Verfahrensgang
OLG Nürnberg (Beschluss vom 11.04.2013; Aktenzeichen 1 Ws 120-121/13) |
LG Ansbach (Beschluss vom 15.02.2013; Aktenzeichen StVK 78/2011) |
Tenor
Der Beschluss des Landgerichts Ansbach vom 15. Februar 2013 – StVK 78/2011 – und der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 11. April 2013 – 1 Ws 120-121/13 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Nürnberg zurückverwiesen.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Tatbestand
A.
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Nichtaussetzung einer Restfreiheitsstrafe zur Bewährung nach vorangegangener Erledigterklärung einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus.
I.
1. Der Beschwerdeführer wurde durch Urteil des Amtsgerichts Hersbruck vom 8. Februar 1999 wegen Markenmissbrauchs in fünf Fällen und Subventionsbetrugs unter Einbeziehung einer im Mai 1995 verhängten Strafe wegen Betrugs zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Nachdem die Aussetzung dieser Strafe zur Bewährung widerrufen worden war, verblieb ein Strafrest von 244 Tagen.
Am 29. April 2004 wurde der Beschwerdeführer durch Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth wegen Betrugs in 52 Fällen und eines weiteren Betrugs unter Einbeziehung einer im Mai 2002 durch das Amtsgericht Hersbruck verhängten Gesamtfreiheitsstrafe von drei Monaten wegen Beleidigung und vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu Gesamtfreiheitsstrafen von insgesamt zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Darüber hinaus wurde die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB angeordnet.
2. Seit Oktober 2004 wurde die Maßregel vollzogen. Im März 2008 wurde die Vollstreckung der Maßregel sowie die weitere Vollstreckung der Freiheitsstrafen aus den Urteilen des Amtsgerichts Hersbruck vom 8. Februar 1999 und des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 29. April 2004 zur Bewährung ausgesetzt. Dem Beschwerdeführer wurde unter anderem die Weisung erteilt, keinen Alkohol zu konsumieren.
3. Mit Beschluss vom 22. September 2010 widerrief das Landgericht Ansbach die Aussetzungen zur Bewährung, weil der Beschwerdeführer beharrlich und gröblich gegen die Weisung, keinen Alkohol zu konsumieren, verstoßen habe. Seit dem 5. Juli 2011 war der Beschwerdeführer wieder in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht.
4. Die Unterbringung wurde ab Juni 2012 gelockert. Die Lockerungen verliefen beanstandungsfrei. Seit November 2012 musste sich der Beschwerdeführer, der ansonsten bei seiner Mutter lebte, lediglich alle 14 Tage zu einem Therapiegespräch in dem Krankenhaus einfinden.
5. Mit angegriffenem Beschluss vom 15. Februar 2013 erklärte das Landgericht Ansbach die angeordnete Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus für erledigt. Die weitere Vollstreckung der Maßregel sei ungeachtet der vorliegenden krankhaften seelischen Störung unverhältnismäßig, weil der Beschwerdeführer nicht wegen eines Gewaltdelikts verurteilt worden sei, die Maßregel insgesamt knapp neun Jahre vollzogen worden sei, weitergehende Maßnahmen zur Behandlung nicht erforderlich seien und das Rückfallrisiko nicht aufgrund der psychiatrischen Erkrankung, sondern aufgrund der Primärpersönlichkeit des Beschwerdeführers bestehe.
Die Vollstreckung der Strafreste setzte das Gericht demgegenüber nicht zur Bewährung aus. Dies könne unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit nicht verantwortet werden. Es sei von einer zumindest mittleren Rückfallwahrscheinlichkeit auszugehen. Zu berücksichtigen sei das strafrechtliche Vorleben des Untergebrachten. Zwar lägen die Straftaten teilweise lange zurück und habe der Beschwerdeführer nach der im Jahr 2008 erfolgten Entlassung bis zur Wiederaufnahme in den Maßregelvollzug keine neuen Straftaten begangen. Wegen seiner Alkoholabhängigkeit und wegen seiner narzisstischen und dissozialen Persönlichkeit sei aber damit zu rechnen, dass der Beschwerdeführer erneut Straftaten im Sinne der Anlassdelikte begehen werde.
Die Versagung der Reststrafenaussetzung sei – auch unter Berücksichtigung der langjährigen Maßregelvollstreckung – nicht unverhältnismäßig. Neben der Gefährdung künftiger Betrugsopfer sei die kriminelle Gesinnung des Beschwerdeführers ebenso zu berücksichtigen wie der Umstand, dass eine positive Veränderung seiner Einstellung im Maßregelvollzug nicht habe erreicht werden können. Diese Feststellung stehe nicht im Widerspruch zu der Einschätzung, die Fortdauer der Maßregel sei unverhältnismäßig, denn die bei den jeweiligen Prüfungen zu berücksichtigenden Gesichtspunkte deckten sich nur teilweise.
6. Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde stützte der Beschwerdeführer darauf, dass seine erfolgreiche Lockerungserprobung nicht hinreichend berücksichtigt worden sei. Zudem habe er bis zum Widerruf der Strafaussetzung zweieinhalb Jahre straffrei in Freiheit gelebt. In der Gesamtschau mit der langen Unterbringungsdauer sei die Versagung der Reststrafenaussetzung unverhältnismäßig.
7. Das Oberlandesgericht Nürnberg verwarf die sofortige Beschwerde, soweit sie sich gegen die Nichtaussetzung der Vollstreckung der verbliebenen Strafreste richtete, durch ebenfalls angegriffenen Beschluss vom 11. April 2013 unter Bezugnahme auf die landgerichtliche Entscheidung.
8. Auf erneuten Antrag des Beschwerdeführers vom 14. Mai 2013 setzte das nunmehr zuständige Landgericht Nürnberg-Fürth mit Beschluss vom 17. September 2013 die weitere Vollstreckung der verbliebenen Strafreste zur Bewährung aus und der Beschwerdeführer wurde aus dem Strafvollzug entlassen.
II.
Der Beschwerdeführer sieht sich durch die angegriffenen Beschlüsse in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt. Die Gerichte hätten die Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei der Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung verkannt.
III.
1. Der Generalbundesanwalt hält die Verfassungsbeschwerde für begründet. Der Beschwerdeführer sei in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt. Wegen der langjährigen Unterbringung im Maßregelvollzug habe es einer besonders sorgfältigen Abwägung und Begründung unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit bedurft. Dem genügten die angegriffenen Entscheidungen nicht. Es werde nicht hinreichend deutlich, ob die Instanzgerichte die Abwägung zwischen dem durch den langjährigen Maßregelvollzug gestärkten Freiheitsanspruch und dem Sicherungsinteresse der Allgemeinheit überhaupt vorgenommen hätten. Es sei nicht erkennbar, wie sich die Maßregelvollstreckung im Rahmen der Abwägung ausgewirkt habe. Das Landgericht habe im Anschluss an deren Erwähnung sogleich Gesichtspunkte für die angenommene negative Legalprognose angeführt und sei auch später nicht mehr auf das Gewicht des Freiheitsanspruchs eingegangen. Selbst wenn man von einer Abwägung ausgehen wollte, seien jedenfalls wesentliche Aspekte unberücksichtigt geblieben. Es fehle eine Auseinandersetzung damit, dass der langjährige Maßregelvollzug die Dauer der verhängten Freiheitsstrafen deutlich übersteige. Zudem hätte Berücksichtigung finden müssen, dass der Beschwerdeführer die ihm gewährten Lockerungen nicht missbraucht habe.
2. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hat von einer Stellungnahme abgesehen.
3. Dem Bundesverfassungsgericht hat das Vollstreckungsheft vorgelegen.
Entscheidungsgründe
B.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 BVerfGG sind erfüllt. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen – insbesondere zur Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Rahmen der Strafvollstreckung – bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG; vgl. BVerfGE 117, 71 ≪95 f.≫; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Juni 2012 – 2 BvR 22/12 –, NStZ-RR 2012, S. 385 ff., m.w.N.) und die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG offensichtlich begründet.
I.
Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht nicht entgegen, dass aufgrund des Beschlusses des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 17. September 2013 die weitere Vollstreckung der verbliebenen Strafreste zur Bewährung ausgesetzt und der Beschwerdeführer aus dem Strafvollzug entlassen wurde. Die angegriffenen Beschlüsse waren im Zeitraum vom 15. Februar 2013 bis zum 17. September 2013 Grundlage des Freiheitsentzugs und damit eines tiefgreifenden Eingriffs in das Grundrecht des Beschwerdeführers auf Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Der Beschwerdeführer hat daher ein fortbestehendes schutzwürdiges Interesse an einer nachträglichen verfassungsrechtlichen Überprüfung und gegebenenfalls einer Feststellung der Verfassungswidrigkeit dieses Grundrechtseingriffs durch das Bundesverfassungsgericht (vgl. BVerfGE 9, 89 ≪92 ff.≫; 32, 87 ≪92≫; 53, 152 ≪157 f.≫; 91, 125 ≪133≫; 104, 220 ≪234 f.≫).
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Der Beschluss des Landgerichts Ansbach vom 15. Februar 2013 – StVK 78/2011 – und der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 11. April 2013 – 1 Ws 120-121/13 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Die Gerichte haben in den angegriffenen Beschlüssen die Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei der Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung der verbliebenen Restfreiheitsstrafe des Beschwerdeführers zur Bewährung verkannt.
1. a) Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistet jedermann „die Freiheit der Person” und nimmt einen hohen Rang unter den Grundrechten ein. Das kommt darin zum Ausdruck, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG die Freiheit der Person als „unverletzlich” bezeichnet, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG ihre Beschränkung nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes zulässt und Art. 104 Abs. 2 bis 4 GG besondere Verfahrensgarantien für ihre Beschränkung statuiert (vgl. BVerfGE 35, 185 ≪190≫; 109, 133 ≪157≫; 128, 326 ≪372≫).
Die Freiheit der Person darf nur aus besonders gewichtigen Gründen eingeschränkt werden (vgl. BVerfGE 22, 180 ≪219≫; 29, 312 ≪316≫; 35, 185 ≪190≫; 45, 187 ≪223≫; stRspr). Belange von ausreichendem Gewicht sind insbesondere die unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung (vgl. BVerfGE 19, 342 ≪347≫; 20, 45 ≪49≫; 20, 144 ≪147≫; 32, 87 ≪93≫; 35, 185 ≪190≫) und der Schutz der Allgemeinheit (vgl. BVerfGE 22, 180 ≪219≫; 30, 47 ≪53≫; 45, 187 ≪223≫; 58, 208 ≪224 f.≫; 70, 297 ≪307≫).
Das Rechtsstaatsprinzip, die Pflicht des Staates, die Sicherheit seiner Bürger und deren Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit der staatlichen Institutionen zu schützen, sowie die Gleichbehandlung aller in Strafverfahren rechtskräftig Verurteilten gebieten die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs. Das bedeutet auch, dass rechtskräftig erkannte Freiheitsstrafen grundsätzlich zu vollstrecken sind. Der staatliche Strafanspruch und – daraus folgend – das Gebot, rechtskräftig verhängte, tat- und schuldangemessene Strafen auch zu vollstrecken, sind gewichtige Gründe des Gemeinwohls (vgl. BVerfGE 51, 324 ≪343 f.≫). Die Rechtsordnung darf ihre Missachtung nicht prämieren, denn sie schafft sonst Anreize zur Rechtsverletzung, diskriminiert rechtstreues Verhalten und untergräbt damit auch die Voraussetzungen ihrer eigenen Wirksamkeit (vgl. BVerfGE 116, 24 ≪49≫; 130, 372 ≪391≫).
Kollidiert der Freiheitsanspruch der Person mit der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs oder dem Erfordernis, die Allgemeinheit vor zu erwartenden Rechtsgutverletzungen zu schützen, sind beide Belange gegeneinander abzuwägen (vgl. BVerfGE 90, 145 ≪172≫; 109, 133 ≪157≫; 128, 326 ≪372 f.≫). Dabei gebietet der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass die Freiheit der Person nur beschränkt werden darf, soweit dies im öffentlichen Interesse unerlässlich ist. Die verfassungsrechtlich gerechtfertigten Eingriffstatbestände haben insoweit auch eine freiheitsgewährleistende Funktion, da sie nicht nur den Eingriff in ein grundrechtlich geschütztes Interesse erlauben, sondern zugleich die äußersten Grenzen zulässiger Grundrechtseinschränkungen bestimmen (vgl. BVerfGE 70, 297 ≪307≫; 75, 329 ≪341≫; 126, 170 ≪195≫).
b) Freiheitsstrafen und freiheitsentziehende Maßregeln der Besserung und Sicherung verfolgen unterschiedliche Zwecke, weswegen sie grundsätzlich auch nebeneinander angeordnet werden können (vgl. BVerfGE 91, 1 ≪31≫; 128, 326 ≪376 f.≫). Geschieht dies, ist es jedoch geboten, sie einander so zuzuordnen, dass die Zwecke beider Maßnahmen möglichst weitgehend erreicht werden, ohne dass dabei in das Freiheitsrecht des Betroffenen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG mehr als notwendig eingegriffen wird (vgl. BVerfGE 91, 1 ≪31≫). Die Schwere des Eingriffs darf nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe stehen (vgl. BVerfGE 90, 145 ≪173≫; 92, 277 ≪327≫; 109, 279 ≪349 f.≫; 115, 320 ≪345≫; 130, 372 ≪392≫).
c) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist auch im Rahmen der Prüfung der Aussetzung des Strafrests zur Bewährung gemäß § 57 Abs. 1 StGB zu berücksichtigen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Juni 2012 – 2 BvR 22/12 –, NStZ-RR 2012, S. 385 ≪386≫). Anders als bei Maßregeln ist zwar bei Strafen bereits im Strafurteil über die Verhältnismäßigkeit der zu vollstreckenden Strafe grundsätzlich entschieden worden. Doch auch bezüglich der Strafaussetzung bei lebenslanger Freiheitsstrafe gemäß § 57a StGB – der auf § 57 Abs. 1 StGB verweist – hat das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung bereits betont, dass die Regelung der Aussetzung einen Ausgleich zwischen dem Resozialisierungsanspruch und dem Freiheitsgrundrecht des zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten einerseits und dem Sicherungsinteresse der Allgemeinheit andererseits schafft (vgl. BVerfGE 117, 71 ≪112≫; BVerfGK 15, 390 ≪396≫; 16, 44 ≪47 f.≫). Die bei der Entscheidung über die Aussetzung zu berücksichtigenden Umstände werden dabei durch § 57 Abs. 1 Satz 2 StGB konkretisiert (BVerfGE 117, 71 ≪112≫). Für die Strafaussetzung bei zeitigen Freiheitsstrafen kann nichts anderes gelten. Auch insoweit ist ein Ausgleich zwischen dem Freiheitsrecht des Einzelnen und den Sicherungsinteressen der Allgemeinheit geboten. Bei der nach § 57 Abs. 1 Satz 2 StGB gebotenen Berücksichtigung der individuellen Lebensumstände des Verurteilten kann die Dauer einer Freiheitsentziehung als notwendige Bedingung des Maßregelvollzugs aus Anlass der Tat nicht außer Betracht bleiben, auch wenn sie gemäß § 67 Abs. 4 StGB in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise nur auf zwei Drittel der Strafe angerechnet wird. Je länger der Freiheitsentzug insgesamt dauert, umso strenger sind die Voraussetzungen für dessen Verhältnismäßigkeit (vgl. BVerfGE 70, 297 ≪315≫; BVerfGK 15, 390 ≪397≫; 16, 44 ≪48≫).
Da es sich insoweit um eine wertende Entscheidung handelt, kann das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Verfassungsbeschwerde nur prüfen, ob eine Abwägung überhaupt stattgefunden hat und ob die dabei zugrundegelegten Bewertungsmaßstäbe der Verfassung entsprechen und insbesondere Inhalt und Tragweite des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nicht verkennen (vgl. BVerfGE 70, 297 ≪315≫).
2. Nach diesem Maßstab verletzen die angegriffenen Beschlüsse den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
Sowohl das Landgericht als auch das Oberlandesgericht, welches hinsichtlich der Nichtaussetzung der verbliebenen Strafreste zur Bewährung lediglich auf die landgerichtliche Entscheidung Bezug nimmt, haben den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht in dem verfassungsrechtlich gebotenen Umfang beachtet. Eine nachvollziehbare Abwägung zwischen dem Freiheitsrecht des Beschwerdeführers und den Sicherungsinteressen der Allgemeinheit findet in den angegriffenen Beschlüssen nicht statt.
a) Angesichts des Umstandes, dass das Landgericht in seinem Beschluss den weiteren Vollzug der freiheitsentziehenden Maßregel für erledigt erklärt hat, weil dieser unverhältnismäßig sei, hätte die Fortdauer der Freiheitsentziehung durch die Vollstreckung der verbliebenen Strafreste unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit besonders sorgfältiger Abwägung und Begründung bedurft (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Juni 2012 – 2 BvR 22/12 –, NStZ-RR 2012, S. 385 ff.; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Juni 2013 – 2 BvR 1541/12 –). Das Landgericht verweist insoweit darauf, dass eine positive Veränderung der Einstellung des Beschwerdeführers im Maßregelvollzug nicht habe erreicht werden können und daher eine Gefährdung künftiger Betrugsopfer durch die Begehung neuer Straftaten zu berücksichtigen sei. Zugleich behauptet es, die langjährige Maßregelvollstreckung zugunsten des Beschwerdeführers berücksichtigt zu haben. Diese Behauptung findet in dem angegriffenen Beschluss jedoch keine Stütze. Das Landgericht legt weder dar, welche Konsequenzen sich aus seiner Feststellung für das Gewicht des Freiheitsanspruchs des Beschwerdeführers ergeben, noch findet eine nachvollziehbare Abwägung mit den Sicherungsinteressen der Allgemeinheit statt. Dies wäre vorliegend aber in besonderer Weise geboten gewesen. Das Oberlandesgericht hat insoweit keine eigenen Überlegungen angestellt. Damit genügen die angegriffenen Beschlüsse den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Darlegung der Verhältnismäßigkeit der Fortdauer des Freiheitsentzugs infolge der Nichtaussetzung der Vollstreckung der verbliebenen Strafreste zur Bewährung nicht.
b) Die Gerichte hätten sich vorliegend zudem angesichts der Tatsache, dass die Dauer des Freiheitsentzugs aufgrund der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus bereits die Dauer der insgesamt gegen den Beschwerdeführer verhängten Freiheitsstrafen deutlich überstieg, mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob die Kumulation aus Maßregel- und Strafvollstreckung dazu führt, dass das Maß der rechtsstaatlich hinnehmbaren Eingriffsintensität überschritten wird (vgl. BVerfGE 130, 372 ≪392≫). Hierzu verhalten sich die angegriffenen Beschlüsse nicht. Der bloße Hinweis auf eine negative Legalprognose hinsichtlich der Begehung weiterer Betrugsstraftaten genügt jedenfalls nicht, um von einem Überwiegen der Sicherungsinteressen der Allgemeinheit gegenüber dem Freiheitsanspruch des Beschwerdeführers ausgehen zu können.
c) Außerdem findet die Tatsache, dass der Beschwerdeführer seit Juni 2012 beanstandungsfrei erhebliche Lockerungen in Anspruch nahm und sich ab November 2012 lediglich alle 14 Tage zu einem Therapiegespräch in dem psychiatrischen Krankenhaus einzufinden hatte, in den angegriffenen Beschlüssen weder im Rahmen der Legalprognose noch hinsichtlich der Verhältnismäßigkeitsprüfung Berücksichtigung.
Insgesamt beruhen die angegriffenen Beschlüsse daher auf einer unzureichenden Prüfung und Begründung der Verhältnismäßigkeit der Fortdauer der Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers. Sie stellen damit keine ausreichende Grundlage dar, um das Freiheitsgrundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in verfassungsrechtlich zulässiger Weise einzuschränken (vgl. BVerfGE 70, 297 ≪316 f.≫).
III.
1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg ist aufzuheben. Die Sache ist an das Oberlandesgericht Nürnberg zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).
2. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Gerhardt, Hermanns, Müller
Fundstellen
Haufe-Index 6330909 |
NPA 2014 |
StV 2015, 242 |