Verfahrensgang
OLG Celle (Aktenzeichen 21 UF 88/98) |
Tenor
Soweit eine abschließende Entscheidung des Oberlandesgerichts Celle im Verfahren 21 UF 88/98 die Übergabe der Kinder T. an die Mutter aussprechen sollte, wird deren Vollstreckung bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in einem Verfassungsbeschwerdeverfahren in dieser Sache, längstens bis zwei Wochen nach Zugang der vollständig abgefaßten Gründe der abschließenden Entscheidung des Oberlandesgerichts Celle, insoweit ausgesetzt, als sie eine Rückführung der Kinder nach Frankreich ermöglicht.
Tatbestand
I.
1. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat mit seiner Entscheidung vom 29. Oktober 1998 (2 BvR 1206/98, EuGRZ 1998, S. 612) die Rückführung der beiden Kinder T. nach Frankreich auf der Grundlage des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (BGBl II 1990, S. 206) davon abhängig gemacht, daß bei gegenläufigen Rückführungsanträgen das Kindeswohl besonders geprüft wird. Die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts wurde aufgehoben und die Sache an dieses Gericht zurückverwiesen.
Das Oberlandesgericht hatte für den 5. Februar 1999 Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt. Der Antragsteller, der Vater der beiden Kinder, meldete diese krank und erschien nicht zum Termin. Mit Beschluß vom 5. Februar 1999 entzog das Oberlandesgericht ihm das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die beiden Kinder und übertrug es dem Kreisjugendamt Diepholz. Dieses entschied, daß die Kinder bis auf weiteres beim Vater verbleiben.
Das Oberlandesgericht hat für den 12. März 1999 erneut Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumt und das persönliche Erscheinen beider Eltern und der Kinder angeordnet.
2. Mit Schriftsatz vom 10. März 1999 beantragt der Vater der Kinder:
- Soweit eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Celle die Übergabe der Kinder T. an die Antragstellerin des Ausgangsverfahrens und damit die Verbringung der Kinder aus dem Geltungsbereich des Grundgesetzes ermöglicht, wird zur Durchsetzung der Bindungswirkung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Oktober 1998 – 2 BvR 1206/98 insoweit die Vollstreckung bis zur Entscheidung über die vom Antragsteller nach Ergehen der Entscheidung des Oberlandesgerichts Celle unverzüglich zu erhebende Verfassungsbeschwerde untersagt.
- Die Kinder T. dürfen für die Dauer der einstweiligen Anordnung nicht gegen den Willen des Antragstellers an die Antragstellerin des Ausgangsverfahrens herausgegeben werden.
Es bestehe ein qualifiziertes Rechtsschutzbedürfnis für vorbeugenden Rechtsschutz. Es drohe eine unmittelbar vollstreckbare Entscheidung des Oberlandesgerichts mit sofortiger Übergabe der Kinder an die Mutter, die sie umgehend nach Frankreich bringen werde. Dem Antragsteller werde durch eine Übergabe der Kinder unmittelbar im Anschluß an die Entscheidung des Oberlandesgerichts die Möglichkeit genommen, Verfassungsbeschwerde einzulegen oder auch nur einstweiligen Rechtsschutz gegen die Rückführung zu erlangen.
Entscheidungsgründe
II.
Der Antrag ist jedenfalls in dem aus dem Entscheidungsausspruch ersichtlichen Umfang zulässig und begründet.
1. Nach den ihm durch Verfassung und Gesetz zugewiesenen Funktionen und seiner gesamten Organisation ist das Bundesverfassungsgericht weder dazu berufen noch in der Lage, einen in gleichem Maße zeit- und sachnahen vorläufigen Individualrechtsschutz zu gewährleisten wie die Fachgerichtsbarkeit. Der ihm übertragene Grundrechtsschutz setzt die Existenz einer die Grundrechte achtenden und schützenden Fachgerichtsbarkeit voraus, die dafür sorgt, daß Grundrechtsverletzungen und deren Folgen ohne Anrufung des Bundesverfassungsgerichts abgeholfen wird.
Anders als der von Art. 19 Abs. 4 GG geprägte vorläufige Rechtsschutz im fachgerichtlichen Verfahren ist das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 32 BVerfGG nicht darauf angelegt, möglichst lückenlosen Schutz vor dem Eintritt auch endgültiger Folgen der sofortigen Vollziehung hoheitlicher Maßnahmen zu bieten (vgl. BVerfGE 94, 166 ≪215 f.≫).
2. Das Bundesverfassungsgericht berücksichtigt im Rahmen der Folgenabwägung nach § 32 BVerfGG (vgl. BVerfGE 94, 334 ≪347≫), daß Rückführungsentscheidungen nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen – HKiEntÜ – in Deutschland in der Regel nicht von der Verwaltung vollzogen, sondern unmittelbar von den Familiengerichten angeordnet werden. Deshalb bedarf es – anders als in asylrechtlichen Verfahren – nach der abschließenden Entscheidung des Oberlandesgerichts keiner Vollzugshandlungen der Verwaltung mehr. Die Anordnungen des Oberlandesgerichts sind sofort vollstreckbar. Diese Besonderheit des Rückführungsverfahrens in Deutschland kann es ausnahmsweise rechtfertigen, daß das Bundesverfassungsgericht vorbeugenden Rechtsschutz gegen eine noch nicht ergangene fachgerichtliche Entscheidung gewährt, um eine Entscheidung in den angekündigten Verfassungsbeschwerdeverfahren zu ermöglichen.
3. Ein solcher Ausnahmefall ist vorliegend gegeben. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluß vom 29. Oktober 1998 aus der verfassungsrechtlichen Verankerung des Kindeswohls Anforderungen an die Prüfung von Art. 13 Abs. 1 Buchst. b) HKiEntÜ gestellt. Sollte das Oberlandesgericht am 12. März 1999 eine unmittelbar vollstreckbare Entscheidung treffen, so würde dem Antragsteller die Möglichkeit genommen, hiergegen effectiven verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz zu suchen. Haben die Kinder das deutsche Hoheitsgebiet verlassen, können die Wirkungen der Entscheidung des Oberlandesgerichts nicht mehr rückgängig gemacht werden.
4. Die einstweilige Anordnung greift nicht in unverhältnismäßiger Weise in das fachgerichtliche Verfahren ein. Durch die Anordnung, die Vollstreckung der getroffenen Entscheidung für zwei Wochen auszusetzen, wird weder die Entscheidung des Oberlandesgerichts materiell vorbestimmt noch wird die Vollstreckung ausgeschlossen. Es bleibt dem Oberlandesgericht unbenommen, eine Vollstreckungsanordnung zu wählen, die sicherstellt, daß – sollte dies der Inhalt der Entscheidung sein – die Kinder an die Mutter herausgegeben werden, gleichwohl aber zunächst eine Ausreise nach Frankreich unterbleibt.
5. Wegen der besonderen Dringlichkeit, die sich aus der drohenden unmittelbaren Vollstreckung der Entscheidung des Oberlandesgerichts ergibt, ergeht diese einstweilige Anordnung ohne vorherige Gelegenheit zur Stellungnahme (§ 32 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG).
Unterschriften
Limbach, Kirchhof, Jentsch
Fundstellen
Haufe-Index 1134560 |
NJW 1999, 2174 |
EuGRZ 1999, 174 |
FamRZ 1999, 642 |
NVwZ 1999, 980 |
IPRax 2000, 223 |