Verfahrensgang
Sächsisches LAG (Urteil vom 25.02.1993; Aktenzeichen 6 (4) Sa 60/92) |
Tenor
Die Urteile des Bundesarbeitsgerichts vom 27. April 1995 – 8 AZR 275/93 – und des Landesarbeitsgerichts Chemnitz vom 25. Februar 1993 – 6 (4) Sa 60/92 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 12 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 33 Absatz 2 des Grundgesetzes. Die Urteile des Bundesarbeitsgerichts und des Landesarbeitsgerichts werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Der Freistaat Sachsen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die ordentliche Kündigung eines Lehrers, der in der Deutschen Demokratischen Republik herausgehobene Funktionen in der Schulverwaltung und der SED-Parteileitung innehatte.
1. Der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands (EV), dem Bundestag und Bundesrat durch Gesetz vom 23. September 1990 zugestimmt haben (BGBl II S. 885), regelt unter anderem die Rechtsverhältnisse der Angehörigen des öffentlichen Dienstes im Beitrittsgebiet. Nach Art. 20 Abs. 1 in Verbindung mit Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 4 Nr. 1 EV (künftig: Abs. 4 Nr. 1 EV) ist die ordentliche Kündigung eines Arbeitsverhältnisses in der öffentlichen Verwaltung auch zulässig, wenn der Arbeitnehmer wegen mangelnder fachlicher oder persönlicher Eignung den Anforderungen nicht entspricht (zu Sinn und Zweck der Regelung vgl. BVerfGE 92, 140 ≪142, 151 f.≫).
2. a) Der Beschwerdeführer ist Lehrer für Deutsch und Englisch und war seit 1968 im Schuldienst der Deutschen Demokratischen Republik beschäftigt. Von 1980 bis 1983 war er Direktor der Ernst-Thälmann-Schule in Bautzen. 1983 wurde er zum Kreisschulinspektor ernannt. Daneben war er von 1984 bis 1986 Leitungsmitglied der Abteilungsparteiorganisation der SED. Er wurde nach einjährigem Besuch der Bezirksparteischule 1987 zum stellvertretenden Kreisschulrat ernannt. Dieses Amt nahm er bis zum 31. Juli 1990 wahr. Daneben war er von 1988 bis Dezember 1989 ehrenamtlicher Parteisekretär bei der Abteilung Volksbildung der SED. Seit 1. August 1990 unterrichtete er an der Albert-Einstein-Schule in Bautzen. Der Freistaat Sachsen kündigte das Arbeitsverhältnis des Beschwerdeführers wegen fehlender persönlicher Eignung im Sinne von Abs. 4 Nr. 1 EV zum 31. Dezember 1991.
b) Das Kreisgericht gab der Kündigungsschutzklage des Beschwerdeführers statt. Das Landesarbeitsgericht änderte das Urteil und wies die Klage ab. Der Beschwerdeführer habe über mehr als zehn Jahre staatliche Positionen und Parteifunktionen wahrgenommen, die eine besondere Identifikation mit den Vorstellungen und Zielen der SED erforderten. Es könne dahinstehen, ob bereits eine langjährige Tätigkeit als Direktor die Feststellung einer besonderen Identifikation mit dem SED-Staat rechtfertige. Jedenfalls seien in der Regel nur solchen Genossen, die sich in dieser Funktion bewährt hätten, die höherrangigen Funktionen eines Kreisschulinspektors und stellvertretenden Kreisschulrats übertragen worden. Hinzu komme, daß der Besuch der Bezirksparteischule einer gründlichen marxistisch-leninistischen Bildung sowie der Festigung des Klassenstandpunkts und der sozialistischen Denk- und Verhaltensweise gedient habe. Dadurch habe der Beschwerdeführer in die Lage versetzt werden sollen, gesellschaftliche Prozesse zu leiten. Hieraus leite sich die Berufung des Beschwerdeführers zum stellvertretenden Kreisschulrat her. Schließlich sei zu berücksichtigen, daß der Beschwerdeführer den Vorstellungen und Zielen der SED seit 1984 als Mitglied der Parteileitung und von 1988 bis Dezember 1989 sogar als ehrenamtlicher Parteisekretär gedient habe. Demgegenüber habe der Beschwerdeführer keine Umstände vorgetragen, die geeignet wären, seine sich aus den wahrgenommenen Positionen und Funktionen ergebende besondere Identifikation mit dem SED-Staat und die daraus zu folgernde Ungeeignetheit für den Lehrerberuf in der Bundesrepublik Deutschland zu entkräften.
Das Bundesarbeitsgericht wies die Revision des Beschwerdeführers zurück. Das Landesarbeitsgericht habe zutreffend erkannt, daß bereits die etwa vier Jahre währende Tätigkeit des Beschwerdeführers als Kreisschulinspektor Zweifel an seiner persönlichen Eignung begründeten. Damit komme es nicht mehr darauf an, ob eine besondere Identifikation mit dem SED-Staat auch dadurch indiziert werde, daß der Beschwerdeführer im Anschluß an die Tätigkeit als Kreisschulinspektor zum stellvertretenden Kreisschulrat befördert worden sei und dieses Amt bis August 1990 ausgeübt habe; ebenso bedürfe keiner Prüfung, ob die Indizwirkung auch aus den weiteren Tätigkeiten des Beschwerdeführers als Leitungsmitglied und als ehrenamtlicher Parteisekretär herzuleiten wäre. Zutreffend habe das Berufungsgericht ferner festgestellt, daß der bloße Hinweis des Beschwerdeführers, er habe sich bei seiner Amtsführung nichts zuschulden kommen lassen, als Entkräftung nicht genüge.
c) Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer unter anderem eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 33 Abs. 2 GG.
3. Zu der Verfassungsbeschwerde haben das Sächsische Staatsministerium der Justiz namens der Sächsischen Staatsregierung, der Vorsitzende des Achten Senats des Bundesarbeitsgerichts und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) Stellung genommen.
Das Sächsische Staatsministerium der Justiz trägt vor, das Urteil des Bundesarbeitsgerichts stehe zwar nicht vollständig im Einklang mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben. Auch eine diese berücksichtigende Abwägung führe aber zu keinem anderen Ergebnis. Der Beschwerdeführer habe seit 1980 zielgerichtet eine SED-Parteikarriere eingeschlagen. Seine langjährigen freiwillig übernommenen Funktionen als Direktor und Kreisschulinspektor seien nur ein Anzeichen für seine tiefe Verbundenheit mit dem SED-Staat. Erschwerend komme hinzu, daß er als stellvertretender Kreisschulrat eine herausgehobene Position mit politischem Einfluß im Herrschaftssystem der Deutschen Demokratischen Republik innegehabt habe. Seine Beförderung zum stellvertretenden Kreisschulrat lasse Rückschlüsse darauf zu, daß er bei seiner vorangegangenen Arbeit als Kreisschulinspektor die Interessen von Partei und Staat zur vollsten Zufriedenheit durchgesetzt habe. Daneben sei er für gewisse Zeit als Leitungsmitglied der Abteilungsorganisation der SED und als ehrenamtlicher Parteisekretär der Abteilung Volksbildung tätig gewesen. Diese Häufung von Funktionen im SED-Staat spreche ebenfalls für eine fehlende persönliche Eignung.
Entscheidungsgründe
II.
Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung der Berufsfreiheit des Beschwerdeführers aus Art. 12 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 33 Abs. 2 GG angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die angegriffenen Urteile verletzen den Beschwerdeführer in dem genannten Grundrecht. Die für diese Beurteilung maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
1. Art. 12 Abs. 1 GG schützt unter anderem die freie Wahl des Arbeitsplatzes. Diese umfaßt neben der Entscheidung für eine konkrete Beschäftigung auch den Willen des Einzelnen, den Arbeitsplatz beizubehalten. Das Grundrecht entfaltet seinen Schutz gegen alle staatlichen Maßnahmen, die diese Wahlfreiheit beschränken (vgl. dazu im einzelnen BVerfGE 84, 133 ≪146≫; 92, 140 ≪150≫). Soweit es um Arbeitsverhältnisse des öffentlichen Dienstes geht, trifft Art. 33 Abs. 2 GG eine ergänzende Regelung. Die angegriffenen Entscheidungen, die die Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Beschwerdeführers bestätigen, greifen in diese Rechte des Beschwerdeführers ein.
2. a) Die Arbeitsplatzwahl kann ebenso wie die anderen Gewährleistungen des Art. 12 Abs. 1 GG durch Gesetz beschränkt werden. Die Anforderungen hierfür sind höher als bei Regelungen der Berufsausübung. Gerechtfertigt ist eine Einschränkung jedenfalls dann, wenn zwingende Gründe des Gemeinwohls sie erfordern (vgl. BVerfGE 92, 140 ≪151 f.≫) und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet worden ist. Zu den Gemeinwohlgründen gehören insbesondere die Belange, denen Art. 33 Abs. 2 GG mit den Anforderungen an den Zugang zum öffentlichen Dienst Rechnung trägt. Diese gelten auch dann, wenn – wie hier – auf der Grundlage des Einigungsvertrages die Prüfung der Zugangsvoraussetzungen im Rahmen der Entscheidung über die Aufrechterhaltung eines Arbeitsverhältnisses nachgeholt wird (vgl. BVerfG, NZA 1997, S. 932 ≪933≫).
b) Der in Abs. 4 Nr. 1 EV enthaltene Sonderkündigungstatbestand, auf den die angegriffenen Entscheidungen gestützt sind, genügt diesen Anforderungen (vgl. BVerfGE 92, 140 ≪150 ff.≫).
3. a) Bei der Auslegung und Anwendung von arbeitsrechtlichen Kündigungsvorschriften im öffentlichen Dienst müssen die Gerichte allerdings den Schutz beachten, den Art. 12 Abs. 1 GG insofern gewährt. Steht zugleich die Eignung für den öffentlichen Dienst in Rede, tritt Art. 33 Abs. 2 GG ergänzend hinzu. Diese Rechte sind verletzt, wenn ihre Bedeutung und Tragweite bei der Auslegung und Anwendung der arbeitsrechtlichen Vorschriften grundsätzlich verkannt wird. Dagegen ist es nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts zu kontrollieren, wie die Gerichte den Schutz im einzelnen auf der Grundlage des einfachen Rechts gewähren und ob ihre Auslegung den bestmöglichen Schutz sichert (BVerfGE 92, 140 ≪152 f.≫).
b) Im Lichte der genannten Verfassungsnormen darf bei der Auslegung von Abs. 4 Nr. 1 EV die erkennbare Absicht des Einigungsvertrages nicht außer acht gelassen werden, die Mitarbeiter nicht abgewickelter Einrichtungen des öffentlichen Dienstes der Deutschen Demokratischen Republik weitgehend in den öffentlichen Dienst der Bundesrepublik Deutschland einzugliedern und ihre Arbeitsverhältnisse aufrechtzuerhalten, soweit nicht im Einzelfall Eignungsmängel im Sinne von Art. 33 Abs. 2 GG festgestellt werden. Da Beschäftigung und Fortkommen im öffentlichen Dienst der Deutschen Demokratischen Republik regelmäßig von einer gesteigerten Loyalität gegenüber Staat und Partei sowie der Bereitschaft zum Engagement in parteilichen und gesellschaftlichen Organisationen abhingen, können die damit verbundenen Positionen oder Funktionen für sich allein in der Regel eine Kündigung nicht rechtfertigen. Die persönliche Eignung des Mitarbeiters für eine Weiterbeschäftigung im öffentlichen Dienst der Bundesrepublik ist vielmehr im Zeitpunkt der Kündigung aufgrund einer Prognose festzustellen, die eine konkrete und einzelfallbezogene Würdigung seiner gesamten Persönlichkeit voraussetzt.
Sein Verhalten und seine Einstellung in der Vergangenheit sind dafür zwar eine wesentliche Erkenntnisquelle. Die danach verfassungsrechtlich gebotene Gesamtwürdigung darf aber nicht dadurch verkürzt werden, daß vom Mitarbeiter früher innegehabten Funktionen oder Positionen eines Schulparteisekretärs, Schuldirektors oder Kreisschulinspektors das Gewicht einer gesetzlichen Vermutung beigemessen wird, die einen Eignungsmangel begründet, wenn sie nicht widerlegt wird. Diese Funktionen waren weder so herausgehoben noch so einflußreich, daß allein aus ihrer Wahrnehmung der Schluß auf eine fortbestehende Verbundenheit mit dem Herrschaftssystem der Deutschen Demokratischen Republik gezogen und nur durch besondere Umstände, die das Gegenteil belegen, entkräftet werden kann (vgl. BVerfG, NZA 1997, S. 932 ≪933 f.≫). Ohne Hinzutreten weiterer belastender Umstände läßt sich daher allein aus der früheren Wahrnehmung der hier einschlägigen Ämter und Funktionen der Schluß auf eine mangelnde Eignung nicht ziehen (BVerfG, NZA 1997, S. 932 ≪934≫).
4. Diesen Maßstäben werden die angegriffenen Urteile nicht gerecht. Sie verletzen den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 33 Abs. 2 GG. Auf die weiteren Rügen braucht daher nicht eingegangen zu werden.
a) Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts folgert die mangelnde persönliche Eignung des Beschwerdeführers ausdrücklich allein aus seiner früheren Wahrnehmung der Funktion eines Kreisschulinspektors. Zu weiteren belastenden Umständen trifft es keine Feststellungen. Es verkennt damit den Einfluß und die Herausgehobenheit des Amtes eines Kreisschulinspektors und mißt seiner Wahrnehmung der Sache nach die Bedeutung einer widerlegbaren Vermutung bei. Allein der Umstand, daß der Beschwerdeführer die Tätigkeit als Kreisschulinspektor über vier Jahre ausgeübt hat, ist für sich genommen nicht geeignet, den Beschwerdeführer über die Wahrnehmung der Funktion hinaus zu belasten.
b) Das Landesarbeitsgericht stützt seine Entscheidung zwar auf alle von dem Beschwerdeführer innegehabten Positionen und Funktionen zusammengenommen. Die Wahrnehmung der Position eines Direktors sowie der Funktionen eines Mitgliedes der Parteileitung und eines ehrenamtlichen Parteisekretärs rechtfertigt aber ebenfalls noch nicht den Schluß auf seine Ungeeignetheit. Zwar war der Beschwerdeführer hier nicht Mitglied der Schulparteileitung und ehrenamtlicher Schulparteisekretär, sondern Leitungsmitglied der Abteilungsorganisation und ehrenamtlicher Parteisekretär in der Abteilung Volksbildung. Anhaltspunkte dafür, daß insoweit eine andere Beurteilung dieser Ehrenämter gerechtfertigt wäre, ergeben sich aus der Entscheidung des Landesarbeitsgerichts aber nicht. Was den Besuch der Bezirksparteischule angeht, erschöpft sich das Urteil in der Wiedergabe der allgemeinen Zielstellung, die mit der Auswahl von Parteimitgliedern hierfür verbunden war. Welche Aufgaben mit der Position eines stellvertretenden Kreisschulrats verbunden waren und wie diese im einzelnen von dem Beschwerdeführer ausgeübt wurden, wird aus dem Urteil ebenfalls nicht ersichtlich. Insofern würdigt das Landesarbeitsgericht auch nicht den Umstand, daß der Beschwerdeführer nach der Wende noch bis einschließlich Juli 1990 weiter als Kreisschulrat tätig war.
Auch aus der Zusammenschau der von dem Beschwerdeführer wahrgenommenen Ämter schließt das Landesarbeitsgericht keine sonstigen, den Beschwerdeführer zusätzlich belastenden Umstände. Es kann dahinstehen, ob die Einschätzung des Sächsischen Staatsministeriums der Justiz in seiner Stellungnahme zur Verfassungsbeschwerde, der Beschwerdeführer habe seit 1980 zielgerichtet eine SED-Parteikarriere eingeschlagen, gerechtfertigt ist. In die angegriffenen Entscheidungen hat sie jedenfalls keinen Eingang gefunden. Auch das Landesarbeitsgericht verkennt damit den Einfluß und die Herausgehobenheit der vom Beschwerdeführer wahrgenommenen Ämter und mißt ihrer Wahrnehmung der Sache nach die Bedeutung einer widerlegbaren Vermutung bei.
Unterschriften
Steiner, Jaeger, Kühling
Fundstellen