Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtanerkennung einer bisher immer anerkannten Unterschrift. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Leitsatz (redaktionell)
1. Ein Gericht darf seine bisherige, jahrelang geübte Beurteilung der in gleicher Weise geleisteten Unterschriften eines Prozeßbevollmächtigten nicht abrupt ändern.
2. Weist der Prozeßbevollmächtigte in einem innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist beim Gericht eingegangenen – ordnungsgemäß unterzeichneten – Schriftsatz auf die von ihm geltend gemachte jahrelange Unterschriftspraxis (mit Handzeichen unterschriebene Schriftsätze) hin und bittet er um ein Absehen von der Verwerfung der Berufung, so liegt es nahe, darin einen Antrag auf Wiedereinsetzung und eine Nachholung der versäumten Prozeßhandlung zu sehen.
Normenkette
GG Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3; ZPO § 519b Abs. 1 S. 2
Verfahrensgang
LG Chemnitz (Beschluss vom 18.04.1995; Aktenzeichen 6 S 32/95) |
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Verwerfung einer Berufung, die das Landgericht wegen nicht formgerechter Unterzeichnung der Berufungs- und der Berufungsbegründungsschrift als unzulässig ansah.
I.
1. Gegen das klageabweisende Urteil des Amtsgerichts hatte der Prozeßbevollmächtigte des Beschwerdeführers Berufung eingelegt und diese begründet, wobei er jeweils die Schriftsätze mit einem Handzeichen (Paraphe) versah. Unter Aufhebung des bereits anberaumten Termins zur mündlichen Verhandlung wies das Landgericht den Prozeßbevollmächtigten mit Verfügung vom 4. April 1995 darauf hin, daß es die Verwerfung der Berufung beabsichtige, weil die Unterzeichnung mit einem Handzeichen keine formgültige Unterschrift darstelle. Der Beschwerdeführer könne sich binnen zwei Wochen hierzu äußern. Daraufhin legte der Prozeßbevollmächtigte in einem beim Landgericht am 7. April 1995 eingegangenen Schriftsatz dar, daß er Schriftsätze – auch in Berufungssachen – seit mehr als einem Jahrzehnt in der nunmehr vom Gericht beanstandeten Form unterzeichnet habe, ohne daß diese Praxis jemals zu einem Problem geführt habe. Er werde seine Unterschriftshandhabung ab sofort entsprechend ändern. Es werde gebeten, von einer Verwerfung der Berufung Abstand zu nehmen. Diesen Schriftsatz unterzeichnete der Prozeßbevollmächtigte mit vollem Namenszug.
Mit dem angegriffenen Beschluß verwarf das Landgericht die Berufung als unzulässig. Weder die Berufung noch die Berufungsbegründung seien formgerecht unterschrieben worden. Beide Schriftsätze seien lediglich mit einem Handzeichen (Paraphe) versehen, was den Unterschriftserfordernissen nicht genüge. Den Berufungsführer vermöge es auch nicht zu entlasten, daß er seit mehr als einem Jahrzehnt seine Berufungen mittels Handzeichens unterzeichne. Das Gericht habe die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Berufung von Amts wegen zu prüfen und müsse diese nach § 519 b Abs. 1 Satz 2 ZPO mangels Zulässigkeit von Amts wegen verwerfen.
2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. Der hieraus hergeleitete allgemeine Prozeßgrundsatz des „fairen Verfahrens” verbiete eine so plötzliche und willkürliche Änderung der Auffassung zur Unterschriftspraxis, die bei dem Landgericht seit langem bekannt gewesen und langfristig geduldet worden sei. Es müsse dem Prozeßbevollmächtigten wenigstens Gelegenheit gegeben werden, die beanstandete Form der Unterschrift zu ändern.
3. Das Sächsische Staatsministerium der Justiz hat seine Stellungnahme auf Ausführungen zum Sachverhalt beschränkt. Es habe nicht geklärt werden können, ob bei der zuständigen Berufungskammer des Landgerichts auch in anderen Sachen Schriftsätze des Prozeßbevollmächtigten des Beschwerdeführers eingegangen seien, bei denen die geleistete Unterschrift der bemängelten entsprochen habe, und ob insoweit auf die unzureichende Unterschriftspraxis hingewiesen worden sei.
Die Beklagte des Ausgangsverfahrens hat von einer Stellungnahme abgesehen.
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine der Verfassungsbeschwerde stattgebende Kammerentscheidung liegen vor.
1. Aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip wird als „allgemeines Prozeßgrundrecht” der Anspruch auf ein faires Verfahren abgeleitet (BVerfGE 57, 250 ≪275≫; 78, 123 ≪126≫). Der Richter muß das Verfahren so gestalten, wie die Parteien des Zivilprozesses es von ihm erwarten dürfen: Er darf sich nicht widersprüchlich verhalten, darf aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlern oder Versäumnissen keine Verfahrensnachteile ableiten und ist allgemein zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet (BVerfGE 78, 123 ≪126≫ m.w.N.). Danach darf ein Gericht seine bisherige, jahrelang geübte Beurteilung der in gleicher Weise geleisteten Unterschriften eines Prozeßbevollmächtigten nicht abrupt ändern. Andernfalls bestünde für diesen keine Möglichkeit, sich auf die neue Verfahrenspraxis rechtzeitig einzustellen. Die Pflicht zur rechtsstaatlichen Verfahrensgestaltung fordert zwar grundsätzlich nicht, Parteien auf eine beabsichtigte Änderung der Rechtsprechung hinzuweisen. Auch müssen Formalien, wie sie in den Prozeßordnungen verankert sind, vom Richter beachtet werden. Doch bedarf es zur Durchführung geordneter Prozesse gegenseitiger Rücksichtnahme. Daran mangelt es, wenn das Gericht die Ordnungsmäßigkeit einer Unterschrift jahrelang positiv beurteilt, so daß der Anwalt auf ihre Wirksamkeit vertrauen kann, später aber dieser Boden der Gemeinsamkeit vom Gericht ohne jede Warnung verlassen wird. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Änderung der Verfahrenspraxis zu dem Verlust eines Rechtsmittels führt (BVerfGE 78, 123 ≪126 f.≫).
2. Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen wird die Anwendung des Prozeßrechts durch das Landgericht nicht gerecht.
a) Nach den unter 1. genannten Maßstäben hätte in Betracht gezogen werden können, im Fall des Beschwerdeführers wie in den der Entscheidung BVerfGE 78, 123 zugrunde liegenden Fällen die vom Prozeßbevollmächtigten geleisteten Handzeichen unter die Berufungs- und die Berufungsbegründungsschrift noch ein letztes Mal als ausreichend anzusehen.
b) Der Grundsatz des fairen Verfahrens gebietet aber zumindest, dem betroffenen Anwalt und seinem Mandanten die Möglichkeit zur prozessualen Korrektur zu geben und eine solche Korrektur in Erwägung zu ziehen. Bereits der Bundesgerichtshof (VersR 1975, S. 927) hat den Umstand, daß die Unterzeichnung einer Berufungsschrift mit einer über Jahrzehnte unbeanstandet geleisteten Unterschrift plötzlich beanstandet wird, für den unterzeichnenden Rechtsanwalt und damit auch für seine Partei als einen die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtfertigenden unabwendbaren Zufall angesehen.
Der Prozeßbevollmächtigte des Beschwerdeführers hat mit seinem am 7. April 1995 – innerhalb der Frist des § 234 Abs. 1 und 2 ZPO – beim Landgericht eingegangenen Schriftsatz, in dem er auf die von ihm geltend gemachte jahrelange Unterschriftspraxis hingewiesen und um ein Absehen von der Verwerfung der Berufung gebeten hat, zum Ausdruck gebracht, daß er die Berufung aufrechterhalten und erforderlichenfalls neu einlegen wollte. Dieser Schriftsatz war ordnungsgemäß unterzeichnet. Von daher lag es nahe, in ihm einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und eine Nachholung der versäumten Prozeßhandlung zu sehen; zumindest erscheint eine dahin gehende Bewertung nicht ausgeschlossen. Statt dessen hat das Landgericht ausgeführt, der Umstand, daß der Prozeßbevollmächtigte des Beschwerdeführers seit mehr als einem Jahrzehnt seine Berufungen mittels Handzeichens unterzeichne, könne den Berufungsführer nicht entlasten. Damit hat es sich entgegen der oben angeführten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs den Zugang zur Prüfung einer den Form- und Fristmangel behebenden Wiedereinsetzung in den vorigen Stand versperrt. Dies genügt nicht den Anforderungen an ein faires rechtsstaatliches Verfahren.
An dieser Beurteilung ändert es nichts, daß sich nicht mehr hat aufklären lassen, ob die vom Prozeßbevollmächtigten des Beschwerdeführers nach seinem Vortrag geübte Unterschriftspraxis der entscheidenden Kammer des Landgerichts tatsächlich bekannt war. Dieses hat in seiner Entscheidung eine solche – jahrelange – Praxis unterstellt und ohne weitere rechtliche Prüfung angenommen, daß sie nicht zu einer Entlastung des Beschwerdeführers führen könne. Schon darin liegt aber die grundsätzliche Verkennung des Prozeßgrundrechts auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren.
Ob dem Beschwerdeführer letztlich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist, bleibt der abschließenden Prüfung durch das Fachgericht vorbehalten. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß das Landgericht, wenn es den bei ihm am 7. April 1995 eingegangenen Schriftsatz des Beschwerdeführers im Lichte der höchstrichterlichen Rechtsprechung und unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Vorgaben gewürdigt hätte, in diesem Schriftsatz einen Wiedereinsetzungsantrag gesehen, ihm auch stattgegeben und die Berufung nicht als unzulässig verworfen hätte. Damit beruht die angegriffene Entscheidung auf dem Verfassungsverstoß (BVerfGE 35, 382 ≪402, 404≫; 50, 115 ≪123 f.≫).
III.
Nach alledem ist die angegriffene Entscheidung aufzuheben und der Rechtsstreit an das Landgericht zurückzuverweisen (§ 93 c Abs. 2, § 95 Abs. 2 BVerfGG). Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG.
Fundstellen