Verfahrensgang
Tenor
- Der Beschluss des Kammergerichts vom 7. April 2005 – 16 UF 6/04 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben. Die Sache wird an das Kammergericht zurückverwiesen.
- Das Land Berlin hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
- Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Gründe
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine einstweilige Anordnung, mit der der Beschwerdeführer zur Zahlung von Betreuungsunterhalt nach § 1615 l Abs. 2 BGB für die Zeit nach Vollendung des dritten Lebensjahres seines Kindes verpflichtet wurde.
Die Klägerin und Antragstellerin des Ausgangsverfahrens begehrt von dem Vater ihres am 31. März 2002 geborenen Kindes, dem Beschwerdeführer, mit dem sie nicht verheiratet ist und war, die Zahlung von Betreuungsunterhalt nach § 1615 l Abs. 2 BGB auch für die Zeit nach Vollendung des dritten Lebensjahres des Kindes. Mit Beschluss vom 30. September 2004 setzte das Kammergericht das Verfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 GG aus und legte dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vor, ob § 1615 l Abs. 2 Satz 3 BGB mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Die in dieser Norm enthaltene grundsätzliche Befristung des Unterhaltsanspruchs auf drei Jahre nach der Geburt des Kindes sei wegen Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 5 GG verfassungswidrig. Da das Verfahren für einen unbestimmten Zeitraum ausgesetzt sei und ein Regelungsbedürfnis bestehe, verpflichtete es zudem den Beschwerdeführer durch einstweilige Anordnung zur Unterhaltszahlung bis zum 31. März 2005, dem Zeitpunkt der Vollendung des dritten Lebensjahres des Kindes.
Mit Beschluss vom 7. April 2005 änderte das Kammergericht die vorangegangene einstweilige Anordnung ab und verpflichtete den Beschwerdeführer durch erneute einstweilige Anordnung auch für die Zeit ab dem 1. April 2005 – befristet bis zum 31. März 2006 –, an die Antragstellerin eine monatliche Unterhaltsrente von 490 Euro zu zahlen. Das Bundesverfassungsgericht habe noch nicht entschieden, ob § 1615 l Abs. 2 Satz 3 BGB mit dem Grundgesetz unvereinbar sei. Der Senat sei nicht durch Art. 100 Abs. 1 GG gehindert, vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn dies im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes geboten erscheine und die Hauptsache dadurch nicht vorweggenommen werde. Der Senat halte weiterhin die zeitliche Befristung des Betreuungsunterhalts der nichtehelichen Mutter (§ 1615 l Abs. 2 Satz 3 BGB) für verfassungswidrig und die Antragstellerin sei auf die Unterhaltszahlungen angewiesen. Eine Vorwegnahme der Hauptsache finde nicht statt.
II.
Der Beschwerdeführer rügt mit seiner gegen die einstweilige Anordnung vom 7. April 2005 gerichteten Verfassungsbeschwerde der Sache nach die Verletzung seiner Rechte aus Art. 2 Abs. 1 GG.
III.
Zu der Verfassungsbeschwerde hat die Antragstellerin Stellung genommen. Die Senatsverwaltung Berlin hat von einer Stellungnahme abgesehen.
IV.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG statt.
1. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c BVerfGG). Die für die Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zu Schutzbereich und Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG, insbesondere zu der aus Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Bindung der Rechtsprechung an Recht und Gesetz, sind durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beantwortet (vgl. BVerfGE 74, 129 ≪152≫; 87, 273 ≪279 f.≫; 96, 375 ≪394≫).
2. Die angegriffene Entscheidung, mit der der Beschwerdeführer zur Zahlung von Betreuungsunterhalt über die Vollendung des dritten Lebensjahres des Kindes hinaus verpflichtet wird, verletzt den Beschwerdeführer in seiner durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Handlungsfreiheit. Die auferlegte Unterhaltsverpflichtung ist durch die verfassungsmäßige Ordnung nicht legitimiert, da sich das Kammergericht aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben und sich der Bindung an Recht und Gesetz im Sinne des Art. 20 Abs. 3 GG entzogen hat.
a) Die Auferlegung von Unterhaltsverpflichtungen schränkt den Verpflichteten in seiner durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Handlungsfreiheit ein (vgl. BVerfGE 57, 361 ≪378≫). Abgesehen von einem absolut geschützten Kernbereich der privaten Lebensgestaltung ist die allgemeine Handlungsfreiheit jedoch nur in den Schranken des zweiten Halbsatzes des Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet und steht damit insbesondere unter dem Vorbehalt der verfassungsmäßigen (Rechts-)Ordnung (vgl. BVerfGE 6, 32 ≪37 f.≫; 74, 129 ≪152≫; 80, 137 ≪153≫). Zu dieser verfassungsmäßigen Ordnung gehören die vom Normgeber gesetzten Rechtsnormen, mithin auch das Unterhaltsrecht, soweit es mit dem Grundgesetz im Einklang steht.
b) Bei Anwendung dieser Maßstäbe ist die ohne gesetzliche Grundlage auferlegte Zahlungsverpflichtung eine nicht mehr durch die verfassungsmäßige Ordnung legitimierte Beschränkung der durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Handlungsfreiheit.
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 644 ZPO erfordert – wie jede Regelung im vorläufigen Rechtsschutz – neben dem Anordnungsgrund einen Anordnungsanspruch. Die Anordnung bedarf einer materiell-rechtlichen Grundlage, deren Voraussetzungen glaubhaft zu machen sind. Vorliegend mangelt es an einer solchen materiell-rechtlichen Grundlage; wie das Kammergericht in seinem Vorlagebeschluss ausgeführt hat, steht der Antragstellerin für die Zeit ab dem 1. April 2005 kein Unterhaltsanspruch nach § 1615 l Abs. 2 BGB gegen den Beschwerdeführer zu. Indem es ungeachtet dessen den Beschwerdeführer im Wege der einstweiligen Anordnung zur Zahlung von Betreuungsunterhalt für die Zeit nach der Vollendung des dritten Lebensjahres des Kindes verpflichtet hat, hat es gegen das in Art. 100 GG verankerte Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts verstoßen, sich durch die Kreierung eines vom Gesetzgeber nicht geschaffenen Anspruchs aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben und sich damit der Bindung an Recht und Gesetz im Sinne von Art. 20 Abs. 3 GG (vgl. BVerfGE 96, 375 ≪394≫) entzogen.
c) Die angegriffene Entscheidung beruht auf dem dargelegten Grundrechtsverstoß.
3. Nach § 95 Abs. 2 BVerfGG ist die Entscheidung aufzuheben und die Sache an das Kammergericht zurückzuverweisen.
4. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Entscheidung über die Festsetzung des Gegenstandswertes folgt aus § 113 Abs. 2 Satz 2 BRAGO (vgl. auch BVerfGE 79, 365 ≪366 ff.≫).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Papier, Hohmann-Dennhardt, Hoffmann-Riem
Fundstellen
NJW 2006, 1339 |
FamRZ 2006, 257 |
FamRZ 2007, 425 |
ZKJ 2006, 295 |
www.judicialis.de 2005 |