Verfahrensgang
OLG Celle (Beschluss vom 29.09.2010; Aktenzeichen 1 Ws 421/10) |
LG Hannover (Beschluss vom 30.07.2010; Aktenzeichen 31 KLs 3171 Js 30705/06 (68/06)) |
Tenor
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Celle vom 29. September 2010 – 1 Ws 421/10 – und der Beschluss des Landgerichts Hannover vom 30. Juli 2010 – 31 KLs 3171 Js 30705/06 (68/06) – sowie die Ladung zum Haftantritt des Amtsgerichts Neustadt am Rübenberge vom 6. Juli 2010 – 60 VRJs 12/10 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Die Beschlüsse und die Ladung werden aufgehoben.
Die Sache wird an das Amtsgericht Neustadt am Rübenberge zurückverwiesen.
Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer die entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
Der zu einer mehrjährigen Jugendstrafe verurteilte Beschwerdeführer wendet sich gegen eine erst 22 Monate nach Eintritt der Rechtskraft erfolgte Ladung zum Haftantritt.
I.
Mit Urteil vom 24. Oktober 2007 verurteilte das Landgericht Hannover den im Tatzeitpunkt 17 Jahre alten Beschwerdeführer wegen versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung aufgrund der Schwere der Schuld gemäß § 17 Abs. 2 2. Alt. JGG zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten; eine Anrechnung der Zeiten in Untersuchungshaft und sonstiger Freiheitsentziehung wurde nicht nach § 52a Abs. 1 Satz 2 JGG ausgeschlossen. Das Urteil ist seit dem 22. April 2008 rechtskräftig; zu diesem Zeitpunkt war der Beschwerdeführer 19 Jahre alt.
Der Beschwerdeführer befand sich nach seiner vorläufigen Festnahme am 16. April 2006 aufgrund eines am 17. April 2006 ergangenen Haftbefehls bis 29. Mai 2006 in Untersuchungshaft und war anschließend – nach der Außervollzugsetzung des Haftbefehls – zum Zwecke der Untersuchungshaftvermeidung bis zum 24. Oktober 2007 in einer entsprechenden Einrichtung untergebracht.
Nach seiner Entlassung holte der Beschwerdeführer einen Schulabschluss nach und absolvierte in der Zeit vom 3. September 2007 bis zum 9. Juni 2009 eine Ausbildung zum Fachlageristen, die er mit dem Gesellenbrief abschloss. Im Anschluss daran ging er mehrere Beschäftigungsverhältnisse ein. Eine bereits während der Unterbringung aufgenommene psychologische Betreuung mit dem Ziel der Aufarbeitung des begangenen Unrechts setzte er nach seiner Entlassung fort.
Die erste Ladung zum Haftantritt wurde dem Beschwerdeführer am 22. Februar 2010 zugestellt. Eine erneute Ladung durch das Amtsgericht Neustadt am Rübenberge erfolgte am 6. Juli 2010, nachdem die Vollstreckung des Urteils wegen eines letztlich erfolglosen Gnadengesuchs zurückgestellt worden war.
Gegen die zweite Ladung erhob der Beschwerdeführer Einwendungen gemäß § 458 StPO, weil eine Strafvollstreckung beinahe zwei Jahre nach eingetretener Rechtskraft weder unter Erziehungsaspekten notwendig noch im Hinblick auf den Vertrauensschutz wie auch die beeinträchtigende Wirkung der Vollstreckung zumutbar sei. Er habe zwischenzeitlich eine psychologisch betreute Aufarbeitung seiner Tat durchlaufen und bedürfe insbesondere keiner erzieherischen Einwirkung mehr. Außerdem habe er in der Zeit nach der Hauptverhandlung seine Ausbildung fortgesetzt und ein befristetes Arbeitsverhältnis eingehen können, an dessen Fortführung er durch den Vollzug der Strafe gehindert wäre.
Das Landgericht Hannover wies die Einwendungen mit Beschluss vom 30. Juli 2010 zurück. Allein der zeitliche Abstand von 22 Monaten zwischen Rechtskraft des Urteils und erstmaliger Ladung zum Strafantritt könne noch kein schutzwürdiges Vertrauen in die Nichtvollstreckung des Urteils begründen. Auch die positive Entwicklung des Beschwerdeführers stehe der Strafvollstreckung nicht entgegen. Dieser unterliege andernfalls der Vorstellung, dass sein Fehlverhalten – von den Maßnahmen der Untersuchungshaftvermeidung abgesehen – zu keinerlei Sanktionen geführt habe und er ein unbehindertes Leben fortführen könne. Neben dem fortbestehenden Erziehungsbedarf des Beschwerdeführers erforderten sowohl der Schuldausgleich als auch der Sühnegedanke die Strafvollstreckung.
In seiner hiergegen erhobenen sofortigen Beschwerde betonte der Beschwerdeführer erneut seine positive Entwicklung unter Bezugnahme auf die bereits dem Landgericht vorgelegten Gutachten, machte mögliche schädliche Einwirkungen des Strafvollzugs geltend und wandte sich gegen die Heranziehung der allgemeinen Verjährungsvorschrift des § 79 Abs. 3 Nr. 3 StGB, nach der die Vollstreckungsverjährung nach zehn Jahren eintritt.
Mit Beschluss vom 29. September 2010 verwarf das Oberlandesgericht die sofortige Beschwerde als unbegründet. Es würdigte die Situation des Beschwerdeführers, insbesondere seine positive Entwicklung seit Urteilserlass und die etwaigen Einschnitte einer nunmehrigen Strafvollstreckung, sowie den bis zur Vollstreckungseinleitung verstrichenen Zeitraum. Dennoch kam es zu dem Schluss, dass dem staatlichen Vollstreckungsanspruch Vorrang einzuräumen sei. Es sei weder eine verfassungskonforme Auslegung des § 79 StGB für die Vollstreckungsverjährung von Jugendstrafen im Allgemeinen geboten, noch lägen im Falle des Beschwerdeführers, unbeschadet der vorgelegten psychologischen Gutachten, außergewöhnliche Umstände vor, die eine grundrechtswidrige Härte der Vollstreckung der gerade wegen der Schwere der Schuld im Sinne des § 17 Abs. 2 2. Alt. JGG verhängten Jugendstrafe begründen könnten.
Entscheidungsgründe
II.
Der bei Erhebung der Verfassungsbeschwerde 22 Jahre alte Beschwerdeführer rügt die Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG i. V. m. Art. 104 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG sowie des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG durch die Ladung zum Haftantritt und die Entscheidung über die sofortige Beschwerde. Sein Grundrecht auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) sei insbesondere dadurch verletzt, dass der im Jugendstrafrecht geltende Erziehungsgedanke durch den unzumutbar langen Abstand zwischen dem Eintritt der Rechtskraft des Urteils und der erstmaligen Ladung zum Haftantritt unterlaufen werde und es somit an einem verfassungsrechtlich zulässigen Eingriff in dieses Grundrecht fehle. Infolge des von ihm entwickelten Vertrauens in die nicht mehr erfolgende Vollstreckung habe er zudem von sich aus einen gefestigten Lebenswandel entwickelt, der eine weitere erzieherische Einwirkung des Staates nicht mehr erfordere und durch eine dennoch erfolgende Vollstreckung der mehrjährigen Freiheitsstrafe massiv beeinträchtigt würde. Auch lasse die Entscheidung die Bedeutung des Beschleunigungsgrundsatzes, der gerade im Jugendstrafrecht verstärkt Anwendung finde, außer Acht. Zudem enthalte § 79 StGB eine verfassungswidrige Lücke insoweit, als er die Eigenheiten des Jugendstrafrechts nicht berücksichtige und keine spezifischen Fristen für die Vollstreckungsverjährung normiere. Zumindest müsse die Vorschrift verfassungskonform dergestalt ausgelegt werden, dass für die Verjährung von Jugendstrafen deutlich geringere Verjährungsfristen gälten, als dies bei erwachsenen Straftätern der Fall sei.
III.
Das Niedersächsische Justizministerium, das Bundesministerium der Justiz und der Generalbundesanwalt haben Stellungnahmen abgeben. Dem Bundesverfassungsgericht haben Teile der Akten des Strafverfahrens sowie das Vollstreckungsheft vorgelegen.
IV.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), und gibt ihr statt. Zu dieser Entscheidung ist sie berufen, weil die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sind und die Verfassungsbeschwerde zulässig und offensichtlich begründet ist (§ 93b Satz 1 in Verbindung mit § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
Die Ladung zum Strafantritt durch das Amtsgericht Neustadt am Rübenberge und die diese bestätigenden Beschlüsse des Landgerichts Hannover – die Verfassungsbeschwerde ist dahin auszulegen, dass auch dieser Beschluss angegriffen ist – und des Oberlandesgerichts Celle verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip sowie dem Rechtsstaatsprinzip.
1. Die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG geschützte Freiheit der Person darf nur aus besonders gewichtigen Gründen eingeschränkt werden (vgl. BVerfGE 22, 180 ≪219≫; 29, 312 ≪316≫; 35, 185 ≪190≫; 45, 187 ≪223≫; 130, 372 ≪388≫; stRspr). Belange von ausreichendem Gewicht sind insbesondere die unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung (vgl. BVerfGE 19, 342 ≪347≫; 20, 45 ≪49≫; 20, 144 ≪147≫; 32, 87 ≪93≫; 35, 185 ≪190≫) und der Schutz der Allgemeinheit (vgl. BVerfGE 22, 180 ≪219≫; 30, 47 ≪53≫; 45, 187 ≪223≫; 58, 208 ≪224 f.≫; 70, 297 ≪307≫; 130, 372 ≪388≫). Die verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, eine funktionstüchtige Strafrechtspflege zu gewährleisten, umfasst auch die Pflicht, die Durchführung eingeleiteter Strafverfahren und die Vollstreckung rechtskräftig erkannter (Freiheits-)Strafen sicherzustellen. Dass der Strafanspruch durchgesetzt, also auch eingeleitete Verfahren fortgesetzt und rechtskräftig verhängte Strafen vollstreckt werden müssen, ergibt sich aus dem Rechtsstaatsprinzip (BVerfGE 46, 214 ≪222 f.≫; 49, 24 ≪54≫; 51, 324 ≪344≫).
Nach dem sich ebenfalls aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebenden Beschleunigungsgrundsatz in Strafsachen erfordert eine funktionstüchtige Strafrechtspflege darüber hinaus die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs innerhalb eines so bemessenen Zeitraums, dass die Rechtsgemeinschaft die Strafe noch als Reaktion auf geschehenes Unrecht wahrnehmen kann (vgl. BVerfGE 122, 248 ≪273≫). Dies gilt auch für die Vollstreckung verhängter (Freiheits-)Strafen. Im Jugendstrafrecht kommt dem Beschleunigungsgrundsatz eine weitere, besondere Bedeutung zu, weil dort Freiheitsstrafen mit dem Ziel der Erziehung und sozialen Integration, einem Vollzugsziel mit Verfassungsrang (vgl. BVerfGE 116, 69 ≪85≫), vollzogen werden.
Im Falle einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung sind die Strafverfolgungsbehörden gehalten, in jeder Lage des Verfahrens zu prüfen, ob die Bestrafung noch in einem angemessenen Verhältnis zu dem erreichbaren Rechtsgüterschutz steht (vgl. BVerfGK 2, 239 ≪247≫ m.w.N.). Dies gilt nicht nur für das Erkenntnisverfahren, sondern auch für die Vollstreckung, weil die von einer Strafe ausgehenden Wirkungen für das Leben des Verurteilten sich durch die Veränderung von Lebensumständen in Folge des Zeitablaufs seit Rechtskraft der Verurteilung verstärken können.
Entscheidungen, die auf einen Entzug der persönlichen Freiheit abzielen, müssen ferner auf einer zureichenden richterlichen Sachaufklärung beruhen (vgl. BVerfGE 58, 208 ≪222≫; 70, 297 ≪308≫; 109, 190 ≪223≫). Die Mindestanforderungen an eine zuverlässige Wahrheitserforschung (vgl. BVerfGE 57, 250 ≪274 f.≫ m.w.N.) sind nicht nur im Erkenntnisverfahren, sondern auch im Vollstreckungsverfahren zu beachten (vgl. BVerfGE 58, 208 ≪222≫; 70, 297 ≪308≫; 86, 288 ≪317≫; 109, 133 ≪162≫; 117, 71 ≪105≫).
2. Die Ladung zum Strafantritt wird diesen Anforderungen nicht gerecht und verkennt die Bedeutung und Tragweite des Freiheitsgrundrechtes aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG.
Bei der Ladung zum Strafantritt vom 22. Februar 2010 war das zu vollstreckende Urteil bereits seit beinahe zwei Jahren, bei der – im Anschluss an das erfolglose Gnadenverfahren ergangenen – Ladung vom 6. Juli 2010 mehr als zwei Jahre rechtskräftig. Die Verzögerung bis zum Februar 2010 ist nicht auf ein Verhalten des Beschwerdeführers zurückzuführen, sondern, soweit ersichtlich, allein von staatlichen Stellen verursacht worden.
Bereits im Hinblick auf diese Verzögerung hätte das Amtsgericht die aktuellen Lebensumstände des Beschwerdeführers aufklären müssen, um sicherzustellen, dass die Strafzwecke noch erreichbar sind und die Verhältnismäßigkeit der Einwirkung auf den Beschwerdeführer durch den Vollzug der Jugendstrafe gewahrt ist. Gerade im Jugendstrafrecht können Verfahrensverzögerungen den Strafzweck, insbesondere den Erziehungsgedanken, konterkarieren. Veränderte Lebensumstände können die Notwendigkeit einer erzieherischen Einwirkung in anderem Licht als zum Zeitpunkt der Verurteilung oder des Eintritts der Rechtskraft erscheinen lassen, was von Verfassungs wegen im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen ist (vgl. BVerfGK 2, 239 ≪247≫). Abweichendes gilt hier nicht deshalb, weil eine Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld im Raum steht; denn auch bei dieser tritt die erzieherische Grundausrichtung des Jugendstrafrechts nicht vollständig zurück (vgl. BGHSt 15, 224).
Hinzu kommt, dass der Beschwerdeführer bereits 18 Monate, mithin weit mehr als ein Drittel der verhängten Strafe, in Untersuchungshaft und einer sonstigen freiheitsentziehenden Maßnahme im Sinne des § 52a Abs. 1 Satz 1 JGG verbracht hatte, ohne dass eine Anrechnung auf die verhängte Strafe nach § 52a Abs. 1 Satz 2 JGG ausgeschlossen worden war. Insofern drängte sich die Prüfung einer Reststrafenaussetzung nach § 88 JGG unter Berücksichtigung der zwischenzeitlichen Entwicklung des Beschwerdeführers geradezu auf. Die Reststrafenaussetzung nach § 88 JGG ist ohne Antrag des Verurteilten von Amts wegen möglich und setzt nicht voraus, dass sich dieser im Strafvollzug befindet (vgl. Eisenberg JGG, 16. Aufl. 2013, § 88 Rn. 7). Für die Entscheidung nach § 88 JGG spielen die Vorschriften über die Vollstreckungsverjährung (§ 79 StGB) keine Rolle, so dass deren – vom Beschwerdeführer in Frage gestellte – Anwendbarkeit im Bereich des Jugendstrafrechts hier nicht erörtert werden muss.
3. Die die Ladung bestätigenden Beschlüsse des Landgerichts und des Oberlandesgerichts genügen den verfassungsrechtlichen Anforderungen ebenfalls nicht. Sie lassen die im Zusammenhang mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) gebotene Aufklärung des Sachverhalts (vgl. BVerfGE 58, 208 ≪222≫) und die notwendige Begründungstiefe für eine die persönliche Freiheit entziehende Entscheidung (vgl. etwa BVerfGE 57, 250 ≪274 f.≫; 63, 380 ≪390≫; 70, 297 ≪308≫; 103, 21 ≪35 f.≫; BVerfGK 10, 294 ≪304≫; 10, 544 ≪548≫) vermissen. Es fehlt bereits eine auf den Einzelfall bezogene Überprüfung des Verfahrensablaufs im Hinblick auf mögliche Verletzungen des Beschleunigungsgrundsatzes (vgl. BVerfGK 7, 421 ≪428≫; 17, 517 ≪524≫). Die Beschlüsse verhalten sich in keiner Weise zu den Ursachen der entstandenen Verfahrensverzögerung.
Vor allem aber haben die Gerichte das durch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG geschützte Freiheitsinteresse des noch als Heranwachsender zu einer mehrjährigen Jugendstrafe verurteilten Beschwerdeführers nicht im Hinblick auf das im Jugendstrafrecht verankerte Erziehungsziel ausreichend berücksichtigt. Zwar haben sie die positive Entwicklung des Beschwerdeführers seit Urteilserlass und den ihm drohenden Arbeitsplatzverlust gewürdigt. Nicht erörtert worden ist hingegen, ob das Erziehungs- und Vollzugsziel der sozialen Integration nicht bereits erreicht worden ist, und ob für den Fall, dass weiterhin ein Erziehungsbedürfnis besteht, diesem durch Auflagen und Weisungen nach § 23 JGG Rechnung getragen werden kann. Die Annahme, der Verfahrensablauf habe beim Beschwerdeführer die – dem Erziehungsgedanken zuwiderlaufende – Vorstellung erweckt, man könne sich den Folgen einer Straftat entziehen, bleibt abstrakt und geht nicht auf die konkreten Umstände ein. In diesem Zusammenhang wird zwar erwähnt, aber nicht gewichtet, dass der Beschwerdeführer anlässlich der abgeurteilten Tat eine nicht unerhebliche Freiheitsentziehung hinzunehmen hatte und dass daher mit einer Nichtvollstreckung der Jugendstrafe kein vollständiger Verzicht auf den staatlichen Strafanspruch verbunden ist. Der von den Gerichten als entscheidend angesehene Aspekt, dass der Zweck der Jugendstrafe, das Unrecht zu sühnen, noch nicht entfallen sei, steht der Berücksichtigung der vorgenannten Abwägungsgesichtspunkte nicht zwingend entgegen.
4. Die Ladung zum Strafantritt des Amtsgerichts Neustadt am Rübenberge und die Beschlüsse des Landgerichts Hannover und des Oberlandesgerichts Celle werden aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht Neustadt am Rübenberge zurückverwiesen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).
Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Voßkuhle, Gerhardt, Huber
Fundstellen
NJW-Spezial 2013, 313 |
StRR 2013, 461 |