Verfahrensgang
OLG Oldenburg (Oldenburg) (Beschluss vom 20.02.2009; Aktenzeichen 14 WF 42/09) |
AG Jever (Beschluss vom 29.10.2008; Aktenzeichen 3 F 510/07 S) |
Tenor
1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 20. Februar 2009 – 14 WF 42/09 – und der Beschluss des Amtsgerichts Jever vom 29. Oktober 2008 – 3 F 510/07 S – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Beschlüsse werden aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Jever zurückverwiesen.
2. Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Streitwertfestsetzung in einem Ehescheidungsverfahren.
1. Der Beschwerdeführer ist Rechtsanwalt. In einem Ehescheidungsverfahren wurde er dem Ehemann, dem Prozesskostenhilfe mit monatlicher Ratenzahlung von 115 EUR gewährt wurde, als Prozessvertreter beigeordnet. Der Ehefrau wurde die Gewährung von Prozesskostenhilfe unter Hinweis auf deren nicht unerhebliche Einkünfte und vorhandenes Immobiliarvermögen – die Ehefrau ist Eigentümerin eines Einfamilienhauses und mehrerer Wohnungen – verweigert. Die Parteien des Scheidungsverfahrens, die Eltern zweier Kinder sind, verfügten zusammen über ein monatliches Nettoeinkommen von mindestens 3.350 EUR sowie über weitere monatliche Mieteinkünfte in Höhe von etwa 1.250 EUR.
2. Das Amtsgericht setzte den Geschäftswert für die – einverständliche – Ehescheidung ohne Begründung auf 3.000 EUR fest und half der hiergegen gerichteten Beschwerde des Beschwerdeführers „aus den Gründen des angefochtenen Beschlusses” nicht ab.
Das Oberlandesgericht wies die Beschwerde des Beschwerdeführers in der Folge mit der Begründung zurück, das Vorbringen des Beschwerdeführers rechtfertige keine abweichende Entscheidung; das Amtsgericht habe unter Berücksichtigung der im Beschluss des Oberlandesgerichts vom 26. Januar 2009 (14 WF 236/08 –, FamRZ 2009, S. 1173) genannten Kriterien „sein ihm gegebenes Ermessen nicht fehlerhaft ausgeübt”.
3. Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Bedeutung als Willkürverbot sowie die Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG.
Die angegriffenen Entscheidungen seien unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar und damit willkürlich. Sowohl der amtsgerichtlichen Streitwertfestsetzung als auch der diesbezüglichen Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichts fehle es an einer nachvollziehbaren Begründung. Während die Entscheidung des Amtsgerichts überhaupt keine Begründung aufweise, habe das Oberlandesgericht lediglich pauschal auf die in seinem Beschluss vom 26. Januar 2009 (14 WF 236/08) genannten Kriterien verwiesen. Ob und inwieweit die dort genannten Gesichtspunkte auch im vorliegenden – völlig anders gelagerten – Fall zum Tragen kämen und warum vorliegend die Festsetzung des Streitwerts auf weniger als ein Drittel des dreifachen monatlichen Nettoeinkommens angemessen sein könnte, habe das Oberlandesgericht nicht ausgeführt. Das Oberlandesgericht habe die konkreten Umstände des Einzelfalls überhaupt nicht berücksichtigt; angesichts der Dauer des Scheidungsverfahrens (einschließlich des Prozesskostenhilfeverfahrens) von insgesamt 11 Monaten, des vom Oberlandesgericht zugrunde gelegten monatlichen Nettoeinkommens in Höhe von mindestens 3.550 EUR und der zusätzlichen Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung, des erheblichen Vermögens der Ehefrau sowie der schon wegen der beiden Kinder der Parteien hohen Bedeutung des Scheidungsverfahrens sei die Festsetzung eines Streitwerts von nur 3.000 EUR nicht nachvollziehbar und damit willkürlich.
4. Das Niedersächsische Justizministerium, die Bundesrechtsanwaltskammer, der Deutsche Anwaltverein und die Parteien des Ausgangsverfahrens hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
Entscheidungsgründe
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 3 Abs. 1 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Entscheidung maßgeblichen Fragen bereits entschieden (vgl. BVerfGE 89, 1 ≪13 f.≫; 96, 189 ≪203≫). Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet.
1. Die fachgerichtliche Wertfestsetzung verletzt das aus Art. 3 Abs. 1 GG folgende Willkürverbot.
Objektiv willkürlich ist ein Richterspruch nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dann, wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht. Fehlerhafte Rechtsanwendung allein macht eine Gerichtsentscheidung jedoch nicht willkürlich. Willkür liegt vielmehr erst dann vor, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt, der Inhalt einer Norm in krasser Weise missverstanden oder sonst in nicht mehr nachvollziehbarer Weise angewendet wird (vgl. BVerfGE 89, 1 ≪13 f.≫; 96, 189 ≪203≫).
Daran gemessen ist Art. 3 Abs. 1 GG verletzt. Die angegriffenen Entscheidungen werden der – hier weiterhin maßgeblichen (vgl. § 63 Abs. 1 FamGKG) – gesetzlichen Regelung in § 48 Abs. 2 und 3 des Gerichtskostengesetzes in der Fassung vor Inkrafttreten des FGG-Reformgesetzes vom 17. Dezember 2008 (BGBl I S. 2586; im Folgenden: GKG a.F.) in keiner Weise gerecht und sind unter keinem denkbaren rechtlichen Aspekt vertretbar. Die Fachgerichte haben den Streitwert für die vom Beschwerdeführer auf Seiten des Antragstellers vertretene Scheidungssache auf einen mit 3.000 EUR nur knapp über dem gesetzlichen Mindestwert liegenden Streitwert festgesetzt, ohne die von § 48 Abs. 2 GKG a.F. geforderte einzelfallbezogene Abwägung der für die Streitwertbemessung maßgeblichen Umstände vorzunehmen und dabei die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Parteien des Scheidungsverfahrens zu berücksichtigen.
a) Die von den Fachgerichten gegebenen Begründungen machen die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Festsetzung des Streitwerts auf 3.000 EUR nicht nachvollziehbar. Tragfähige Erwägungen für diese Wertfestsetzung lassen sich weder dem Beschluss des Amtsgerichts noch der Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichts entnehmen.
Während der Beschluss des Amtsgerichts über die Streitwertfestsetzung ohne jede Begründung ergangen ist, erschöpft sich der nach Beschwerdeeinlegung ergangene Nichtabhilfebeschluss des Amtsgerichts in dem Hinweis auf angebliche – aber tatsächlich nicht vorhandene – Gründe der angefochtenen Entscheidung.
Das Oberlandesgericht stellt wiederum ohne tragfähige Begründung fest, dass das Amtsgericht den Streitwert unter fehlerfreier Ausübung seines Ermessens zutreffend auf 3.000 EUR festgesetzt habe. Der zur Begründung gegebene alleinige Verweis des Oberlandesgerichts auf seine Entscheidung vom 26. Januar 2009 (14 WF 236/08) betrifft zwar einen Fall mit vergleichbaren Einkommensverhältnissen der Eheleute, der Streitwert wurde indessen in mehr als doppelter Höhe auf 6.600 EUR festgesetzt. Schon deshalb vermag der pauschale Verweis auf diesen – auch im Übrigen grundlegend anders gelagerten – Fall weder zu erklären, dass das Amtsgericht sein Ermessen fehlerfrei ausgeübt habe, noch lässt sich der Bezugnahme auf die im zitierten Beschluss aufgeführten Gesichtspunkte eine nachvollziehbare und vertretbare eigene Begründung für die bestätigte Streitwertbemessung entnehmen. Die im Beschluss vom 26. Januar 2009 genannten Kriterien werden auf den vorliegenden Einzelfall nicht zur Anwendung gebracht, so dass eine Auseinandersetzung mit den Besonderheiten des konkreten Falles unterblieben ist.
b) Nachvollziehbare Gründe für die angegriffene Streitwertfestsetzung sind auch den Umständen nach nicht erkennbar.
Nach § 48 Abs. 2 Satz 1 GKG a.F. (jetzt § 43 Abs. 1 Satz 1 FamGKG) ist der Streitwert in nichtvermögensrechtlichen Angelegenheiten unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere des Umfangs und der Bedeutung der Sache und der Vermögens- und Einkommensverhältnisse der Parteien, nach Ermessen zu bestimmen; in Ehesachen ist dabei für die Einkommensverhältnisse das im Zeitraum von drei Monaten erzielte Nettoeinkommen der Eheleute einzusetzen (§ 48 Abs. 3 Satz 1 GKG a.F., jetzt § 43 Abs. 2 FamGKG) und ein Streitwert von mindestens 2.000 EUR zu bestimmen (§ 48 Abs. 3 Satz 2 GKG a.F., jetzt § 43 Abs. 1 Satz 2 FamGKG). Hiernach bestehen zwar keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen ein Abweichen vom einzusetzenden dreifachen Nettoeinkommen, wenn der Streitwert für eine einverständliche Scheidung (§ 630 a.F. der Zivilprozessordnung ≪ZPO≫) mit deswegen geringem Umfang festzusetzen ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 17. Dezember 2008 – 1 BvR 177/08 –, NJW 2009, S. 1197). Insbesondere ist es aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden, wenn unter Abwägung aller Umstände mit vertretbarer Begründung angenommen wird, dass eine Festsetzung des Streitwerts auf das dreifache monatliche Nettoeinkommen im konkreten Fall nicht berechtigt ist; der Streitwertbemessung darf es jedoch nicht an einer nachvollziehbaren Grundlage fehlen.
Hiernach sind die angegriffenen Entscheidungen unter keinem Gesichtspunkt vertretbar und damit objektiv willkürlich. Das Bundesverfassungsgericht hat unter anderem bereits in den Beschlüssen vom 24. Juli 2007 (1 BvR 1678/07), vom 11. Dezember 2007 (1 BvR 3032/07) und vom 17. Dezember 2008 (1 BvR 177/08, NJW 2009, S. 1197) deutlich gemacht, dass eine Festsetzung des Streitwerts auf den gesetzlichen Mindestwert oder – wie bei 3.000 EUR – nur knapp darüber bei einem deutlich höheren Dreimonatsnettoeinkommen der Eheleute verfassungsrechtlichen Bedenken begegnen kann. Im vorliegenden Fall beläuft sich nicht nur das in drei Monaten erzielte Nettoeinkommen der Eheleute auf über 13.000 EUR, es ist daneben auch Immobiliarvermögen der Ehefrau vorhanden, das nach § 48 Abs. 2 GKG a.F. ebenfalls zu berücksichtigen ist. Schon angesichts der 13-jährigen Dauer der Ehe und der gemeinsamen Kinder ist die Scheidungssache auch nicht von einer nur unerheblichen Bedeutung. Unter diesen Umständen ist die Festsetzung eines Streitwerts von lediglich 3.000 EUR auch in Anbetracht einer kurzen Verfahrensdauer und eines nur geringen Umfangs des Scheidungsverfahrens nicht nachvollziehbar und unter keinem denkbaren rechtlichen Aspekt vertretbar. Das Oberlandesgericht selbst hat in der von ihm in Bezug genommenen Entscheidung vom 26. Januar 2009 (14 WF 236/08) bei vergleichbaren Einkommensverhältnissen der Eheleute festgestellt, dass das Amtsgericht mit der Festsetzung des Streitwerts auf 6.600 EUR „sein Ermessen in jeder Hinsicht zutreffend” ausgeübt habe. Dabei war – im Unterschied zum vorliegenden Fall – weder „besonderes” Vermögen der Eheleute vorhanden noch waren aus der Ehe Kinder hervorgegangen; zudem war das gerichtliche Verfahren von kürzerer Dauer. Dies macht deutlich, dass die Fachgerichte zu dem vorliegend festgesetzten Streitwert nur deshalb gelangen konnten, weil sie den Einkommens- und Vermögensverhältnissen der Parteien des Scheidungsverfahrens entgegen der gesetzlichen Regelung in § 48 Abs. 2 und 3 GKG a.F., entgegen der eigenen Rechtsprechung des Oberlandesgerichts im Beschluss vom 26. Januar 2009 (14 WF 236/08) und entgegen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keinerlei Gewicht beigemessen haben.
2. Nachdem die angegriffenen Entscheidungen jedenfalls das Willkürverbot gemäß Art. 3 Abs. 1 GG verletzen, kann offen bleiben, ob auch die vom Beschwerdeführer erhobene Rüge zu Art. 12 Abs. 1 GG durchgreift.
3. Die Beschlüsse des Amtsgerichts und des Oberlandesgerichts sind hiernach gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben, ohne dass es noch auf die weiter erhobene Rüge ankommt. Die Sache selbst ist an das Amtsgericht zurückzuverweisen.
4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Hohmann-Dennhardt, Gaier, Kirchhof
Fundstellen