Verfahrensgang
OLG Düsseldorf (Beschluss vom 25.01.2010; Aktenzeichen III - 3 Ws 549/09) |
Tenor
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 25. Januar 2010 – III – 3 Ws 549/09 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes.
Der Beschluss wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht Düsseldorf zurückverwiesen.
Das Land Nordrhein Westfalen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine oberlandesgerichtliche Entscheidung, mit der die Feststellung eines Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot in einem Verfahren zur Reststrafenaussetzung zur Bewährung abgelehnt wurde.
I.
Der Beschwerdeführer wurde am 13. März 2007 wegen erpresserischen Menschenraubs (Tatzeitpunkt war der 31. Oktober 2000) zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Die Hälfte der Strafe war am 16. November 2008 verbüßt, zwei Drittel der Strafe am 1. Juli 2009.
Am 23. Dezember 2008 beantragte der Beschwerdeführer – unter Hinweis auf die bereits zur Hälfte verbüßte Strafe –, die Reststrafe zur Bewährung auszusetzen. Die Justizvollzugsanstalt äußerte sich mit Stellungnahme vom 18. Februar 2009, eingegangen beim Landgericht am 2. März 2009, zu seinem Antrag und vertrat die Ansicht, dass eine Entlassung zum Halbstrafenzeitpunkt aufgrund des nicht tadellosen Vollzugsverhaltens (illegaler Handybesitz in der Justizvollzugsanstalt) und der schwerwiegenden Umstände der abgeurteilten Tat nicht vertretbar sei. Grundsätzlich sei aber eine Bewährungsentlassung zum Zweidrittelzeitpunkt in Betracht zu ziehen. Anlässlich seiner Anhörung vor dem Landgericht am 15. April 2009 nahm der Beschwerdeführer nach Erörterung der Sach- und Rechtslage das Halbstrafengesuch zurück und beantragte stattdessen die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung zum Zwei-Drittel-Zeitpunkt, das heißt zum 1. Juli 2009.
Mit Beschluss vom 15. April 2009 lehnte das Landgericht den Antrag ab. Die Prognose sei ungünstig, weil gegen den Beschwerdeführer wegen eines weiteren erpresserischen Menschenraubs (dortiger Tatzeitpunkt war der 6. Oktober 2000) ermittelt werde.
Auf die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers hob das Oberlandesgericht am 15. Juni 2009 den Beschluss des Landgerichts auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung dorthin zurück. Verbüße ein Verurteilter – wie vorliegend der Beschwerdeführer – erstmals eine Freiheitsstrafe, spreche eine Vermutung dafür, dass der Vollzug seine Wirkung nicht verfehlt habe und dies der Begehung neuer Straftaten entgegenwirke. Diese Vermutung sei hier nicht widerlegt. Die Tat, wegen der nun ermittelt werde, sei vor der Tat und Verurteilung begangen worden, die der Freiheitsstrafe zugrunde gelegen habe. Die Begehung dieser früheren Tat könne – sofern sie sich überhaupt nachweisen lasse – keinen Aufschluss darüber geben, ob der Vollzug seine erhoffte Wirkung verfehlt habe. Nach Auskunft der Justizvollzugsanstalt habe sich der Beschwerdeführer im Wesentlichen beanstandungsfrei geführt. Die familiären Verhältnisse seien geordnet, die für die Tat ursächliche Drogenabhängigkeit bestehe nicht mehr. Der Beschwerdeführer bereue die Tat. Diese und die weitere Tat lägen über neun Jahre zurück. Der Senat könne nicht selbst die Vollstreckung des Strafrestes aussetzen, weil eine Begutachtung noch ausstehe (§ 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 1 Var. 1 StGB).
Im Nachgang der Entscheidung des Oberlandesgerichts bat der Beschwerdeführer das Landgericht unter dem 29. Juni 2009 um eine Sachstandsmitteilung und – angesichts seines am 1. Juli 2009 anstehenden Zwei-Drittel-Haftverbü-ßungszeitpunkts – um eine bevorzugte Behandlung seiner Angelegenheit. Das Landgericht teilte hierauf unter dem 1. Juli 2009 mit, dass der Beschluss des Oberlandesgerichts nicht bekannt sei und die Akten noch nicht von dort zurückgesandt worden seien.
Mit Schreiben vom 6. Juli 2009 übermittelte der Beschwerdeführer dem Landgericht den Beschluss des Oberlandesgerichts vom 15. Juni 2009 und suchte erneut um beschleunigte Behandlung nach. Er verzichtete darüber hinaus auf eine mündliche Anhörung nach § 454 Abs. 1 Satz 3 StPO.
Durch Beschluss des Landgerichts vom 14. Juli 2009 wurde ein Sachverständiger mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. Das Landgericht wies den Gutachter telefonisch auf die Dringlichkeit des Verfahrens hin. Der Gutachter sagte zu, das Gutachten schnellstmöglich zu erstellen. Einen Termin, zu dem das Gutachten vorliegen sollte, setzte das Landgericht dem Sachverständigen nicht.
Nachdem der Beschwerdeführer am 11. August 2009 das Landgericht darüber informiert hatte, dass ein gutachterliches Gespräch mit ihm noch nicht stattgefunden habe, teilte das Landgericht unter dem 12. August 2009 mit, der Sachverständige sei nochmals auf die Dringlichkeit hingewiesen worden und habe zugesagt, in der kommenden Woche mit der Begutachtung zu beginnen. Auch diese terminliche Zusage hielt der Sachverständige nicht ein, so dass der Beschwerdeführer daraufhin am 31. August 2009 beantragte, die Vollstreckung mit sofortiger Wirkung zu unterbrechen. Mit Schreiben vom 7. September 2009 teilte das Landgericht mit, dass der Beschwerdeführer laut Sachverständigem nunmehr am 2. September 2009 begutachtet worden sei und das Gutachten bis zum 11. September 2009 vorliegen solle. Mit Schreiben vom 15. September 2009 informierte das Landgericht den Beschwerdeführer, dass das Gutachten nach Auskunft des Sachverständigen am 16. September 2009 verschickt werden solle. Tatsächlich ging das vom 21. September 2009 datierende Gutachten beim Landgericht am 22. September 2009 und beim Beschwerdeführer am 29. September 2009 ein.
Der Gutachter kam zu dem Ergebnis, dass beim Beschwerdeführer keine Gefahr mehr bestehe, dass die durch die Tat zu Tage getretene Gefährlichkeit fortbestehe. Es sei zu erwarten, dass er sich nach einer Entlassung in einem stabilen sozialen Umfeld bewegen könne. Er verfüge über hinreichende Ressourcen, um nicht in kriminogene Verhaltensmuster zurückzufallen.
Mit Schreiben vom 29. September 2009 verzichtete der Beschwerdeführer auf eine mündliche Anhörung des Sachverständigen. Am 7. Oktober 2009 ging beim Landgericht die von diesem angeforderte Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt ein. Diese erhob keine Einwendungen gegen das Gutachten. Unter dem 8. Oktober 2009 bat der Beschwerdeführer um Sachstandsmitteilung. Das Landgericht bestimmte mit Fax vom 13. Oktober 2009 den Anhörungstermin auf Donnerstag, den 15. Oktober 2009. Mit Beschluss vom 15. Oktober 2009 setzte das Landgericht nach mündlicher Anhörung des Beschwerdeführers (an der weder die Staatsanwaltschaft noch der Gutachter teilnahmen) die Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe mit der Maßgabe aus, dass der Beschwerdeführer nicht vor Ende des 19. Oktober 2009 (Montag) zu entlassen sei. Die Bewährungszeit wurde auf drei Jahre festgesetzt. Der Beschwerdeführer wurde am 20. Oktober 2009 entlassen.
Der Beschwerdeführer beantragte mit sofortiger Beschwerde die Feststellung, dass ein Verstoß gegen das in Haftsachen geltende verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot vorliege. Er habe bereits ein halbes Jahr vor dem Zwei-Drittel-Zeitpunkt die Reststrafenaussetzung beantragt. Obwohl das Oberlandesgericht im Beschluss vom 15. Juni 2009 darauf hingewiesen habe, dass er am 1. Juli 2009 zwei Drittel der Strafe verbüßt haben werde und ein Gutachten einzuholen sei, habe das Landgericht für die Einholung des Gutachtens mehr als vier Monate benötigt. Er sei erst dreieinhalb Monate nach dem Zwei-Drittel-Zeitpunkt entlassen worden. Obwohl er auf eine mündliche Anhörung verzichtet habe, habe ein Anhörungstermin stattgefunden. Der festgesetzte Entlassungszeitpunkt sei nicht nachvollziehbar. Das Landgericht hätte unschwer telefonisch einen Rechtsmittelverzicht von der Staatsanwaltschaft erwirken und eine sofortige Freilassung veranlassen können.
Das Oberlandesgericht wies den Antrag mit dem vorliegend angegriffenen Beschluss vom 25. Januar 2010 zurück. Es könne offen bleiben, ob Fälle verzögerter Entscheidungen nach § 57 StGB zur Gruppe tiefgreifender Grundrechtseingriffe gehörten, bei denen ein Feststellungsinteresse trotz prozessualer Überholung angenommen werden könne. Jedenfalls sei das Beschleunigungsgebot nicht verletzt. Die Dauer des Aussetzungsverfahrens sei nicht unangemessen. Die etwa dreieinhalbmonatige Überschreitung des Zwei-Drittel-Zeitpunktes werde durch die Länge der vierjährigen Freiheitsstrafe relativiert. Das Verfahren sei überdies allenfalls um die zwei Monate verlängert worden, die zwischen der aufgehobenen Entscheidung des Landgerichts vom 15. April 2009 und dem Beschluss des Oberlandesgerichts vom 15. Juni 2009 lägen. Die anschließende Anfertigung des Gutachtens innerhalb von zwei Monaten halte sich im Rahmen des Üblichen, zumal das Landgericht den Gutachter viermal telefonisch auf die Dringlichkeit hingewiesen habe. Nach Eingang des Gutachtens und der ergänzenden Stellungnahme des Anstaltspsychologen habe das Landgericht zeitnah am 13. Oktober 2009 den Anhörungstermin bestimmt, der bereits zwei Tage später stattgefunden habe. Die für den Beschwerdeführer mit dem Verfahren verbundenen Belastungen seien wegen der im Beschluss des Oberlandesgerichts und im Gutachten zum Ausdruck gekommenen konkreten Entlassungsaussicht erheblich gemindert gewesen.
Entscheidungsgründe
II.
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 3 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 1, Art. 103 Abs. 1 GG und Art. 104 GG. Der Zwei-Drittel-Zeitpunkt sei um 16 Wochen, der Halbstrafenzeitpunkt um etwa elf Monate überschritten worden.
1. Das Landgericht habe das Verfahren nach § 57 StGB nicht so rechtzeitig eingeleitet, dass es vor dem Halbstrafen- und vor dem Zwei-Drittel-Zeitpunkt habe abgeschlossen werden können. Es habe keine organisatorischen Maßnahmen zur Begrenzung der Verfahrensdauer ergriffen. Da es sich bei der Aussetzung nach § 57 StGB um eine Routineentscheidung handle, seien strenge organisatorische Anforderungen zu stellen, zumal § 454a StPO den Gerichten eine Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung wesentlich früher als drei Monate vor dem Entlassungszeitpunkt ermögliche.
2. Im Einzelnen rügt der Beschwerdeführer folgende Verfahrensverzögerungen:
a) Das Landgericht habe erst am 14. Juli 2009 ein für die Entscheidung über die Reststrafenaussetzung erforderliches Gutachten in Auftrag gegeben.
b) Das Landgericht sei in der Zeit zwischen der Entscheidung des Oberlandesgerichts vom 15. Juni 2009 und der Bestellung des Gutachters am 14. Juli 2009 untätig geblieben.
c) Das Landgericht habe entgegen § 73 Abs. 1 Satz 2 StPO und in Kenntnis des Umstands, dass der Zwei-Drittel-Zeitpunkt bereits seit dem 1. Juli 2009 überschritten war, bei der Bestellung des Gutachters am 14. Juli 2009 mit diesem keine Absprachen über den Zeitpunkt der Gutachtenerstellung getroffen. Es habe dadurch weitere Verzögerungen durch den Gutachter ermöglicht.
d) Das Landgericht habe nach Vorlage des Gutachtens am 22. September 2009 nicht unverzüglich den Anhörungstermin anberaumt. Im Übrigen sei die Anhörung vom 15. Oktober 2009 angesichts des Verzichts des Beschwerdeführers und der Tatsache, dass an der Anhörung weder der Sachverständige noch die Staatsanwaltschaft teilgenommen hätten, auch entbehrlich gewesen.
e) Eine weitere – nicht nachvollziehbare Verzögerung – sei eingetreten, weil der Beschluss des Landgerichts vom 15. Oktober 2009 angeordnet habe, den Beschwerdeführer nicht vor Ablauf des 19. Oktobers 2009 aus der Haft zu entlassen.
III.
Das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen hatte Gelegenheit zur Äußerung; es hat keine Stellungnahme abgegeben. Dem Bundesverfassungsgericht haben die Akten des Strafverfahrens und das Vollstreckungsheft vorgelegen.
IV.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG) und gibt ihr statt. Zu dieser Entscheidung ist sie berufen, weil die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sind.
1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.
Das Rechtsschutzinteresse des Beschwerdeführers ist nicht durch die Reststrafenaussetzung zur Bewährung am 15. Oktober 2009 und die Entlassung des Beschwerdeführers aus der Strafhaft am 20. Oktober 2009 entfallen. Der Beschwerdeführer sieht in der behaupteten Verletzung des verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebots in Haftsachen eine Verletzung seines Freiheitsgrundrechts. Es würde der Bedeutung des Schutzes der Freiheit durch das Grundgesetz (Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG) nicht entsprechen, wenn das Recht auf verfassungsrechtliche Klärung einer behaupteten Freiheitsverletzung nach deren Beendigung ohne Weiteres entfiele (BVerfGE 10, 302 ≪308≫; 74, 102 ≪115≫; 76, 363 ≪381≫). Angesichts des mit der Freiheitsentziehung erlittenen Eingriffs in ein besonders bedeutsames Grundrecht besteht ein schutzwürdiges Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahme auch nach deren Erledigung fort. Diesem Interesse haben mit Rücksicht auf die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde vorrangig die zuständigen Fachgerichte zu genügen. Das Oberlandesgericht hat hier mit der Ablehnung des Antrags, festzustellen, dass ein Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot vorliege, die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung bis zur Entlassung des Beschwerdeführers am 20. Oktober 2009 bestätigt. Der Beschwerdeführer hat ein berechtigtes Interesse an der Klärung, ob diese Entscheidung ihn in seinen Grundrechten verletzt (vgl. BVerfGE 104, 220 ≪231≫).
2. Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet.
Die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts vom 25. Januar 2010 befasst sich zwar mit dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot in Haftsachen, hat aber nicht alle Gesichtspunkte, die zu einer Verfahrensverzögerung geführt haben könnten, gewürdigt und in seine Abwägung einbezogen. Dadurch verletzt das Oberlandesgericht das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip.
a) Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistet in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip die angemessene Beschleunigung des mit einer Freiheitsentziehung verbundenen gerichtlichen Verfahrens (vgl. BVerfGE 20, 45 ≪49 f.≫; 21, 184 ≪187≫; 21, 220 ≪222≫; 21, 223 ≪225 f.≫; 36, 264 ≪273≫; 46, 194 ≪195≫). Im Verfahren über die Aussetzung des Rests einer Freiheitsstrafe zur Bewährung kommt eine Verletzung des Beschleunigungsgebots in Betracht, wenn das Freiheitsrecht nach den Umständen des Einzelfalls gerade durch eine sachwidrige Verzögerung der Entscheidung unangemessen weiter beschränkt wird (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Juni 2001 – 2 BvR 828/01 –, NJW 2001, S. 2707, und vom 6. April 2006 – 2 BvR 619/06 –, juris).
Dabei ist die Frage, ob die Verfahrensdauer noch angemessen ist, nach den besonderen Umständen des einzelnen Falles zu beurteilen (vgl. BVerfGE 55, 349 ≪369≫). Bei dieser Beurteilung sind insbesondere der Zeitraum der Verfahrensverzögerung, die Gesamtdauer der Strafvollstreckung und des Verfahrens über die Reststrafenaussetzung zur Bewährung, die Bedeutung dieses Verfahrens im Blick auf die abgeurteilte Tat und die verhängte Strafe, der Umfang und die Schwierigkeit des Entscheidungsgegenstandes sowie das Ausmaß der mit dem Andauern des schwebenden Verfahrens verbundenen Belastung des Verurteilten zu berücksichtigen. Zu berücksichtigen sind ferner das Prozessverhalten des Verurteilten (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Juni 2001 – 2 BvR 828/01 –, NJW 2001, S. 2707, und vom 19. Januar 2004 – 2 BvR 1904/03, 2 BvR 32/04 –, juris) und die Tätigkeit Dritter, vor allem der Sachverständigen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. Juli 2000 – 1 BvR 352/00 –, NJW 2001, S. 214 ≪215≫; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 24. September 2009 – 1 BvR 1304/09 –, juris).
Eine Beschleunigung ist auch bei solchen Verfahren nicht grundsätzlich ausgeschlossen, in denen das Gericht bei der Entscheidungsfindung auf die Mitwirkung von Sachverständigen angewiesen ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. Juli 2000 – 1 BvR 352/00 –, NJW 2001, S. 214 ≪215≫). Beispielsweise kann das Vollstreckungsgericht bei der Auswahl und Beauftragung eines Sachverständigen die besondere Eilbedürftigkeit der Angelegenheit berücksichtigen und der voraussichtlichen Bearbeitungsdauer bei der Auswahl des Sachverständigen entscheidendes Gewicht beimessen. Während der Bearbeitung des Gutachtens ist der Zeitfaktor durch zeitnahe Überwachung der gutachterlichen Tätigkeit und durch das Setzen von Bearbeitungsfristen im Blick zu behalten (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. Juli 2000 – 1 BvR 352/00 –, NJW 2001, S. 214 ≪215≫; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 20. September 2007 – 1 BvR 775/05 –, NJW 2008, S. 503 ≪504≫). Es kann unzureichend sein, den Sachverständigen an die Abgabe seiner Stellungnahme zu erinnern und darauf zu vertrauen, dass das Gutachten zeitnah erstellt wird (BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 6. April 2006 – 2 BvR 619/06 –, juris).
Mit zunehmender Verfahrensdauer verdichtet sich die mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes verbundene Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um die Beschleunigung und den Abschluss des Verfahrens zu bemühen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 20. September 2007 – 1 BvR 775/07 –, NJW 2008, S. 503 ≪504≫; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 24. September 2009 – 1 BvR 1304/09 –, juris), sowie die Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung. Dem verfahrensrechtlichen Gebot einer zureichenden richterlichen Sachaufklärung kommt gerade im Fall des Freiheitsentzugs die Bedeutung eines Verfassungsgebotes zu (Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Juli 2009 – 2 BvR 328/09 –, juris).
b) Die Begründung einer fachgerichtlichen Entscheidung darüber, ob ein Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot in Haftsachen vorliegt, muss erkennen lassen, dass das Gericht geprüft hat, ob und gegebenenfalls welche Verfahrensverzögerungen eingetreten und welche Ursachen hierfür maßgeblich sind. Nur wenn diese Grundlagen konkret benannt werden, ist eine sachgerechte Abwägung zwischen dem Strafverfolgungsinteresse und dem Freiheitsgrundrecht des Inhaftierten gewährleistet (vgl. BVerfGK 8, 1 ≪8≫).
c) Diesen Maßstäben hält die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts nicht stand.
Das Oberlandesgericht geht in seinem Beschluss pauschal davon aus, dass das Verfahren allenfalls um die zwei Monate verlängert worden sei, die zwischen der aufgehobenen Entscheidung des Landgerichts vom 15. April 2009 und dem Beschluss des Oberlandesgerichts vom 15. Juni 2009 liegen. Es verneint damit im Ergebnis, dass bereits vor dem 15. April 2009 eine relevante, den Beschwerdeführer in seinen Freiheitsrechten verletzende Verzögerung eingetreten sein kann.
Diese Einschätzung ist insofern fehlerhaft, als der Beschwerdeführer zum einen bereits unter dem 23. Dezember 2008 beantragt hat, seine Reststrafe zur Bewährung auszusetzen, zum anderen aber die Justizvollzugsanstalt unter dem 18. Februar 2009 – eingegangen beim Landgericht am 2. März 2009 – zur Reststrafenaussetzung umfangreich Stellung genommen hat. Weder der Abteilungsdienst noch der Werkdienst sahen Gründe, die gegen eine vorzeitige Haftentlassung sprachen. Der Sozialdienst führte aus, dass zwar eine Entlassung zum Halbstrafenzeitpunkt aufgrund des nicht ganz tadellosen Vollzugsverhaltens (illegaler Handybesitz in der Justizvollzugsanstalt im April 2008) und der schwerwiegenden Umstände der abgeurteilten Tat nicht vertretbar sei, aber grundsätzlich eine Bewährungsentlassung zum Zwei-Drittel-Zeitpunkt in Betracht komme.
In einem derartigen Fall hätte das Landgericht angesichts der hinreichend positiven Beurteilung durch die Justizvollzugsanstalt nach Zugang der Stellungnahme am 2. März 2009 gemäß § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO ein Sachverständigengutachten in Auftrag geben müssen. Dadurch wäre eine Prüfung über die Reststrafenaussetzung zum Zwei-Drittel-Zeitpunkt am 1. Juli 2009 vorbereitet worden.
Es ist davon auszugehen, dass das Landgericht, hätte es bereits Anfang März 2009 einen Sachverständigen mit einem Prognosegutachten beauftragt, zu einem erheblich früheren Zeitpunkt – wohl bereits zum Zwei-Drittel-Zeitpunkt am 1. Juli 2009 – über die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung hätte entscheiden können. Insoweit könnte durch die Beauftragung des Gutachters am 14. Juli 2009 und die Haftentlassung des Beschwerdeführers am 20. Oktober 2009 eine fast viermonatige, vermeidbare Verzögerung des Verfahrens eingetreten sein.
Ob darüber hinaus weitere vermeidbare Verfahrensverzögerungen, insbesondere wegen der fehlenden Fristsetzung für die Erstellung des Gutachtens (§ 73 Abs. 1 Satz 2 StPO), eingetreten sind, hat das Oberlandesgericht nicht geprüft und insoweit daher die gebotene Abwägung zwischen dem Strafverfolgungsinteresse und dem Freiheitsgrundrecht des Beschwerdeführers auf unzureichender Grundlage vorgenommen.
V.
Die Entscheidung über die Aufhebung und Zurückverweisung beruht auf § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG.
Die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 Alt. 1 BVerfGG.
Unterschriften
Voßkuhle, Mellinghoff, Lübbe-Wolff
Fundstellen
Haufe-Index 2389695 |
StV 2011, 41 |