Verfahrensgang
LG Duisburg (Beschluss vom 30.06.1995; Aktenzeichen III KLs 46 Js 1663/92) |
LG Duisburg (Beschluss vom 03.05.1993; Aktenzeichen III KLs 13/93) |
Tenor
1. Der Beschluß des Landgerichts Duisburg vom 30. Juni 1995 – III KLs 46 Js 1663/92 – verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Duisburg zurückverwiesen.
2. Das Land Nordrhein-Westfalen hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde beanstandet die Beschwerdeführerin die Versagung auf den Zeitpunkt der Antragstellung rückwirkender Prozeßkostenhilfebewilligung für eine Nebenklage.
I.
Die Beschwerdeführerin ist in einem Strafverfahren wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern Opfer. Mit Schriftsatz vom 24. Februar 1993 beantragte sie als Nebenklageberechtigte bei Gericht, ihr Prozeßkostenhilfe zu gewähren und einen Rechtsanwalt ihrer Wahl beizuordnen; diesem Antrag fügte sie die erforderlichen Unterlagen bei. Nachdem das Gericht Termin zur Hauptverhandlung auf den 31. März 1993 bestimmt hatte, wiederholte sie den Antrag am 16. März 1993 durch ihren Prozeßvertreter unter Hinweis auf den bevorstehenden Termin, ohne daß das Gericht darauf reagierte. In der Hauptverhandlung am 31. März 1993 wurde die als Zeugin geladene und mit ihrem Rechtsanwalt erschienene Beschwerdeführerin als Nebenklägerin zugelassen. Da jedoch weitere Beweiserhebungen erforderlich erschienen, wurden die Hauptverhandlung ausgesetzt und ein Beweisbeschluß erlassen. Am 2. April 1993 bat die Beschwerdeführerin durch ihren Rechtsanwalt erneut um Entscheidung über ihren Prozeßkostenhilfeantrag vom 24. Februar 1993. Mit Beschluß vom 3. Mai 1993 bewilligte das Gericht die Prozeßkostenhilfe und ordnete ihr den von ihr benannten Rechtsanwalt als Prozeßbeistand bei. In der Folgezeit tauchte der Angeklagte unter, so daß das Verfahren gegen ihn – nach einem weiteren Hauptverhandlungstermin am 27. August 1993 – vorläufig eingestellt wurde.
Am 20. Februar 1995 beantragte der Prozeßbeistand der Beschwerdeführerin den Ausgleich der Kosten. Das Gericht teilte ihm daraufhin mit, daß er für die Wahrnehmung des Termins am 31. März 1993 Gebühren nicht in Ansatz bringen könne, da der Prozeßkostenhilfebewilligung vom 3. Mai 1993 keine Rückwirkung zukomme.
Einen namens der Beschwerdeführerin gestellten Antrag, die Prozeßkostenhilfe rückwirkend zu bewilligen, lehnte das Landgericht mit Beschluß vom 30. Juni 1995 ab: Dem Interesse der Beschwerdeführerin als Nebenklägerin sei ausreichend Rechnung getragen. In keinem der bisherigen Hauptverhandlungstermine sei es zur Verhandlung der Sache gekommen; insbesondere sei schon der Termin am 31. März 1993 fruchtlos verlaufen, so daß die Beistandschaft des Rechtsanwalts überhaupt nicht zum Tragen gekommen sei. Unter diesen Umständen bestehe keine Veranlassung, der Beschwerdeführerin auch noch Prozeßkostenhilfe für den Verhandlungstermin vom 31. März 1993 zu gewähren; die Tätigkeit des Rechtsanwalts sei mit der Bewilligung für die späteren Verhandlungstage hinreichend abgegolten. Damit sei dem Interesse der Beschwerdeführerin ausreichend Rechnung getragen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung ihres Grundrechts aus Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG durch den Beschluß des Gerichts vom 3. Mai 1993 in der Fassung vom 30. Juni 1995. Das Landgericht habe es pflichtwidrig versäumt, rechtzeitig über ihren Prozeßkostenhilfeantrag zu entscheiden; die an sich mögliche Anordnung einer Rückwirkung der Bewilligung auf den Antragszeitpunkt habe das Gericht mit sachfremden und daher willkürlichen Erwägungen abgelehnt.
III.
Das Justizministerium von Nordrhein-Westfalen hat von der ihm gegebenen Möglichkeit zur Stellungnahme keinen Gebrauch gemacht.
IV.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde, die sich ihrem Inhalt nach allein gegen den Beschluß vom 30. Juni 1995 richtet, zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung von in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechten der Beschwerdeführerin angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Kammer ist zur Entscheidung in der Sache berufen, da die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet ist; die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage ist durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
1. Der angegriffene Beschluß verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) entspringenden Recht auf eine willkürfreie Entscheidung. Die Versagung der rückwirkenden Gewährung von Prozeßkostenhilfe ist mit der vom Gericht gegebenen Begründung nicht verständlich und unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar (vgl. BVerfGE 18, 85 ≪96≫; 87, 273 ≪278≫; 89, 1 ≪13 f.≫).
a) Der Gesetzgeber hat u.a. Opfer von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung mit dem Recht, als Nebenkläger aufzutreten (§ 395 StPO), auf anwaltlichen Beistand (§ 397 StPO) und auf Prozeßkostenhilfe (§ 397 a StPO) ausgestattet.
Als Voraussetzung für die Gewährung von Prozeßkostenhilfe für die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts kommt hier insbesondere in Betracht, daß es dem Verletzten einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung nicht zuzumuten ist, seine Interessen selbst ausreichend wahrzunehmen. Dem entspricht das Bedürfnis, daß der anwaltliche Beistand in der Hauptverhandlung von Anfang an und in jedem Termin zu Gebote steht. Ist in einem solchen Fall ein entscheidungsreifer Antrag auf Prozeßkostenhilfe und Beiordnung eines Anwalts rechtzeitig gestellt, aber erst zu einem späteren Zeitpunkt – nach einem bereits abgehaltenen Termin zur Hauptverhandlung – verbeschieden worden, so ist es nicht nachvollziehbar, die rückwirkende Gewährung von Prozeßkostenhilfe mit der Begründung zu versagen, im vorausliegenden fruchtlos verlaufenen Termin sei die Beistandspflicht des Rechtsanwalts nicht zum Tragen gekommen. Damit würde dem Opfer ein Risiko übertragen, das dem Sinn der gesetzlichen Regelung strikt zuwiderläuft.
b) Die Entscheidung des Landgerichts, die rückwirkende Gewährung von Prozeßkostenhilfe unter Hinweis auf die Ergebnislosigkeit des Termins vom 31. März 1993 zu versagen, wird unter keinem denkbaren Gesichtspunkt dem vom Gesetz verfolgten Zweck und den Interessen der Beschwerdeführerin gerecht. Sie verstößt gegen das Willkürverbot. Gemäß §§ 93c Abs. 2, 95 Abs. 2 BVerfGG ist der angegriffene Beschluß aufzuheben und ist die Sache an das Landgericht zurückzuverweisen.
2. Die Entscheidung zur Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Sommer, Jentsch, Hassemer
Fundstellen