Entscheidungsstichwort (Thema)
Beratungshilfe
Beteiligte
Rechtsanwälte Rainer Müller und Koll. |
Verfahrensgang
Tenor
1. Das Urteil des Amtsgerichts Gera vom 15. November 1999 – 4 C 1151/99 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Das Urteil wird aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht zurückverwiesen.
2. Der Freistaat Thüringen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
3. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 10.000 DM (in Worten: zehntausend Deutsche Mark) festgesetzt.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen ein amtsgerichtliches Urteil, durch das der Beschwerdeführer zur Zahlung von 504,85 DM nebst Zinsen verurteilt worden ist.
I.
1. Der Beschwerdeführer war gegenüber seiner Tochter mit Unterhaltszahlungen in Höhe von knapp 11.000 DM in Rückstand geraten. Nachdem er durch den von ihm beauftragten Arbeitslosenverband erfolglos versucht hatte, mit den Bevollmächtigten der Tochter eine Ratenzahlungsvereinbarung zu treffen, wandte er sich an die Kläger des Ausgangsverfahrens, eine Rechtsanwaltskanzlei, der es schließlich gelang, eine Vereinbarung herbeizuführen, in der sich der Beschwerdeführer verpflichtete, den aufgelaufenen Unterhaltsrückstand in monatlichen Raten abzutragen. Dafür stellten die Kläger den Betrag von 504,85 DM in Rechnung, zu dessen Zahlung das Amtsgericht den Beschwerdeführer verurteilt hat, nachdem dieser die Zahlung abgelehnt hatte. Begründet ist das amtsgerichtliche Urteil wie folgt:
Den Klägern stehe der geltend gemachte Anspruch nach den §§ 675, 611 BGB, §§ 11, 108 Abs. 1 Nr. 1 BRAGO zu. Bitte ein Rechtsuchender einen Rechtsanwalt um Rat oder Vertretung, müsse ihn dieser ungefragt über die Voraussetzungen von Beratungshilfe aufklären, wenn aus den Umständen erkennbar sei, dass er zum anspruchsberechtigten Personenkreis gehören könnte. Den Klägern sei bekannt gewesen, dass der Beschwerdeführer Arbeitslosenhilfe beziehe und deshalb die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Beratungshilfegesetzes vom 18. Juni 1980 (BGBl I S. 689; im Folgenden: BerHG) vorliegen könnten. Dass der Beschwerdeführer nicht auf die Möglichkeit von Beratungshilfe hingewiesen worden sei, stelle hier trotzdem keine positive Vertragsverletzung im Hinblick auf den Anwaltsvertrag dar.
Gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 2 und 3 BerHG werde Beratungshilfe nur gewährt, wenn nicht andere Möglichkeiten für eine Hilfe zur Verfügung stünden, deren Inanspruchnahme dem Rechtsuchenden zuzumuten sei, und wenn die Wahrnehmung der Rechte nicht mutwillig sei. Wenn der Beschwerdeführer vortrage, dass im Rahmen der Gewährung von Beratungshilfe auch durch rechtzeitige Beratung unnötige Rechtsstreitigkeiten vermieden werden sollten, sei dem zuzustimmen. Hier sei es aber so gewesen, dass der Beschwerdeführer bereits aufgrund eines rechtskräftigen Beschlusses des Amtsgerichts zur Unterhaltszahlung verpflichtet gewesen sei und Unterhaltsrückstände von 10.654 DM angelaufen gewesen seien. Aufgabe der Beratung sei nicht gewesen, einen Rechtsstreit zu vermeiden, sondern mit der Gläubigerin eine Ratenzahlung zu vereinbaren.
Dem Beschwerdeführer sei es durchaus möglich gewesen, andere Möglichkeiten für eine Hilfe als die Hilfe eines Rechtsanwalts zu nutzen; beispielsweise hätte er eine Schuldnerberatung aufsuchen können, die der Gläubigerin eine Ratenzahlung hätte anbieten können. Dass dem Beschwerdeführer dies zumutbar gewesen sei, zeige sich darin, dass er vor Beauftragung der Kläger bereits den Arbeitslosenverband eingeschaltet gehabt habe, der auch Schriftverkehr mit der Gläubigerin geführt habe.
Mutwilligkeit im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 3 BerHG liege vor, wenn eine verständige, nicht bedürftige Partei ihre Rechte nicht in gleicher Weise verfolgen würde, wo ein sachlich gerechtfertigter Wunsch nach Aufklärung über die Rechtslage und nach rechtlichem Beistand nicht zu erkennen sei. Der Beschwerdeführer habe gegen den rechtskräftigen Beschluss des Amtsgerichts verstoßen gehabt und den titulierten Unterhalt nicht gezahlt, so dass es mutwillig sei, nur zur Vereinbarung einer Ratenzahlung der Unterhaltsrückstände einen Rechtsanwalt hinzuzuziehen.
Dem Beschwerdeführer stehe deshalb kein aufrechenbarer Gegenanspruch aus positiver Vertragsverletzung zu.
2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Bedeutung als Willkürverbot.
Ausgehend von seiner wirtschaftlichen Situation hätten die Voraussetzungen für die Gewährung von Beratungshilfe vorgelegen. Das Amtsgericht habe zu Unrecht eine mutwillige Rechtswahrnehmung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 3 BerHG angenommen. Gegenstand der Mandatierung der Kläger sei allein der Abschluss einer Vereinbarung über die Ratenzahlung der aufgelaufenen rückständigen Unterhaltsbeträge gewesen. Insoweit seien die Kläger vom Beschwerdeführer sehr wohl aus einem sachlich rechtfertigenden Grund beauftragt worden, zumal es letztlich aufgrund von deren Tätigkeit zum Abschluss der gewünschten Rückzahlungsvereinbarung gekommen sei.
Entgegen der Ansicht des Amtsgerichts hätten dem Beschwerdeführer im Zeitpunkt der Mandatierung der Kläger keine weiteren Möglichkeiten gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 2 BerHG zur Verfügung gestanden, deren Inanspruchnahme ihm zuzumuten gewesen wäre. Der Beschwerdeführer habe alle Möglichkeiten bereits ausgeschöpft, insbesondere mit Hilfe einer Schuldnerberatung, dem Arbeitslosenverband, versucht gehabt, eine Ratenzahlungsvereinbarung zu treffen. Dass der Arbeitslosenverband vom Beschwerdeführer noch vor Beauftragung der Kläger eingeschaltet worden sei, führe das Gericht selbst in den Gründen seiner Entscheidung aus. Dabei werde offensichtlich verkannt, dass es sich bei diesem Verband um eine Schuldnerberatung handele, die nach Auffassung des Gerichts vorrangig zu beauftragen gewesen wäre, der Beschwerdeführer also gerade so vorgegangen sei, wie er es nach Ansicht des Gerichts hätte tun sollen.
3. Gelegenheit zur Stellungnahme hatten das Thüringer Ministerium für Justiz und Europaangelegenheiten sowie die Kläger des Ausgangsverfahrens. Die Letzteren halten die Verfassungsbeschwerde für unbegründet.
Entscheidungsgründe
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen dafür sind gegeben.
1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Insbesondere genügt sie den Begründungsanforderungen des § 92 in Verbindung mit § 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 BVerfGG. Zwar hat der Beschwerdeführer die angegriffene Entscheidung nicht innerhalb der am Ende des 20. Dezember 1999, einem Montag, abgelaufenen Monatsfrist des § 93 Abs. 1 BVerfGG vorgelegt. Doch hat er innerhalb der Frist den wesentlichen Inhalt dieser Entscheidung so mitgeteilt, dass deren Verfassungsmäßigkeit vom Bundesverfassungsgericht überprüft werden kann. Das reicht zur Wahrung des Substantiierungserfordernisses aus (vgl. BVerfGE 88, 40 ≪45≫; 93, 266 ≪288≫).
2. Es liegen auch die Voraussetzungen des § 93 c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG vor. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 3 Abs. 1 GG angezeigt. Die Verfassungsbeschwerde ist, wie sich anhand der vorliegenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts feststellen lässt, offensichtlich begründet. Das angegriffene amtsgerichtliche Urteil verletzt den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Bedeutung als Willkürverbot.
a) Willkürlich ist ein Richterspruch dann, wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht. Das ist anhand objektiver Kriterien festzustellen. Schuldhaftes, dem Richter subjektiv vorwerfbares Handeln ist nicht erforderlich. Auch macht die fehlerhafte Auslegung eines Gesetzes allein eine Gerichtsentscheidung nicht schon willkürlich. Willkür liegt vielmehr erst vor, wenn die Rechtslage in krasser Weise verkannt wird. Davon kann jedoch nicht gesprochen werden, wenn das Gericht sich mit der Rechtslage eingehend auseinander setzt und seine Auffassung nicht jeden sachlichen Grundes entbehrt (vgl. BVerfGE 87, 273 ≪278 f.≫; 89, 1 ≪13 f.≫).
b) Gemessen daran hält die angegriffene Entscheidung der verfassungsgerichtlichen Überprüfung nicht stand. Das Amtsgericht hat das Bestehen einer aufrechenbaren Gegenforderung des Beschwerdeführers aus positiver Vertragsverletzung mit der Begründung verneint, die Kläger hätten den Beschwerdeführer trotz des Bezugs von Arbeitslosenhilfe auf die Möglichkeit von Beratungshilfe nicht hinweisen müssen, weil im konkreten Fall weder die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Nr. 2 BerHG noch diejenigen des § 1 Abs. 1 Nr. 3 BerHG gegeben seien. Das ist auf eine Weise begründet, die dem wahren Anliegen des Beschwerdeführers nicht gerecht wird und zu Ergebnissen führt, die unter keinem denkbaren Aspekt nachvollzogen werden können.
Das Fehlen anderer Möglichkeiten für eine Hilfe als Voraussetzung für die Gewährung von Beratungshilfe außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 BerHG hat das Amtsgericht mit der Erwägung verneint, der Beschwerdeführer hätte eine Schuldnerberatung aufsuchen können, die seiner Tochter als Gläubigerin der rückständigen Unterhaltsansprüche Ratenzahlung hätte anbieten können. Dabei hat es offensichtlich verkannt, dass der Beschwerdeführer genau dies getan hatte, bevor er sich mit der Bitte um Beratung und Unterstützung an die Kläger des Ausgangsverfahrens gewandt hat. Zwar hat das Gericht ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Beschwerdeführer vor Beauftragung der Kläger bereits den Arbeitslosenverband eingeschaltet gehabt habe, um damit zu verdeutlichen, dass dem Beschwerdeführer die Inanspruchnahme anderer Hilfe zumutbar sei. Doch ist dem Amtsgericht dabei offenkundig entgangen, dass dem genannten Verband, wie aus im Verfahren vorgelegten Schreiben ersichtlich, auch die Aufgabe der Schuldnerberatung obliegt. Andere Möglichkeiten, die dem Beschwerdeführer statt der Hilfe eines Rechtsanwalts zur Verfügung gestanden hätten, zeigt das Gericht nicht auf. Die Verneinung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 1 Abs. 1 Nr. 2 BerHG lässt sich unter diesen Umständen schlechterdings nicht vertreten.
Das Gleiche gilt für die Annahme des Amtsgerichts, die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts sei im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 3 BerHG mutwillig gewesen. Das Gericht hat dies daraus gefolgert, dass der Beschwerdeführer gegen den rechtskräftigen Beschluss des Amtsgerichts zur Unterhaltszahlung verstoßen und den titulierten Unterhalt an seine Tochter nicht gezahlt habe. Inwieweit dies ein sachlicher Grund dafür sein könnte, wegen der entstandenen Unterhaltsrückstände und der erstrebten Abtragung dieser Rückstände in monatlichen Raten von der Beratungshilfe durch einen Rechtsanwalt Abstand zu nehmen, ist nicht erkennbar. Dem Beschwerdeführer, der seinerzeit auf Arbeitslosenhilfe angewiesen und deshalb außerstande gewesen war, die aufgelaufenen Unterhaltsrückstände sofort in voller Höhe zu begleichen, wurde, wie dem Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 12. März 1996 entnommen werden kann, von den Rechtsanwälten seiner Tochter mit einer Strafanzeige wegen Unterhaltspflichtverletzung gedroht. Dies durch eine Ratenvereinbarung abzuwenden, lag im Interesse sowohl des Beschwerdeführers selbst als auch seiner Tochter, weil diese anders die Unterhaltsbeträge schwerlich hätte erhalten können. Dabei versteht sich von selbst, dass die Frage von Ratenzahlungen nicht gleichgesetzt werden kann mit dem Vorhandensein eines rechtskräftigen Zahlungstitels und den daraus erwachsenden Verpflichtungen. Bei der erstrebten Ratenvereinbarung ging es vielmehr um die Bewältigung der Folgen dieses Titels und damit um eine Frage, die selbständig Gegenstand anwaltlicher Bemühungen gewesen ist und dank dieser Bemühungen nach dem Vortrag des Beschwerdeführers auch erfolgreich geregelt werden konnte. Warum das Amtsgericht das anders gesehen hat, erschließt sich unter keinem denkbaren Gesichtspunkt, weshalb sich der Schluss aufdrängt, dass seine Entscheidung objektiv auf sachfremden Erwägungen beruht.
c) Das angegriffene Urteil beruht auf dem Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Es ist nicht auszuschließen, dass das Amtsgericht bei verfassungskonformer Anwendung des § 1 Abs. 1 Nr. 2 und 3 BerHG zu einem für den Beschwerdeführer günstigeren Ergebnis gelangt wäre.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG, die Entscheidung über den Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit auf § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO in Verbindung mit den vom Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung BVerfGE 79, 365 entwickelten Grundsätzen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93 d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).
Unterschriften
Kühling, Jaeger, Hömig
Fundstellen
Haufe-Index 565163 |
NJW 2000, 2494 |
MittRKKöln 2000, 323 |
BRAK-Mitt. 2000, 262 |