Verfahrensgang
LG Hannover (Beschluss vom 09.04.2010; Aktenzeichen 8 T 7/10) |
AG Hannover (Beschluss vom 26.11.2009; Aktenzeichen 44 XIV 143/09 B) |
Tenor
Die Beschlüsse des Amtsgerichts Hannover vom 26. November 2009 – 44 XIV 143/09 B – und des Landgerichts Hannover vom 9. April 2010 – 8 T 7/10 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Hannover zurückverwiesen.
Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 8.000 EUR (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Tatbestand
A.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Reichweite des in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Gebots eigenverantwortlicher richterlicher Sachprüfung im Verfahren der vorläufigen Freiheitsentziehung nach § 427 Abs. 1 FamFG zur Sicherung einer Abschiebung.
I.
1. Der Beschwerdeführer ist ein im Jahre 1974 geborener georgischer Staatsangehöriger. Anfang des Jahres 2008 reiste er aus der Slowakischen Republik kommend in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo er am 6. Februar 2008 einen Asylantrag stellte. Diesen wies das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) mit Bescheid vom 5. März 2008 als unzulässig zurück und ordnete auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (Amtsblatt Nr. L 50 S. 1 ff. – Dublin II-Verordnung) die Zurückschiebung des Beschwerdeführers in die Slowakische Republik an.
2. Nach mehreren gescheiterten Abschiebungsversuchen und nach Ablauf der Überstellungsfrist nahm das Bundesamt das Asylverfahren wieder auf, lehnte den Asylantrag des Beschwerdeführers mit Bescheid vom 7. Oktober 2009 als offensichtlich unbegründet ab und drohte ihm die Abschiebung an. Ausweislich einer Mitteilung an die Zentrale Aufnahme- und Ausländerbehörde Niedersachsen vom 3. November 2009 ging das Bundesamt davon aus, dass der Bescheid am 12. Oktober 2009 zugestellt wurde oder als zugestellt gelte und seit dem 20. Oktober 2009 vollziehbar sei.
3. Auf Antrag der Ausländerbehörde ordnete das Amtsgericht mit – hier angegriffenem – Beschluss vom 26. November 2009 gegen den zwischenzeitlich in die Niederlande ausgereisten Beschwerdeführer, dessen Rücküberstellung in die Bundesrepublik für den 30. November 2009 vorgesehen war, gemäß § 427 Abs. 1 FamFG die einstweilige Freiheitsentziehung an. Der von der Ausländerbehörde zugleich gestellte Antrag auf Anordnung der Abschiebungshaft, deren Sicherung die vorläufige Freiheitsentziehung diene, sei nach bisheriger Prüfung offensichtlich begründet. Der Beschwerdeführer sei ausweislich des gestellten Antrages verpflichtet, aus der Bundesrepublik auszureisen. Dessen ungeachtet sei der Beschwerdeführer untergetaucht und komme seinen aufenthaltsrechtlichen Pflichten nicht nach. Es bestehe der begründete Verdacht, dass er nicht freiwillig ausreisen werde, sondern sich der Abschiebung entziehen wolle. Im Übrigen nahm das Amtsgericht auf den Antrag der Ausländerbehörde Bezug.
4. Nach Überstellung des Beschwerdeführers aus den Niederlanden ordnete das Amtsgericht mit – hier nicht angefochtenem – Beschluss vom 30. November 2009 gegen den Beschwerdeführer die Abschiebungshaft nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 5 AufenthG an. Eine Beschwerde gegen diesen Beschluss blieb erfolglos. Der Rechtsbeschwerde gab der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 22. Juli 2010 statt und stellte dabei darauf ab, der Haftantrag sei nicht ordnungsgemäß begründet gewesen, weil sich aus ihm die Grundlage der Ausreisepflicht nicht ergeben habe.
5. Seine gegen die Anordnung der einstweiligen Freiheitsentziehung gerichtete Beschwerde begründete der Beschwerdeführer damit, es sei nicht ersichtlich, dass er zum Zeitpunkt der Haftanordnung ausreisepflichtig gewesen sei. Aus den Akten ergebe sich nicht, dass ihm der Bescheid vom 7. Oktober 2009 ordnungsgemäß zugestellt worden sei; er habe von diesem Bescheid keine Kenntnis. Die Zustellung werde auch nicht über § 10 AsylVfG fingiert. Die Fiktion des § 10 Abs. 2 AsylVfG gelte nach § 10 Abs. 1 AsylVfG nur während der Dauer des Asylverfahrens, nicht mehr nach dessen Beendigung. Das Asylverfahren sei jedoch mit der Zurückweisung des Asylantrages als unzulässig beendet gewesen. Voraussetzung der Fiktion nach § 10 Abs. 2 AsylVfG sei außerdem ein tatsächlicher Zustellungsversuch; an einem solchen fehle es hier. Zudem sei der Beschwerdeführer entgegen § 10 Abs. 7 AsylVfG nicht darüber belehrt worden, dass eine Ersatzzustellung auch dann möglich sei, wenn er sich einer Überstellung in die Slowakische Republik entziehe und das Verfahren – wie hier – nach Ablauf der Überstellungsfrist von der Bundesrepublik übernommen werde.
Am 20. Februar 2010 wurde der Beschwerdeführer nach Georgien abgeschoben.
6. Das Landgericht wies die auf einen Feststellungsantrag umgestellte Beschwerde mit – hier angegriffenem – Beschluss vom 9. April 2010 als unbegründet zurück. Die Voraussetzungen einer einstweiligen Freiheitsentziehung nach § 427 FamFG seien zum Zeitpunkt der Haftanordnung erfüllt gewesen. Nach dem Antrag der Ausländerbehörde hätten bei summarischer Prüfung Anhaltspunkte für die Annahme bestanden, dass gegen den Beschwerdeführer Abschiebungshaft würde angeordnet werden können. Dem Amtsgericht habe der bestandskräftige Bescheid des Bundesamts vorgelegen, wonach der Asylantrag des Beschwerdeführers als offensichtlich unbegründet abgelehnt und der Beschwerdeführer zur Ausreise binnen einer Woche aufgefordert worden sei. Aus der Abschlussmitteilung des Bundesamts habe sich ergeben, dass der Bescheid als am 12. Oktober 2009 zugestellt gelte. Im Rahmen einer summarischen Überprüfung ergäben sich keine Zweifel an einer wirksamen Bekanntgabe gemäß § 10 AsylVfG.
II.
Mit der Verfassungsbeschwerde macht der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 2 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 und Abs. 2 GG geltend. Eine Freiheitsentziehung sei danach nur unter Einhaltung der einfachrechtlichen Vorgaben zulässig. Voraussetzung der Abschiebungshaft sei in jedem Fall, dass der Betroffene vollziehbar ausreisepflichtig sei. Dies habe der Haftrichter in eigener Verantwortung zu prüfen. Eine vollziehbare Ausreisepflicht könne sich hier nicht aus der Ablehnung des Asylantrages als offensichtlich unbegründet ergeben, weil der betreffende Bescheid dem Beschwerdeführer nicht ordnungsgemäß zugestellt worden sei. Eine Zustellung ergebe sich weder aus dem Haftantrag, noch sei eine Zustellungsurkunde vorhanden. Der Hinweis auf die Abschlussmitteilung des Bundesamts vom 3. November 2009 ersetze den Zustellungsnachweis nicht. Indem das Amtsgericht die Haftanordnung ausschließlich auf den Haftantrag gestützt habe, ohne eigenverantwortlich eine ordnungsgemäße Zustellung des Bescheides zu hinterfragen, sei es seiner verfassungsrechtlichen Prüfungspflicht nicht nachgekommen. Für eine Prüfung wäre bis zur erwarteten Überstellung aus den Niederlanden auch ausreichend Zeit gewesen. Jedenfalls das Landgericht hätte sich nicht auf eine summarische Prüfung beschränken dürfen, sondern abschließend klären müssen, ob der Beschwerdeführer tatsächlich vollziehbar ausreisepflichtig war.
III.
Das Niedersächsische Justizministerium hat sich im Einvernehmen mit dem Niedersächsischen Ministerium für Inneres und Sport dahingehend geäußert, Grundrechte des Beschwerdeführers seien nicht verletzt worden. Das Haftgericht habe zu berücksichtigen, dass es sich dem Charakter nach um ein Eilverfahren handele, und könne sich daher regelmäßig nur auf die glaubhaft gemachten Umstände stützen. Diese Einschränkung werde durch die zeitliche Begrenzung der vorläufigen Freiheitsentziehung aufgewogen. Die vollziehbare Ausreisepflicht habe das Amtsgericht zutreffend aus dem Bescheid des Bundesamts vom 7. Oktober 2009 hergeleitet, dessen Bestandskraft sich aus der in den Akten dokumentierten Zustellungsfiktion ergebe.
Der Präsident des Bundesgerichtshofs hat eine Äußerung des Vorsitzenden des V. Zivilsenats übermittelt. Dieser hält die Verfassungsbeschwerde für begründet. Die Pflicht zur Begründung des Haftantrages erstrecke sich nach § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG auch auf die Ausreisepflicht des Betroffenen. Dabei habe die den Haftantrag stellende Behörde die wirksame Zustellung des zugrunde liegenden Bescheides darzulegen. Dem genügten der Haftantrag und der Antrag auf vorläufige Freiheitsentziehung nicht. Der Abschlussmitteilung des Bundesamts lasse sich nicht entnehmen, aufgrund welcher Tatsachen von einer wirksamen Zustellung oder einer Zustellungsfiktion ausgegangen worden sei. Zu Unrecht hätten die Gerichte daher Zweifel an einer wirksamen Zustellung gemäß § 10 AsylVfG verneint. Die Anforderungen an die Darlegung und Feststellung der Ausreisepflicht seien nicht deshalb geringer, weil es sich um ein einstweiliges Anordnungsverfahren handele. Angesichts des zwischen der Antragstellung und der angekündigten Rückführung des Beschwerdeführers aus den Niederlanden liegenden Zeitraums von mehreren Tagen hätte es dem Amtsgericht oblegen, weitere Ermittlungen anzustellen.
Die Ausländerakte sowie die Akte des Ausgangsverfahrens sind beigezogen worden.
Entscheidungsgründe
B.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
1. a) Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG schützt die Freiheit der Person als ein besonders hohes Rechtsgut, in das nur aus wichtigen Gründen eingegriffen werden darf (vgl. BVerfGE 10, 302 ≪322≫; 29, 312 ≪316≫; 65, 317 ≪322≫). Nach Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG darf die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Freiheit der Person nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden. Die formellen Gewährleistungen des Art. 104 GG stehen mit der materiellen Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in unlösbarem Zusammenhang (vgl. BVerfGE 10, 302 ≪322≫; 58, 208 ≪220≫). Art. 104 Abs. 1 GG nimmt den schon in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalt auf und verstärkt ihn für alle Freiheitsbeschränkungen, indem er neben der Forderung nach einem förmlichen Gesetz die Pflicht, die sich aus diesem Gesetz ergebenden Formvorschriften zu beachten, zum Verfassungsgebot erhebt (vgl. BVerfGE 10, 302 ≪323≫; 29, 183 ≪195≫; 58, 208 ≪220≫).
Für den schwersten Eingriff in das Recht der Freiheit der Person, die Freiheitsentziehung, fügt Art. 104 Abs. 2 GG dem Vorbehalt des (förmlichen) Gesetzes den weiteren, verfahrensrechtlichen Vorbehalt einer richterlichen Entscheidung hinzu, der nicht zur Disposition des Gesetzgebers steht (vgl. BVerfGE 10, 302 ≪323≫). Der Richtervorbehalt dient der verstärkten Sicherung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Alle staatlichen Organe sind verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass der Richtervorbehalt als Grundrechtssicherung praktisch wirksam wird (BVerfGE 103, 142 ≪151 ff.≫; 105, 239 ≪248≫). Das gerichtliche Verfahren muss darauf angelegt sein, dem Betroffenen vor dem Freiheitsentzug diejenigen rechtsstaatlichen Sicherungen zu gewähren, die mit einem justizförmigen Verfahren verbunden sind. Die Eilbedürftigkeit einer solchen Entscheidung kann eine Vereinfachung und Verkürzung des gerichtlichen Verfahrens rechtfertigen, darf aber die unabhängige, aufgrund der Justizförmigkeit des Verfahrens besonders verlässliche Entscheidungsfindung nicht gefährden (BVerfGE 83, 24 ≪32≫; BVerfGK 7, 87 ≪99≫).
b) Die freiheitssichernde Funktion des Art. 2 Abs. 2 GG setzt auch Maßstäbe für die Aufklärung des Sachverhalts und damit für Anforderungen in Bezug auf die tatsächliche Grundlage der richterlichen Entscheidungen. Es ist unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (BVerfGE 58, 208 ≪222, 230≫; 70, 297 ≪308≫). In Verbindung mit dem in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit gewährleistet das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG eine umfassende Prüfung der Voraussetzungen für eine Haftanordnung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht. Bei der Anordnung von Abschiebungshaft wie auch bei der Entscheidung über ihre Fortdauer verpflichtet er die Gerichte insbesondere, zu überprüfen, ob die Ausreisepflicht (fort)besteht (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Februar 2009 – 2 BvR 538/07 –, juris, Rn. 19).
c) Diese Anforderungen sind auf die einstweilige Freiheitsentziehung nach § 427 FamFG jedenfalls insoweit übertragbar, als deren Zweck durch die Sachprüfung nicht gefährdet wird.
Eine vorläufige Freiheitsentziehung im Wege der einstweiligen Anordnung kann das Gericht nach § 427 Abs. 1 Satz 1 FamFG anordnen, wenn dringende Gründe für die Annahme bestehen, dass die Voraussetzungen für die Anordnung einer Freiheitsentziehung gegeben sind und ein dringendes Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden besteht. Die materiellrechtlichen Voraussetzungen einer vorläufigen Unterbringung sind damit deckungsgleich mit denjenigen, die für die endgültige Maßnahme gelten (vgl. Budde, in: Keidel, FamFG, 17. Aufl. 2011, § 427 Rn. 2). Verfahrensrechtlich kann eine vorläufige Unterbringungsmaßnahme nach § 427 Abs. 1 Satz 1 FamFG bereits dann getroffen werden, wenn die für den Erlass der endgültigen Maßnahme erforderlichen Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind, soweit konkrete Umstände mit erheblicher Wahrscheinlichkeit darauf hindeuten, dass die sachlichen Voraussetzungen für die Anordnung der Freiheitsentziehung erfüllt sind; dabei wird eine summarische Prüfung für ausreichend erachtet (vgl. Budde, a. a. O.).
Dies entbindet die Gerichte jedoch allenfalls insoweit von den zur rechtlichen Prüfung der einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen erforderlichen Ermittlungen, als ansonsten das Verfahrensziel der Freiheitsentziehung gefährdet wäre. Den Charakter eines Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht verliert eine Freiheitsentziehung nicht dadurch, dass sie in einem summarischen Verfahren angeordnet wird. Die allgemeinen verfassungsrechtlichen Anforderungen an die richterliche Sachaufklärung gelten daher im Grundsatz auch bei der vorläufigen Freiheitsentziehung. Abstriche sind jedenfalls dann nicht zu rechtfertigen, wenn erforderliche Ermittlungen ohne Gefährdung des Verfahrensziels ohne Weiteres durchführbar sind.
Die gerichtliche Aufklärungspflicht ist auch nicht im Hinblick auf die Begrenzung der vorläufigen Freiheitsentziehung auf die Dauer von sechs Wochen (§ 427 Abs. 1 Satz 2 FamFG) reduziert. Diese Begrenzung dient der Wahrung der Verhältnismäßigkeit einer vorläufigen Freiheitsentziehung, ändert jedoch nichts an deren Anordnungsvoraussetzungen und der gerichtlichen Verpflichtung, diese festzustellen.
2. Mit diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben stehen die angegriffenen Entscheidungen nicht im Einklang. Die Gerichte sind ihrer Verpflichtung zu einer eigenverantwortlichen Sachaufklärung nicht in dem von der Verfassung gebotenen Umfang nachgekommen, weil sie nicht hinreichend untersucht haben, ob der Beschwerdeführer vollziehbar ausreisepflichtig war.
a) Das Amtsgericht ist vor der Anordnung der vorläufigen Freiheitsentziehung nicht der Frage nachgegangen, ob dem Beschwerdeführer der Bescheid des Bundesamts vom 7. Oktober 2009 wirksam bekannt gegeben worden ist, obwohl hieran unter mehreren Gesichtspunkten Anlass zu Zweifeln bestand, die der Aufklärung bedurft hätten.
aa) Eine eigenverantwortliche Prüfung, ob der Beschwerdeführer vollziehbar ausreisepflichtig ist, war dem Amtsgericht auf der Grundlage der ihm vorgelegten Unterlagen verwehrt. Weder in dem Antrag auf Anordnung der einstweiligen Freiheitsentziehung noch in dem parallel übersandten Antrag auf Anordnung von Abschiebungshaft waren die Tatsachen dargelegt, aus denen sich eine Ausreisepflicht des Beschwerdeführers ergab. Dies wäre jedoch erforderlich gewesen. Die Anordnung von Zurückschiebungshaft setzt nach § 417 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1, Satz 2 Nr. 5 FamFG einen begründeten Antrag voraus, der Darlegungen enthalten muss, aus welchen Gründen der Betroffene zweifelsfrei ausreisepflichtig ist (vgl. BGH, Beschluss vom 29. April 2010 – V ZB 218/09 –, juris, Rn. 14). Die vorläufige Freiheitsentziehung darf nach § 427 Abs. 1 FamFG nur angeordnet werden, wenn dringende Gründe für die Annahme bestehen, dass die Voraussetzungen für eine Anordnung einer Freiheitsentziehung erfüllt sind. Auch dem Antrag auf vorläufige Haftanordnung muss daher zu entnehmen sein, dass und aus welchen Gründen der Beschwerdeführer ausreisepflichtig ist.
Dies war hier nicht der Fall. In dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 427 Abs. 1 FamFG war ohne Angabe von Gründen lediglich ausgeführt, der Beschwerdeführer sei vollziehbar ausreisepflichtig. Der die Grundlage der Ausreisepflicht bildende Bescheid vom 7. Oktober 2009 sowie Zeitpunkt, Art und Weise seiner Bekanntgabe waren nicht bezeichnet. Diese Informationen ergaben sich auch nicht aus dem dem Amtsgericht zugleich übersandten Antrag auf Anordnung von Abschiebungshaft. Aus diesem ging lediglich hervor, dass der Asylantrag des Beschwerdeführers mit Bescheid vom 5. März 2008 als unzulässig zurückgewiesen worden war; nicht genannt war hingegen der Bescheid vom 7. Oktober 2009, aus dem eine Ausreisepflicht des Beschwerdeführers allenfalls folgte. Dieser Begründungsmangel hat den Bundesgerichtshof bewogen, festzustellen, dass die Anordnung der Zurückschiebungshaft und deren Bestätigung den Beschwerdeführer in seinen Rechten verletzt haben (BGH, Beschluss vom 22. Juli 2010 – V ZB 28/10 –, juris). Dass die Ausländerbehörde ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 427 Abs. 1 FamFG auch den Bescheid vom 7. Oktober 2009 beigefügt hat, ersetzt dessen Inbezugnahme im Antrag nicht. Nur durch eine ausdrückliche Nennung des Bescheides ist hinreichend gewährleistet, dass erkennbar ist, auf welche konkreten Grundlagen die Behörde ihren Antrag stützt, und dass die Übermittlung des Antrages an den Betroffenen dessen Recht auf rechtliches Gehör wahrt (vgl. BGH, a.a.O., Rn. 12). Vor allem aber ergibt sich weder aus dem Bescheid noch aus den anderen dem Amtsgericht vorgelegten Unterlagen, ob und in welcher Form eine Bekanntgabe an den Beschwerdeführer erfolgt ist. So fehlen Dokumente wie etwa eine Zustellungsurkunde oder ein Vermerk über die Anschrift, unter der die Zustellung erfolgt oder versucht worden ist.
Gegen eine wirksame Bekanntgabe spricht vor diesem Hintergrund der Hinweis in dem Antrag auf Anordnung der vorläufigen Freiheitsentziehung, der Beschwerdeführer habe sich seiner für den 8. Oktober 2009 geplanten Abschiebung in die Slowakische Republik entzogen und sei seitdem unbekannten Aufenthalts gewesen. Die Annahme einer wirksamen Zustellung bei unbekanntem Aufenthalt hätte zumindest näherer Erläuterung bedurft. Zweifel an einer Ausreisepflicht ergaben sich schließlich auch aus dem Vermerk des Bundesamts vom 3. November 2009, welcher dem Amtsgericht zum Zeitpunkt der einstweiligen Haftanordnung vorlag. Danach ging das Bundesamt davon aus, dass der Bescheid über die Ablehnung des Asylantrages vom 7. Oktober 2009 dem Beschwerdeführer am 12. Oktober 2009 zugestellt worden sei oder als an diesem Datum zugestellt gelte. Damit blieb offen, ob das Bundesamt von einer Zustellung oder einer Zustellungsfiktion ausging und aufgrund welcher Tatsachen es zu seiner Annahme gelangte. Anhaltspunkte für die Klärung dieser Fragen lassen sich den dem Amtsgericht vorgelegten Dokumenten nicht entnehmen.
bb) Daher hätte Anlass zur Klärung der Frage der Ausreisepflicht bestanden. Nachforschungen hierzu hat das Amtsgericht jedoch nicht vorgenommen. Die zuständige Richterin verfügte lediglich die Anordnung der einstweiligen Freiheitsentziehung. Dabei geht aus dem verwendeten Textvordruck hervor, dass (allein) aufgrund des gestellten Haftantrages von einer Ausreisepflicht ausgegangen wurde. Das Amtsgericht ist damit nicht im Ansatz seiner verfassungsmäßigen Verpflichtung nachgekommen, eigenverantwortlich zu prüfen, ob eine Ausreisepflicht des Beschwerdeführers bestand.
Eine Prüfung war auch nicht deshalb entbehrlich, weil es sich um eine eilbedürftige Entscheidung über eine vorläufige Freiheitsentziehung handelte. Angesichts des zwischen dem Antrag der Ausländerbehörde vom 25. November 2009 und der erst für den 30. November 2009 angekündigten Rückführung aus den Niederlanden liegenden Zeitraums von mehreren Tagen wäre es dem Amtsgericht ohne Weiteres möglich gewesen, durch Beiziehung der Akten der Ausländerbehörde und des Bundesamts oder durch telefonische Rückfrage bei den Behörden eigenständig nachzuprüfen, ob und auf welcher Grundlage von einer vollziehbaren Ausreisepflicht des Beschwerdeführers ausgegangen werden konnte.
cc) Da bereits das Unterlassen von Nachforschungen trotz ersichtlich unzureichender Entscheidungsgrundlage einen Verstoß gegen die verfahrensrechtlichen Sicherungen des Freiheitsgrundrechts darstellt, kann dahinstehen, ob eine Ausreisepflicht tatsächlich bestand. Ein Verstoß gegen Verfahrens- oder Formvorschriften wäre auch dann nicht unbeachtlich, wenn die materiellen Haftvoraussetzungen erfüllt wären. Eine solche hypothetische Betrachtungsweise widerspräche dem Gesetzesvorbehalt des Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 18. Dezember 2008 – 2 BvR 1438/07 –, juris, Rn. 13).
dd) Der Verfassungsverstoß entfällt schließlich auch nicht deshalb, weil die Ausländerbehörde den Beschwerdeführer nach § 62 Abs. 4 AufenthG in der bis zum 25. November 2011 geltenden Fassung möglicherweise auch ohne vorherige richterliche Anordnung hätte festhalten und vorläufig in Gewahrsam nehmen können. Die Behörde hat nicht diese Vorgehensweise gewählt, sondern sich dafür entschieden, einen Antrag nach § 427 Abs. 1 FamFG zu stellen. Um den verfassungsrechtlichen Anforderungen zu genügen, muss der Eingriff den Voraussetzungen der konkret gewählten Rechtsgrundlage entsprechen.
b) Auch der Beschluss des Landgerichts genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine eigenverantwortliche richterliche Sachprüfung nicht, ohne dass es darauf ankommt, ob in dem keiner Eilbedürftigkeit mehr unterliegenden landgerichtlichen Feststellungsverfahren erleichterte Anforderungen an die Sachverhaltsfeststellung zur Geltung kommen. Das Landgericht stellte darauf ab, dass dem Amtsgericht der Bescheid des Bundesamts vorgelegen habe, aus dem sich die Ausreisepflicht des Beschwerdeführers ergeben habe. Den Bescheid erachtete das Landgericht ohne weitere Nachprüfung als bestandskräftig, wobei es auf die Abschlussmitteilung des Bundesamts abhob, aus der sich eine Zustellungsfiktion ergebe. Damit überging das Landgericht, dass aus der Mitteilung des Bundesamts bereits nicht eindeutig hervorgeht, ob der Bescheid zugestellt worden oder ob das Bundesamt von einer Zustellungsfiktion ausgegangen ist. Den sich hieraus ergebenden Zweifeln ist das Landgericht nicht weiter nachgegangen. Der Hinweis auf das Erfordernis einer nur summarischen Prüfung, die „keine Zweifel an einer wirksamen Zustellung gemäß § 10 AsylVfG” ergebe, genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. Angesichts der Möglichkeit einer eigenen Tatsachenfeststellung anhand der Ausländerakte und der Asylakte oder einer fernmündlichen Rückfrage bei den Behörden und einer darauf basierenden eigenen Prüfung durfte sich das Landgericht nicht darauf beschränken, die – zumal mehrdeutige und nicht begründete – Annahme des Bundesamts zu übernehmen. Vielmehr hätte es, sofern es von einer Zustellungsfiktion ausgehen wollte, deren in § 10 AsylVfG näher geregelte Voraussetzungen erörtern und deren Vorliegen aufklären müssen.
C.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Gerhardt, Hermanns, Müller
Fundstellen