Verfahrensgang
LG Hannover (Beschluss vom 05.06.2008; Aktenzeichen 208 BRs 8/04) |
AG Hannover (Beschluss vom 21.05.2008; Aktenzeichen 208 BRs 8/04) |
Tenor
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwalt L… wird abgelehnt.
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen den Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung gemäß § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB.
I.
Der Beschwerdeführer wurde im April 2004 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu einer Geldstrafe verurteilt. Im Mai 2004 wurde er wegen unerlaubten Handeltreibens mit Heroin in 71 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Es folgte eine Verurteilung wegen unerlaubten Handeltreibens mit Arzneimitteln zu einer Geldstrafe, weil der Beschwerdeführer im Bereich einer Gaststätte einem Gast Tabletten zum Kauf angeboten hatte.
Während der Bewährungszeit führte der Beschwerdeführer in derselben Gaststätte erneut Tabletten bei sich und trat in Kontakt mit Gästen. Er räumte ein Handeltreiben gegenüber der Polizei zunächst ein. Später widerrief er sein Geständnis, da es unter dem Eindruck des Entzugs abgegeben worden sei. Das Amtsgericht Hannover verurteilte den Beschwerdeführer am 20. März 2008 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Arzneimitteln zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten ohne Bewährung. Dabei stützte es sich unter anderem auf Zeugenaussagen der ermittelnden Polizeibeamten, die das Geschehen über eine Videokamera beobachtet hatten.
Mit Beschluss vom 21. Mai 2008 widerrief das Amtsgericht Hannover die Strafaussetzung zur Bewährung gemäß § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB. Der Beschwerdeführer erhob sofortige Beschwerde mit der Begründung, das Urteil vom 20. März 2008 sei noch nicht rechtskräftig. Das Landgericht Hannover verwarf die sofortige Beschwerde. Eine rechtskräftige Verurteilung sei für den Bewährungswiderruf nicht erforderlich. Das Urteil vom 20. März 2008 enthalte eine ausführliche und überzeugende Beweiswürdigung. Der Beschwerdeführer habe den Tatvorwurf bei seiner polizeilichen Vernehmung auch eingeräumt. Dass und weshalb seine spätere Einlassung, er habe keine Tabletten verkauft, durch die Beweisaufnahme widerlegt sei, sei im Urteil eingehend dargelegt.
II.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK als mit Verfassungsrang ausgestattete Unschuldsvermutungsregelung und seines Grundrechts auf ein faires Verfahren.
Ein Bewährungswiderruf wegen des Begehens einer neuen Straftat setze eine rechtskräftige Verurteilung wegen der neuen Tat voraus. Voraussetzung sei nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zumindest eine eindeutig geklärte Beweis- oder Rechtslage, die nicht gegeben sei. Werde eine rechtskräftige Verurteilung nicht vorausgesetzt, könne allenfalls ein glaubhaftes Geständnis vor einem Richter Grundlage für einen Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung sein. Er habe lediglich gegenüber der Polizei ein Geständnis abgelegt und dieses noch vor der Verurteilung widerrufen.
Für das Verfahren hätte ihm ein Pflichtverteidiger beigeordnet werden müssen, weil für eine sachgemäße Verteidigung Akteneinsicht notwendig gewesen sei und er infolge des Widerrufs eine zweijährige Freiheitsstrafe zu verbüßen habe.
III.
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil ein Annahmegrund gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht gegeben ist. Ihr kommt grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung nicht zu. Ihre Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten des Beschwerdeführers angezeigt.
1. Soweit der Beschwerdeführer rügt, ihm sei für das Verfahren über den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung ein Pflichtverteidiger beizuordnen gewesen, ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig. Der Rechtsweg wurde nicht erschöpft (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). Der Beschwerdeführer hat keine einen Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers ablehnende Entscheidung vorgelegt. Gegen eine solche Ablehnung hätte er zudem zunächst mit dem Rechtsmittel der Beschwerde gemäß § 304 Abs. 1 StPO vorgehen müssen (vgl. Meyer/Goßner, StPO, 51. Aufl. 2008, § 141 Rn. 10).
2. Die angegriffenen Entscheidungen sind von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden; sie verletzen insbesondere nicht den aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Grundsatz der Unschuldsvermutung.
Die Unschuldsvermutung ist eine besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips und schützt den Beschuldigten vor Nachteilen, die Schuldspruch oder Strafe gleichkommen, denen aber kein rechtsstaatliches, prozessordnungsgemäßes Verfahren zur Schuldfeststellung und Strafbemessung vorausgegangen ist (vgl. BVerfGE 19, 342 ≪347 f.≫; 35, 311 ≪320≫; 74, 358 ≪369 ff.≫; 82, 106 ≪118 ff.≫; 110, 1 ≪22 f.≫). Zwar enthält die Unschuldsvermutung – wie auch das Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren – keine in allen Einzelheiten bestimmten Ge- und Verbote; ihre Auswirkungen auf das Verfahrensrecht bedürfen vielmehr der Konkretisierung je nach den sachlichen Gegebenheiten. Dies ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers (vgl. BVerfGE 74, 358 ≪372≫). Die Unschuldsvermutung fordert für den Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung gemäß § 56f Abs. 1 Nr. 1 StGB jedoch in der Regel, dass der Täter wegen einer neuen Straftat von einem Gericht jedenfalls in erster Instanz verurteilt worden ist.
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte liegt eine Verletzung der Unschuldsvermutung im Sinne von Art. 6 Abs. 2 EMRK vor, wenn ein Gericht in einem Verfahren über den Widerruf der Strafaussetzung ohne die Förmlichkeiten einer Hauptverhandlung zu der Überzeugung gelangt, dass der Verurteilte eine Straftat begangen habe, und darauf den Bewährungswiderruf stützt, obwohl gleichzeitig bei einem anderen Gericht das Hauptverfahren wegen dieses Tatvorwurfs noch anhängig ist (vgl. EGMR, Urteil vom 3. Oktober 2002 – 37568/97 – ≪Böhmer./.Deutschland≫, NJW 2004, S. 43 ff.). Wird die Strafaussetzung zur Bewährung wegen einer neuen Straftat widerrufen, die noch nicht rechtskräftig abgeurteilt worden ist, liegt darin nach Auffassung der Europäischen Kommission für Menschenrechte jedenfalls dann kein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung, wenn sich der Widerruf auf das bei der polizeilichen Vernehmung und der Vernehmung durch den zuständigen Richter abgegebene Schuldeingeständnis des Angeklagten stützt und im Zeitpunkt der Entscheidung das Geständnis nicht widerrufen war (EKMR, Entscheidung vom 9. Oktober 1991 – 15871/89 –, StV 1992, S. 282).
Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist von Verfassungs wegen der Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung wegen einer neuen Straftat jedenfalls dann ohne deren rechtskräftige Aburteilung zulässig und widerstreitet nicht der Unschuldsvermutung, wenn der Beschuldigte die neue Straftat glaubhaft gestanden hat (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Dezember 1989 – 2 BvR 1741/89 –, NStZ 1991, S. 30; BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Dezember 2004 – 2 BvR 2314/04 –, NStZ 2005, S. 204, und vom 23. April 2008 – 2 BvR 572/08 –, nicht veröffentlicht). Für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit eines Geständnisses kann im Einzelfall entscheidend sein, ob der Betroffene in der Folgezeit an seinem Geständnis weiter festgehalten hat (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 2. April 2007 – 2 BvR 415/07 –, nicht veröffentlicht).
Fehlt es an besonderen Umständen dieser Art, die ein Absehen vom regelmäßigen Erfordernis einer Verurteilung wegen der neuen Straftat rechtfertigen, und liegt im Zeitpunkt der Widerrufsentscheidung eine solche Verurteilung durch das zuständige Gericht vor, so wird von Teilen der Rechtsprechung und Literatur angenommen, dass diese Verurteilung rechtskräftig sein muss, bevor ein Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung ergehen kann (vgl. Thüringer OLG, Beschluss vom 26. März 2003 – 1 Ws 100/03 –, StV 2003, S. 574; OLG Celle, Beschluss vom 23. Juli 2003 – 1 Ws 250/03 –, StV 2003, S. 575; OLG Stuttgart, Beschluss vom 2. Juli 2004 – 4 Ws 180/04 –, NJW 2005, S. 83; Kühl, StGB, Kommentar, 26. Aufl. 2007, § 56f Rn. 3; zustimmend bis auf Ausnahmefälle: OLG Hamm, Beschluss vom 17. Oktober 2003 – 2 Ws 243/03, 2 Ws 244/03 –, StV 2004, S. 83; a.A. OLG Hamburg, Beschluss vom 29. September 2003 – 1 VAs 7/03 –, NJW 2003, S. 3574; LG Kiel, Beschluss vom 11. März 2003 – X KLs (4/00) –, Juris; Fischer, StGB, Kommentar, 55. Aufl. 2008, § 56f Rn. 6; Hubrach, in: Leipziger Kommentar StGB, 12. Aufl. 2006, § 56f Rn. 9).
Es kann dahinstehen, wie das widerrufene Geständnis des Beschwerdeführers zu bewerten ist. Ist der Täter wegen einer neuen Straftat durch das erkennende Gericht unter Beachtung der Förmlichkeiten einer Hauptverhandlung verurteilt worden, gebietet das Verfassungsrecht jedenfalls dann nicht, dass diese Verurteilung rechtskräftig ist, wenn das erkennende Gericht – wie hier – eine umfangreiche Beweisaufnahme und Beweiswürdigung vorgenommen hat, seine darauf gestützte Entscheidung sachfremde Erwägungen und damit objektive Willkür nicht erkennen lässt und der Beschwerdeführer Anhaltspunkte hierfür auch nicht aufzeigt.
Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Osterloh, Mellinghoff, Gerhardt
Fundstellen