Beteiligte
Rechtsanwalt Uwe Bartscher |
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches OLG (Zwischenurteil vom 21.01.1999; Aktenzeichen 2 HEs 80/98) |
Tenor
1. Der Beschluß des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts vom 21. Januar 1999 - 2 HEs 80/98 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Kiel zurückverwiesen.
2. Damit erledigt sich der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung.
3. Das Land Schleswig-Holstein hat dem Beschwerdeführer die im Verfassungsbeschwerde-Verfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft (§§ 121, 122 StPO).
A.-I.
1. Der Beschwerdeführer befindet sich seit dem 23. März 1998 ununterbrochen in Untersuchungshaft. Ihm werden insbesondere mehrere Straftaten des Betrugs zur Last gelegt. Am 27. Juli 1998 wurde eine Anklage zum Landgericht Kiel erhoben, die insgesamt 44 Anklagepunkte umfaßte. Wegen weiterer fünf Taten wurde am 22. September 1998 Anklage erhoben. Beide Anklagen ließ das Landgericht mit Beschluß vom 11. Januar 1999 zur Hauptverhandlung zu. Ab dem 16. Februar 1999 findet die Hauptverhandlung gegen den Beschwerdeführer statt, die bisher auf 15 Hauptverhandlungstage terminiert ist.
Am 11. Dezember 1998 beschloß das Präsidium des Landgerichts Kiel eine Änderung der Geschäftsverteilung. Danach traten zum 1. Januar 1999 statt der bisherigen Beisitzer drei neue Richter in die für das Verfahren gegen den Beschwerdeführer zuständige VII. Große Strafkammer ein. Ab Februar 1999 fand auch ein Wechsel im Vorsitz der Strafkammer statt; ein bereits im Januar der Kammer zusätzlich mit der Hälfte seiner Arbeitskraft zugewiesener Richter löste den bisherigen Vorsitzenden ab, der auch aus der Kammer ausschied.
2. Das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht ordnete im Verfahren der zweiten besonderen Haftprüfung gemäß §§ 121 f. StPO mit dem angefochtenen Beschluß die Fortdauer der Untersuchungshaft an. Der zunächst beabsichtigte Beginn der Hauptverhandlung am 15. Dezember 1998 habe sich wegen langer Verhandlungsdauer anderer, bei der Strafkammer anhängiger Strafsachen sowie wegen Änderungen in der Besetzung der Strafkammer nicht verwirklichen lassen. Die Strafkammer bereite inzwischen in der neuen Besetzung die Hauptverhandlung vor, deren Beginn nunmehr für den 16. Februar 1999 abgesprochen worden sei. Unter dem Blickwinkel der Verfahrensförderung falle insoweit insbesondere ins Gewicht, daß gerade im Hinblick auf die vorliegende, sehr umfangreiche und schwierige Haftsache der ab 1. Februar 1999 vorgesehene neue Strafkammervorsitzende bereits ab 1. Januar 1999 zur Hälfte seiner Arbeitskraft der Kammer zugewiesen worden sei. Entgegen der Bewertung der Verteidigung rechtfertige im übrigen der Umstand, daß es im Dezember 1998 nicht mehr zu einem Verhandlungsbeginn gekommen sei, keinesfalls die Annahme einer unzureichenden Verfahrensförderung für den vorangegangenen Zeitraum. Die von der Verteidigung im übrigen angeführte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (NStZ 1994, S. 93) betreffe eine hier nicht gegebene Fallgestaltung. Vorliegend handele es sich im Ergebnis um einen Wechsel der Strafkammerbesetzung insgesamt.
II.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seines Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Die Auffassung des Strafsenats, der Wechsel der Strafkammerbesetzung insgesamt könne bei der Beurteilung des wichtigen Grundes zur Rechtfertigung der Haftfortdauer herangezogen werden, beruhe auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von Bedeutung und Tragweite des Grundrechts der persönlichen Freiheit. Die neue Besetzung der Strafkammer bedeute in letzter Konsequenz, daß die Tätigkeit der Berichterstatterin und des Vorsitzenden im Zeitraum ab Anklageerhebung bis Ende 1998 ohne jegliche Bedeutung für die Verfahrensförderung geblieben seien. Damit entfielen von der bisherigen Dauer der Untersuchungshaft von nunmehr zehn Monaten fünfeinhalb Monate auf einen Zeitraum ohne jegliche Verfahrensförderung. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts verletze das in Haftsachen geltende verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot auch unter einem weiteren Gesichtspunkt. Während in der „alten Kammerbesetzung” über die Zulassung der Anklage über einen Zeitraum von fünfeinhalb Monaten nicht entschieden worden sei, habe die Kammer in (teilweiser) Neubesetzung für diese Entscheidung sechs Werktage benötigt. Schließlich sei eine Verletzung des Beschleunigungsgebots auch darin zu sehen, daß das Landgericht das Verfahren im August 1998 nicht auf die eingerichtete Hilfsstrafkammer übertragen habe.
III.
Das Justizministerium des Landes Schleswig-Holstein hat von einer Stellungnahme abgesehen.
Entscheidungsgründe
B.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchst. b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet im Sinne des § 93c Abs. 1 BVerfGG.
I.
1. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG garantiert die Freiheit der Person. In diesem Freiheitsgrundrecht ist das in Haftsachen geltende verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot angelegt (vgl. BVerfGE 46, 194 ≪195≫ m.w.N.). Das Bundesverfassungsgericht hat deshalb in ständiger Rechtsprechung betont, daß der Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Beschuldigten den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und zweckmäßigen Freiheitsbeschränkungen ständig als Korrektiv entgegenzuhalten ist (vgl. BVerfGE 19, 342 ≪347≫; 20, 45 ≪49 f.≫) und sich sein Gewicht gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößern kann (vgl. BVerfGE 36, 264 ≪270≫) und regelmäßig vergrößern wird (vgl. BVerfGE 53, 152 ≪158 f.≫). Die Strafverfolgungsbehörden und die Gerichte müssen alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die Ermittlungen zügig abzuschließen und eine Entscheidung über den Anklagevorwurf herbeizuführen (vgl. BVerfGE 20, 45 ≪50≫; 36, 264 ≪273≫). Die Vorschrift des § 121 Abs. 1 StPO läßt nur in begrenztem Umfang eine Fortdauer der Untersuchungshaft zu und ist eng auszulegen (vgl. BVerfGE 20, 45 ≪50≫; 36, 264 ≪270 f.≫). Beruht eine erhebliche Verzögerung des Beginns der Hauptverhandlung darauf, daß nicht alle personellen und sächlichen Mittel im Rahmen von organisatorischen Maßnahmen ausgeschöpft wurden, ist der weitere Haftvollzug nach Ablauf der für die Vorbereitung der Verhandlung notwendigen Zeit schon aus diesem Grund verfassungswidrig (vgl. BVerfGE 36, 264 ≪272 f.≫). Die nicht nur kurzfristige Überlastung ist angesichts der wertsetzenden Bedeutung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG selbst dann kein „wichtiger Grund”, wenn die Belastung auf einem Geschäftsanfall beruht, der sich trotz Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischen Mittel und Möglichkeiten nicht mehr innerhalb angemessener Fristen bewältigen läßt (vgl. BVerfGE 36, 264 ≪273 ff.≫).
2. Die besonderen verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtfertigung einer langen Dauer der Untersuchungshaft gebieten es auch, daß das Oberlandesgericht sich bei der zu treffenden Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft mit deren Voraussetzungen auseinandersetzt und seine Entscheidung detailliert begründet, da es im Rahmen der besonderen Haftprüfung eine nur ihm vorbehaltene eigene Sachprüfung vornimmt und zugleich erst- und letztinstanzlich entscheidet (vgl. im einzelnen Beschluß der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 7. August 1998 - 2 BvR 962/98 -, Strafverteidiger 1999, S. 40).
II.
Diesen sich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ergebenden Anforderungen an eine nach § 121 Abs. 1 StPO zu treffende Entscheidung wird der angegriffene Beschluß des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts nicht gerecht.
1. Die nicht näher begründete Auffassung, der vollständige Wechsel in der Kammerbesetzung könne bei der Beurteilung des wichtigen Grundes im Sinne von § 121 Abs. 1 StPO herangezogen werden, beruht – abgesehen davon, daß der Wechsel ohnehin erst für den Zeitraum ab Januar 1999 Geltung beanspruchen könnte – auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von Bedeutung und Tragweite des Grundrechts der persönlichen Freiheit. Bereits die durch einen Berichterstatterwechsel eingetretene Verzögerung kann bei der Beurteilung des wichtigen Grundes nur dann berücksichtigt werden, wenn der Verzögerung nicht durch zumutbare Maßnahmen entgegengewirkt werden konnte (vgl. Beschluß der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Oktober 1993 - 2 BvR 1919/93 u.a. -, NStZ 1994, S. 93). Diese Grundsätze gelten erst recht, wenn ein Wechsel in der gesamten Kammerbesetzung stattfindet, da dies regelmäßig langfristig vorhersehbar ist. Neben dem Umstand, daß die Änderung in der Besetzung erst ab Januar 1999, somit bereits ca. fünf Monate nach Erhebung der ersten Anklage, eintrat, ist mangels näherer Begründung auch nicht ersichtlich, daß zu dem Zeitpunkt, an dem das Ausscheiden der Kammermitglieder jeweils feststand, nicht Vorsorge gegen Verfahrensverzögerungen – auch durch Übertragung der Berichterstattung auf den Vorsitzenden – hätte getroffen werden können.
2. Der Senat hat zur Begründung des „wichtigen Grundes” weiterhin auf die lange Verfahrensdauer anderer, in der Kammer anhängiger Strafsachen verwiesen. Die damit beschriebene, nicht nur kurzfristige Überlastung der Strafkammer ist aber – wie dargestellt – grundsätzlich kein „wichtiger Grund”. Zudem läßt sich dies mit der noch im Haftfortdauerbeschluß vom 13. Oktober 1998 vertretenen Auffassung, der von der Strafkammer vorgesehene Hauptverhandlungstermin (spätestens) Mitte Dezember 1998 sei „noch vertretbar”, nicht vereinbaren. Denn es erschließt sich im Rahmen der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung insbesondere nicht, aus welchen konkreten Gründen nunmehr eine Verzögerung selbst der Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens bis zum 11. Januar 1999 gerechtfertigt sein soll. Zudem war auch die Übertragung der Sache auf die neu gebildete Hilfsstrafkammer möglich und naheliegend, was der Strafsenat jedoch nicht erörtert hat. Die in dem früheren Beschluß vertretene Auffassung, die Übertragung auf die Hilfsstrafkammer hätte im Hinblick auf die erforderliche Vorlauf- und Vorbereitungszeit auch nicht zu einer früheren Hauptverhandlung führen können, bedurfte jedenfalls unter dem Gesichtspunkt der Vermeidbarkeit der im Beschluß vom 13. Oktober 1998 nicht absehbaren weiteren Verzögerung und des Verfahrensgangs einer aktuellen Erörterung. Zudem konnte die Kammer in überwiegender Neubesetzung nach wenigen Werktagen über die Eröffnung des Verfahrens entscheiden und Termin zur Hauptverhandlung ab Februar 1999 anberaumen, wodurch auch die Bewertung der Strafsache als „sehr umfangreich und schwierig” relativiert wird, zumal die Kammer in der Hauptverhandlung nur mit zwei Richtern und zwei Schöffen besetzt ist (§ 76 Abs. 2 GVG).
3. Indem das Oberlandesgericht den Gesichtspunkt der Vermeidbarkeit der erheblichen Verfahrensverzögerungen seit Anklageerhebung durch die Änderung in der Kammerbesetzung und die Belastung mit anderen Strafsachen nicht ausreichend prüft und dies sowie das Erfordernis der Ausnutzung aller personellen Mittel umfassend in seine Erwägung einstellt, verkennt es das Gewicht der im Rahmen einer Haftfortdauerentscheidung miteinander abzuwägenden gegenläufigen Interessen des Staates an einer wirksamen Strafverfolgung und des Freiheitsanspruchs des nicht vorbestraften Beschwerdeführers, der in Anbetracht der bisherigen Dauer der Untersuchungshaft von fast zehn Monaten zunehmend an Bedeutung gewinnt.
III.
Der angegriffene Beschluß des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts war gemäß §§ 93c Abs. 2, 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben. Da während der laufenden Hauptverhandlung keine besondere Haftprüfung durch das Oberlandesgericht stattfinden soll (vgl. § 121 Abs. 3 Satz 2 StPO), war die Sache an das für die Haftfrage derzeit gemäß § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO zuständige Landgericht Kiel zurückzuverweisen. Das Gericht wird nunmehr unverzüglich unter Beachtung der dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen und der sich zwischenzeitlich aufgrund des Verfahrensfortschritts seit der oberlandesgerichtlichen Entscheidung ergebenden Erkenntnisse – einschließlich des Wissens, das aus der zeitnah zum Eröffnungsbeschluß anberaumten Hauptverhandlung geschöpft wurde, – darüber zu entscheiden haben, ob die Voraussetzungen für eine Aufrechterhaltung des Vollzugs der Untersuchungshaft erfüllt sind. Im übrigen wird das Gericht im Falle einer Verurteilung die Verfahrensverzögerung durch Justizorgane und die mit dem länger andauernden Vollzug der Untersuchungshaft verbundene besondere Belastung im Rahmen der Strafzumessung zu berücksichtigen haben (vgl. Beschluß des Vorprüfungsausschusses des Bundesverfassungsgerichts vom 24. November 1983 - 2 BvR 121/83 -, NJW 1984, S. 967; Tröndle, StGB, 48. Aufl., 1997, Rn. 35 zu § 46).
IV.
Mit der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde wird der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos (vgl. BVerfGE 34, 293 ≪307≫).
V.
Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers im Verfassungsbeschwerde-Verfahren beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Limbach, Kirchhof, Jentsch
Fundstellen