattgefunden, eine Untersuchung der Kinder sei aber immer noch nicht möglich gewesen. Alle Versuche, Kontakt mit den Kindern aufzunehmen, seien gescheitert, da die Mutter vereinbarte Termine immer wieder abgesagt und entgegen der Zusicherung ihrer Eltern auch mit ihm keinen telefonischen Kontakt wegen einer Terminsvereinbarung aufgenommen habe.
Wegen der anhaltenden Dauer des Verfahrens beantragte der Beschwerdeführer, dem Gutachter unter Androhung eines Ordnungsgeldes eine Frist zur Erstattung des Gutachtens zu setzen und im übrigen aufgrund der faktischen Beweisvereitelung durch die Mutter ohne weiteres Zuwarten zu entscheiden.
Daraufhin fand ein weiterer Termin im Mai 1993 statt, in dem auch die lange Verfahrensdauer zur Sprache kam. Der Bevollmächtigte des Beschwerdeführers beantragte nunmehr in erster Linie, eine Entscheidung nach Beweislastgrundsätzen unter Berücksichtigung der Beweisvereitelung zu treffen. Zwei Monate später kam es nochmals zu einem Gerichtstermin, in dem die Mutter erklärte, sie sei eine neue Partnerschaft eingegangen, möglicherweise werde sie mit den Kindern ins Ausland ziehen. Eine Begutachtung durch den Sachverständigen wolle sie vorläufig nicht, bis klar sei, ob sie in M. bleibe oder dem Partner ins Ausland folge.
Nachdem der nunmehr zuständige Richter mitgeteilt hatte, er wolle die Kinder zum Umgangsrecht anhören, und die Mutter dagegen Widerspruch eingelegt hatte, wurde ein weiterer Termin für Mitte Dezember 1993 anberaumt, den die Mutter wegen des Chanukka-Festes kurzfristig abgesagt wissen wollte. Der Terminsverlegungsantrag wurde zurückgewiesen mit der Begründung, die Anwesenheit der Kindesmutter sei nicht erforderlich. Im Anschluß daran wurde der Sachverständige zu seinem Gutachten gehört, wobei er erklärte, nur zu dem Beschwerdeführer Stellung nehmen zu können, da eine Zusammenarbeit mit der Mutter nicht möglich gewesen sei. Bezüglich des Beschwerdeführers stellte der Sachverständige einen unauffälligen psychischen Status und keine Anhaltspunkte für irgendwelche psychischen Erkrankungen fest.
Das Gericht beschloß daraufhin einen weiteren Termin zur Anhörung der Mutter, verbunden mit der Aufforderung, die Kinder zu dem neuen Termin mitzubringen.
Einen Tag danach nahm der Bevollmächtigte der Mutter zu der Anhörung des Sachverständigen Stellung und beantragte, von einer Anhörung der Kinder abzusehen. Seitens des Gerichts wurde daraufhin mitgeteilt, die Anhörung sei gesetzlich vorgeschrieben, weshalb der angesetzte Termin aufrechterhalten bleibe.
Anfang Januar 1994 lehnte der Vertreter der Mutter den Richter wegen Besorgnis der Befangenheit ab und begründete dies damit, daß der Richter den Termin vom Dezember nicht abgesetzt und damit die Mutter in ihren religiösen Gefühlen verletzt und diskriminiert habe.
Dieses Ablehnungsgesuch wurde vom Landgericht mit Beschluß vom Februar 1994 wegen Präklusion zurückgewiesen. Im Rahmen der Begründung stellte das Landgericht unter anderem fest, der bisherige Akteninhalt und die zeitliche Abfolge der gestellten Anträge deuteten darauf hin, daß die Mutter die von ihr nicht gewünschte Anhörung der Kinder verzögern oder verhindern wolle und deshalb einen verspäteten Ablehnungsantrag gestellt habe.
Im Anschluß daran bestimmte der Amtsrichter erneut einen Termin zur Anhörung der Kinder für Ende März 1994. Etwa zehn Tage vorher beantragte die Mutter Terminsverlegung, da der festgesetzte Zeitpunkt der Nachmittag vor Beginn des jüdischen Pessach-Festes sei. Nachdem der Richter dem Verlegungsgesuch nicht nachgekommen war, lehnte die Mutter diesen erneut wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Zur Begründung führte sie abermals aus, sie fühle sich bei der Befolgung der durch ihren jüdischen Glauben gebotenen Gebräuche diskriminiert.
Das Landgericht erklärte das Ablehnungsgesuch für unbegründet, wogegen sofortige Beschwerde eingelegt wurde.
Das Bayerische Oberste Landesgericht wies die Beschwerde mit Beschluß vom Juli 1994 zurück. In der Beschlußbegründung wies das Gericht darauf hin, das Verfahren bedürfe im Hinblick auf die lange Verfahrensdauer der Beschleunigung. Die Ursache dafür, daß über das Umgangsrecht noch immer keine vormundschaftsgerichtliche Entscheidung ergangen sei, liege im Einflußbereich der Mutter, die schon an der im März 1991 mit ihrem Einverständnis angeordneten familienpsychologischen Begutachtung bisher nicht mitgewirkt und wiederholt die Verlegung von Anhörungsterminen veranlaßt habe. Die Verfahrensführung der Mutter sei geeignet, den Eindruck hervorzurufen, sie wolle das von ihr nicht gewünschte Umgangsrecht des Vaters durch Hinauszögern einer gerichtlichen Entscheidung unterlaufen.
Im Anschluß an diese Entscheidung bat der Vormundschaftsrichter um Terminsvorschläge für eine Anhörung der Kinder im September 1994. Ein Anhörungstermin wurde schließlich auf Ende September festgelegt. Sodann stellte der Vertreter der Mutter erneut einen Terminsverlegungsantrag mit der Begründung, der Termin falle auf den jüdischen Feiertag Hoschana-Raba, der mit dem Neujahrsfest vergleichbar sei. Außerdem wurde erstmals unter Vorlage eines sogenannten Herzpasses vorgetragen, der ältere Sohn leide unter einer Herzkrankheit, weshalb ihm sämtliche Aufregung zu ersparen sei.
Vom Gericht wurde daraufhin verfügt, die Mutter solle bis November 1994 ein ärztliches Attest eines Kardiologen vorlegen, um zu dem vom Kinderarzt festgestellten Herzfehler Stellung zu nehmen. Im Anschluß daran solle die gesetzlich vorgesehene Anhörung der Kinder geplant werden.
In der Folgezeit gab es bis zum April 1995 verschiedene weitere Terminierungen, die jedoch aus unterschiedlichen Gründen zum Teil aufgehoben wurden, zum Teil zu keinem Ergebnis führten, da die Kinder wiederum nicht erschienen waren.
Im Februar 1996 erstellte das Jugendamt einen neuen, aktualisierten Bericht, der zusammenfassend feststellte, eine Zusammenarbeit mit dem Vater werde von der Mutter nicht gewollt. Aus eigener Anschauung könne keine Klarheit darüber gewonnen werden, wie es den Kindern in bezug auf die fehlenden Kontakte mit dem Vater gehe. Die Ängste der Mutter in bezug auf eine Gefährdung der Kinder bei einem Umgangsrecht mit dem Vater wirkten zwar glaubwürdig, stammten aber offenbar größtenteils aus Erinnerungen und seien gegenwärtig nicht nachvollziehbar.
Parallel dazu wurde von seiten der Mutter die Stellungnahme eines Kinderkardiologen vorgelegt, in der der Arzt die Ansicht vertrat, wegen vorliegender Herzveränderung und wegen der psychisch-familiären Situation sei dem älteren Sohn zum jetzigen Zeitpunkt eine Anhörung im Rahmen eines Gerichtstermins nicht zumutbar; man solle einen solchen Termin um mindestens ein Jahr verschieben. Darüber hinaus vertrat die Mutter die Ansicht, auch das jüngere Kind sei aufgrund der gegenwärtigen Situation von einer Anhörung auszunehmen, da die Brüder Freud und Leid miteinander teilten und sich die durch die Anhörung eines Kindes erzeugte Spannung zwangsläufig auch auf den belasteten Sohn übertragen würde.
2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seiner Rechte aus Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3, Art. 19 Abs. 4, Art. 6 Abs. 1 und 2 GG sowie Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 6 und 8 Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK – und Art. 9 UN-Kinderrechtskonvention.
Zur Begründung führt der Beschwerdeführer aus, das Verfahren dauere in erster Instanz schon über sechs Jahre, ohne daß eine nennenswerte Verfahrensförderung festzustellen sei.
Dies stehe nicht im Einklang mit der gesamten Rechtsprechung zur Frage überlanger Verfahrensdauer auch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die das Bundesverfassungsgericht in seine eigene Rechtsprechung integriert habe. Dabei sei nicht nur Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt, sondern ebenfalls sein subjektives Recht aus Art. 19 Abs. 4 GG. Insofern könnte die gesamte Rechtsprechung zur Effizienz des Rechtsweges für den vorliegenden Fall der überlangen Verfahrensdauer fruchtbar gemacht werden, weil zivilrechtliche Anspruchsverzögerungen durch überlange Rechtswegdauer eine völlig eigenständige Beleuchtung der verfassungsrechtlichen Situation im Vergleich zum Strafverfahren verlangten.
Außerdem erhalte die Problematik überlanger Verfahrensdauer im zivilrechtlichen und speziell im familienrechtlichen Bereich eine besondere Dimension unter dem Gesichtspunkt der Art. 6 und 8 EMRK, so daß eine gesonderte originäre Fortentwicklung der Rechtsprechung geboten sei, was auch dazu führe, daß der vorliegenden Verfassungsbeschwerde grundsätzliche Bedeutung zuzumessen sei.
Im übrigen ergebe sich aus Art. 6 Abs. 1 und 2 GG, daß Eltern trotz Trennung die Pflicht hätten, sich in bezug auf ihre Kinder um eine Schadensbegrenzung zu bemühen. Selbstverständlicher Ausdruck dieser auch vom Bundesverfassungsgericht den Eltern ausdrücklich auferlegten Pflicht sei die Aufrechterhaltung von Normalität durch Kontaktpflege zu den gemeinsamen Kindern. Diese Schadensbegrenzungspflicht und damit die zitierten Grundrechte seien verletzt, wenn ein Verfahren zur Regelung des Umgangsrechts so lange Zeit in Anspruch nehme, daß die Rechts- und Grundrechtsverwirklichung faktisch vereitelt werde.
3. Die Bayerische Staatsregierung und die Beteiligte des Ausgangsverfahrens haben Gelegenheit erhalten, zu der Verfassungsbeschwerde Stellung zu nehmen. Die Bayerische Staatsregierung hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Zwar sei die Verfahrensdauer erheblich, die eingetretene Verzögerung könne jedoch dem Gericht nicht zugerechnet werden. Auch die Beteiligte des Ausgangsverfahrens hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet, sie verweist in diesem Zusammenhang auf die richterliche Unabhängigkeit und unterstreicht im übrigen, daß aufgrund des angegriffenen Gesundheitszustandes des einen Kindes ohnehin eine Anhörung nicht möglich sei.
Entscheidungsgründe
II.
1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an (§ 93 b Satz 1 BVerfGG), weil dies zur Durchsetzung des Anspruchs des Beschwerdeführers auf Erlangung einer gerichtlichen Entscheidung innerhalb angemessener Zeit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).
a) Zulässigkeitsbedenken bestehen im wesentlichen nicht.
Das Bundesverfassungsgericht hat bereits mehrfach entschieden, daß Grundrechte auch durch Unterlassen gerichtlicher Tätigkeit verletzt sein können (vgl. BVerfGE 10, 302 ≪306≫; 16, 119 ≪121≫ jeweils im Zusammenhang mit Art. 104 GG). Ebenso ist anerkannt, daß eine Verfassungsbeschwerde gegen ein Unterlassen zulässig ist, solange die Unterlassung andauert (vgl. BVerfGE 6, 257 ≪266≫; 11, 255 ≪261≫; 69, 161 ≪167≫). Die Frist zur Einlegung der Verfassungsbeschwerde kann der Zulässigkeit nicht entgegenstehen, da § 93 BVerfGG Fristen für ein Vorgehen gegen eine Unterlassung nicht vorsieht (vgl. BVerfGE 16, 119 ≪121≫).
Unzulässig ist die Verfassungsbeschwerde lediglich insoweit, als der Beschwerdeführer die Feststellung einer Verletzung von Art. 6 und 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention bzw. des Art. 9 der UN-Kinderrechtskonvention begehrt, da diesbezüglich die in § 90 Abs. 1 BVerfGG vorgegebene Prüfungsbefugnis des Bundesverfassungsgerichts überschritten wäre.
b) Im Umfang ihrer Zulässigkeit ist die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet (§ 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
aa) Es ist in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung anerkannt, daß sich aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) die Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes für bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten im materiellen Sinne ableiten läßt. Hierzu zählen auch Umgangsrechtsregelungen, die in materieller Hinsicht auch ohne Zuhilfenahme staatlicher Gewalt durch Einvernehmen der Eltern gestaltet werden können.
Wirkungsvoller Rechtsschutz auch für diesen Bereich muß die grundsätzlich umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Streitgegenstandes sowie eine verbindliche Entscheidung durch den Richter ermöglichen (vgl. BVerfGE 54, 277 ≪291≫; 84, 366 ≪369≫; 85, 337 ≪345≫). Das Rechtsstaatsprinzip fordert darüber hinaus auch im Interesse der Rechtssicherheit, daß strittige Rechtsverhältnisse in angemessener Zeit geklärt werden (vgl. BVerfGE 88, 118 ≪124≫).
Zwar gibt es keine festgelegten Grundsätze, die besagen, ab wann von einer überlangen, die Rechtsgewährung verhindernden Verfahrensdauer auszugehen ist; dies ist jedoch eine Frage der Abwägung im Einzelfall, die anhand der allgemeinen, von der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung entwickelten Kriterien vorzunehmen ist. Verbindliche Richtlinien können auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die als Hilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes dienen kann, ohne den Rang von Verfassungsrecht zu genießen (vgl. BVerfGE 74, 358 ≪370≫), nicht entnommen werden.
bb) Es ergeben sich aber Anhaltspunkte dafür, daß jedenfalls die Dauer des vorliegenden Verfahrens für eine familienrechtliche Angelegenheit unangemessen lang ist (vgl. EGMR, EuGRZ 1990, S. 533 ≪542≫). Insbesondere bei Streitigkeiten um das Sorge- und Umgangsrecht ist bei der Frage, welche Verfahrensdauer noch als angemessen betrachtet werden kann, zu berücksichtigen, daß jede Verfahrensverzögerung wegen der eintretenden Entfremdung häufig schon rein faktisch zu einer (Vor-)Entscheidung führt, noch bevor ein richterlicher Spruch vorliegt (vgl. Brötel, Der Anspruch auf Achtung des Familienlebens, Baden-Baden 1991, S. 138 im Zusammenhang mit einer Entscheidung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 EMRK bei einer Verfahrensdauer von mehr als zwei Jahren).
Nach den vorgenannten Grundsätzen ist es mit dem verfassungsrechtlich garantierten Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz nicht mehr vereinbar, daß nach nunmehr mehr als sechseinhalb Jahren noch nicht einmal die Grundlagen für eine erstinstanzliche Entscheidung geschaffen wurden. Gemäß § 12 FGG ist das Vormundschaftsgericht verpflichtet, von Amts wegen den für seine Sachentscheidung wesentlichen Sachverhalt zu ermitteln. Zwar richten sich Art und Umfang der Ermittlungen nach der Lage des Einzelfalls und stehen im pflichtgemäßen Ermessen des jeweiligen Richters. Dabei ist aber zu berücksichtigen, daß das Umgangsrecht eine vom Grundgesetz besonders geschützte Rechtsposition darstellt. Die Tatsache, daß das Gericht trotz der offenkundigen Verweigerungshaltung der Mutter über Jahre hinweg keine geeigneten Maßnahmen ergriffen hat, um den sachgerechten Abschluß des Verfahrens wenigstens in erster Instanz sicherzustellen, kann unter dem Gesichtspunkt des Rechtsstaatsprinzips nicht hingenommen werden.
Das Amtsgericht ist zwar nicht untätig geblieben, sondern hat durch eine Fülle von Aufforderungen und Anberaumungen immer wieder neuer Termine zur mündlichen Verhandlung seinem Willen Ausdruck verliehen, das Verfahren zu fördern. Da mit dieser Vorgehensweise aber erkennbar die Blockadehaltung der Mutter nicht beseitigt werden konnte, wäre das Amtsgericht verpflichtet gewesen, auch schwerwiegendere Maßnahmen bis hin zur Entziehung des Sorgerechts über einen befristeten Zeitraum zwecks Begutachtung der Kinder in Erwägung zu ziehen, um die auf andere Weise nicht erreichbare tatsächliche Entscheidungsgrundlage zu schaffen (vgl. in ähnlichen Fällen BayObLG, FamRZ 1995, S. 501 ≪502≫; OLG Hamburg, FamRZ 1996, S. 422 ff.). Welche konkrete Maßnahme zu welchem Zeitpunkt tatsächlich ergriffen wird, obliegt letztlich der Entscheidung des zuständigen Richters. Dieser muß jedoch durch seine Vorgehensweise sicherstellen, daß nicht die Verweigerungshaltung eines Verfahrensbeteiligten dazu führt, daß erst gar nicht in der Sache entschieden werden kann, weil es schon nicht möglich ist, sich die notwendigen Entscheidungsgrundlagen zu beschaffen.
2. Da eine Entscheidung im Ausgangsverfahren noch nicht ergangen ist, muß sich das Bundesverfassungsgericht auf die Feststellung der Verfassungswidrigkeit gemäß § 95 Abs. 1 BVerfGG beschränken. Das Amtsgericht – Vormundschaftsgericht – ist nunmehr gehalten, unverzüglich geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um dem Verfahren Fortgang zu geben und auf dessen raschen Abschluß hinzuwirken.
3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Seidl, Hömig, Steiner
Fundstellen
Haufe-Index 1134555 |
NJW 1997, 2811 |
NVwZ 1997, 1206 |