Tenor
1. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Landratsamts Wunsiedel i. Fichtelgebirge vom 10. Juli 2003 und den Widerspruchsbescheid der Regierung von Oberfranken vom 1. August 2003 wird wieder hergestellt.
2. Möglichen, von der Versammlungsbehörde für erforderlich gehaltenen Auflagen, auch über die Streckenführung und die Dauer der Versammlung, ist Folge zu leisten.
3. Der Freistaat Bayern hat dem Antragsteller die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung betrifft den versammlungsbehördlich angeordneten Sofortvollzug eines Bescheids, mit dem eine für Samstag, den 16. August 2003, in Wunsiedel angemeldete Versammlung unter dem Tenor „Gedenken an Rudolf Heß” verboten worden ist.
Das Bayerische Verwaltungsgericht Bayreuth hat den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des vom Antragsteller eingelegten Widerspruchs im Beschluss vom 24. Juli 2003 – B 1 S 03.845 – abgelehnt. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat im Beschluss vom 7. August 2003 – 24 CS 03.1963 – die Beschwerde gegen diese Entscheidung des Verwaltungsgerichts zurückgewiesen.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat Erfolg. Die vom Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Entscheidung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG vorzunehmende Folgenabwägung (vgl. BVerfGE 71, 158 ≪161≫; 88, 185 ≪186≫; 104, 23 ≪28 f.≫; stRspr) führt zum Ergebnis, dass die für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe überwiegen.
1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist nicht schon auf Grund der vom Verwaltungsgerichtshof vorgenommenen Argumentation und darauf aufbauend im Hinblick auf den Grundsatz der Subsidiarität verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes abzulehnen. Die Zurückweisung der Beschwerde des Antragstellers durch den Verwaltungsgerichtshof beruht auf einer unzutreffenden Auffassung über die Bedeutung des Art. 8 GG im Eilrechtsschutz.
Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, dass im Beschwerdeverfahren gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO nur die vom Antragsteller darlegten Gründe zu prüfen sind. Ebenfalls nicht zu beanstanden ist die Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs, dass der Prüfungsumfang dann weiter sei, wenn die angegriffene Entscheidung aus anderen als den vom Antragsteller dargelegten Gründen offensichtlich rechtswidrig ist. Nicht nachvollziehbar ist allerdings, aus welchen Gründen der Verwaltungsgerichtshof den Antrag hinsichtlich der von ihm als maßgebend angesehenen Frage der Verletzung des Schutzguts der öffentlichen Ordnung nur anhand des Maßstabs offensichtlicher Rechtswidrigkeit prüft. Das Gericht reduziert den grundrechtlichen Schutz der Versammlungsfreiheit im konkreten Fall insoweit auf die Möglichkeit zur Korrektur offensichtlicher Rechtsfehler des Verwaltungsgerichts. Ist diese Reduktion des Prüfungsausmaßes nicht durch die Verletzung verfahrensrechtlicher Obliegenheiten des Antragstellers – etwa nach § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO – gerechtfertigt, verletzt eine so begrenzte Prüfung Art. 8 GG, der angesichts der regelhaften Zeitabhängigkeit von Versammlungen im Eilrechtsverfahren besonders bedeutsam wird (vgl. BVerfGE 69, 315 ≪340, 364≫; Gusy in: v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, Art. 8 Rz. 49).
Der Verwaltungsgerichtshof setzt sich zwar mit einem Teil des Vorbringens des Antragstellers auseinander, legt aber nicht nachvollziehbar dar, dass die sonstigen Ausführungen in der Beschwerdeschrift zur Verletzung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung den Anforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO nicht genügen. Gleichwohl überprüft er die verwaltungsgerichtliche Entscheidung in maßgebender Hinsicht nur anhand des Maßstabs offensichtlicher Rechtswidrigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung. Es widerspricht dem grundrechtlichen Schutzgehalt des Art. 8 GG in Verbindung mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG), den Eilrechtsschutz vor dem Verwaltungsgerichtshof auf Grund einer nicht tragfähig begründeten Annahme, der Beschwerdeführer habe zu der maßgebenden Frage – hier der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung – nicht hinreichend vorgetragen, so zu beschränken, dass die verwaltungsgerichtliche Entscheidung über die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs nur auf offensichtliche Fehler bei der Interessenabwägung überprüft wird.
2. Im Eilrechtsverfahren ist im Zuge einer Folgenabwägung zu klären, ob der von der Versammlungsbehörde und dem Verwaltungsgericht befürchtete Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung durch hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte belegt ist und schwerer wiegt als die Unmöglichkeit, von dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit in der gewünschten Weise Gebrauch zu machen. Vorliegend führt die Abwägung zu einem Überwiegen derjenigen Gründe, die für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechen.
a) Da der Verwaltungsgerichtshof im Zuge seiner Beschwerdeentscheidung nach § 146 VwGO keine Feststellungen zur Gefährdung von Rechtsgütern getroffen hat, sind in die vom Bundesverfassungsgericht vorzunehmende Folgenabwägung allein die von der Verwaltungsbehörde und dem Verwaltungsgericht als gefährdet angesehenen Rechtsgüter einzustellen.
aa) Das Verwaltungsgericht hat seine Entscheidung in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 69, 315 ≪352 f.≫) nicht auf eine Verletzung der öffentlichen Ordnung gestützt, sondern ausdrücklich darauf hingewiesen, dass eine Verletzung allein dieses Rechtsguts ein Versammlungsverbot nicht rechtfertigen kann. Insbesondere könne ein Verbot nicht auf Befürchtungen gegründet werden, der Veranstalter und die voraussichtlichen Teilnehmer würden nationalsozialistisches Gedankengut verbreiten.
Das Verwaltungsgericht stützt seine Abwägung dementsprechend maßgebend auf die Annahme, die öffentliche Sicherheit sei gefährdet. Zweck der Veranstaltung sei die Verherrlichung einer der führenden Personen und Ideologen des Nazionalsozialismus und dies beinhalte eine Verherrlichung des Nazionalsozialmus, da Rudolf Heß untrennbar mit dem Gedankengut dieses Systems verbunden sei.
Das Bundesverfassungsgericht hat im Eilrechtsverfahren in aller Regel die Tatsachenfeststellungen der angegriffenen Entscheidungen zu Grunde zu legen (vgl. hierzu etwa BVerfGE 34, 211 ≪216≫; 36, 37 ≪40≫). Wird dementsprechend die vom Verwaltungsgericht vorgenommene tatsächliche Einordnung der Veranstaltung zu Grunde gelegt, bedarf es zusätzlich der Klärung, dass durch eine solche Veranstaltung die öffentliche Sicherheit gefährdet wird. Daran hat das Verwaltungsgericht selbst Zweifel und stützt die rechtliche Bewertung ergänzend unter Verweis auf ein gegen den Antragsteller anhängiges Verfahren wegen eines im Jahre 1996 als Strafverteidiger begangenen Vergehens nach § 130 StGB darauf, dass er die Massenvernichtung von Juden während der NS-Herrschaft leugne. Vor einem solcher Hintergrund erhalte „ein Gedenken” an die Person des Rudolf Heß einen den Rahmen der Meinungsfreiheit sprengendes Gewicht.
bb) Das Verwaltungsgericht begründet diese rechtliche Einschätzung jedoch nicht in einer verfassungsrechtlich nachvollziehbaren Weise. Es setzt sich mit der von ihm selbst zitierten Auffassung des Bundesverfassungsgerichts in Widerspruch, nach der ein gemäß Art. 8 Abs. 2 GG in Verbindung mit einem dazu ermächtigenden Gesetz ergehendes Versammlungsverbot im Wesentlichen nur zur Abwehr von Gefahren für elementare Rechtsgüter in Betracht kommt (vgl. BVerfGE 69, 315 ≪352 f.≫), deren Schutz regelmäßig in der positiven Rechtsordnung und damit im Rahmen der öffentlichen Sicherheit verwirklicht wird (vgl. BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 24. März 2001 – 1 BvQ 13/01 –, NJW 2001, S. 2069 f.). Grenzen der Meinungsäußerung auch im Zusammenhang von Versammlungen bezeichnen insbesondere Strafgesetze, die zum Schutz besonders gewichtiger Rechtsgüter bestimmte geäußerte Inhalte verbieten, so im Bereich politischer Auseinandersetzungen etwa § 130 StGB (Volksverhetzung), § 86 a StGB (Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen) oder §§ 90 a, 90 b StGB (Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole oder von Verfassungsorganen). Das Verwaltungsgericht verzichtet jedoch auf eine Subsumtion des Verhaltens unter eine derartige oder eine andere Rechtsnorm. Statt dessen stellt es nur in pauschaler Weise fest, Bestrebungen, den Nationalsozialismus zu verharmlosen, seien geeignet, die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik, ihr Ansehen im Ausland und das friedliche Zusammenleben der Bevölkerung zu gefährden.
Ob und inwieweit diese Argumentation ein Versammlungsverbot auch dann rechtfertigen kann, wenn das Verhalten nicht vom Gesetzgeber verboten ist, lässt sich im Zuge des Eilrechtsschutzes nicht klären. Dies muss einer Beurteilung im Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.
cc) Soweit das Verwaltungsgericht auf die (noch nicht rechtskräftige) Verurteilung des Antragstellers wegen eines Vergehens nach § 130 StGB verweist, kann nicht außer Betracht bleiben, dass der entsprechende Vorfall im Jahre 1996 geschehen ist und keinen Bezug zu einer öffentlichen Versammlung hat. Die Einbeziehung eines sieben Jahre zurückliegenden Vorfalls, der zudem in einem anderen Kontext erfolgt ist, bedarf ergänzender Hinweise darauf, dass entsprechende Verstöße auch in der Versammlung zu erwarten sind. Daran aber fehlt es.
b) Das Verwaltungsgericht sieht ergänzend eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit darin, dass der Antragsteller keine hinreichende Gewähr dafür bietet, er werde zu befürchtende Rechtsverstöße aus den Reihen der Versammlungsteilnehmer unterbinden beziehungsweise die organisatorischen Vorkehrungen gegen deren Entstehen treffen. Die entsprechenden Ausführungen zu früheren vergleichbaren Veranstaltungen bleiben allerdings vage. Es werden keine tatsächlichen Anhaltspunkte dafür gegeben, dass der Antragsteller als Veranstalter früherer Versammlungen Rechtsverstöße hätte unterbinden können und dies nicht versucht hat. Wenn das Verwaltungsgericht darauf hinweist, dass es in den vergangenen Jahren bei den Heß-Gedenkversammlungen zu keinen größeren tätlichen Auseinandersetzungen gekommen ist, benennt es selbst einen gegenläufigen Sachverhalt. Dass dieser zu einem erheblichen Teil auf die polizeilichen Vorkontrollen und die starke Polizeipräsenz zurückzuführen ist, wie die Versammlungsbehörde und das Verwaltungsgericht ausführen, erlaubt keinen Rückschluss darauf, dass der Antragsteller seinen Veranstalterpflichten nicht nachgekommen wäre, wenn es zu strafbaren Handlungen gekommen wäre.
c) Bei einem – wie hier – offenen Ausgang eines möglichen Verfassungsbeschwerdeverfahrens sind gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG die Folgen abzuwägen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 71, 158 ≪161≫; 96, 120 ≪128 f.≫; stRspr).
aa) Bliebe die sofortige Vollziehbarkeit des Verbots der Kundgebung bestehen, hätte eine Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg, so wäre der Antragsteller um die Möglichkeit gebracht worden, von den ihm zustehenden Grundrecht auf Versammlungsfreiheit in der gewünschten Weise Gebrauch zu machen. Zwar wäre eine Versammlung in der geplanten Form zu dem beabsichtigten Zweck auch in späteren Jahren möglich, nicht aber die für den Zeitpunkt 2003 des Todestages von Rudolf Heß geplante Veranstaltung.
bb) Könnte die Versammlung wie geplant stattfinden, erwiese sich eine Verfassungsbeschwerde später aber als unbegründet, so wäre die Versammlung durchgeführt worden, obwohl die Voraussetzungen für ein Verbot vorlagen. Da diese Voraussetzungen ihrerseits aber auf einer Prognose beruhen, steht nicht fest, dass die für wahrscheinlich gehaltenen Gefahren tatsächlich eingetreten wären. Unter diesen Umständen kann bei der Folgenabwägung nicht gänzlich von der Art der befürchteten Gefahren und dem Grad an Eintrittswahrscheinlichkeit, der der Prognose zu Grunde liegt, abgesehen werden.
Das Verwaltungsgericht bezieht in die Folgenabwägung neben dem durch den Inhalt der Versammlung angenommenen Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit ein, dass wegen der zu erwartenden Teilnahme von Mitgliedern verbotener Organisationen die konkrete Gefahr bestehe, dass aus dem Teilnehmerkreis selbst heraus strafbare Handlungen begangen würden. Um welche es sich dabei handelt, legt das Gericht nicht dar, so dass das Gewicht möglicher Strafrechtsverstöße nicht in die Folgenabwägung einfließen kann. Auch ist nicht erkennbar, dass es ausgeschlossen ist, mögliche Straftaten durch Maßnahmen gegen einzelne Versammlungsteilnehmer zu bekämpfen, so dass ein Versammlungsverbot unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit ausscheidet. Soweit das Verwaltungsgericht aufführt, dass in den beiden vorangegangenen Jahren bei der jeweiligen Heß-Gedenkveranstaltung keine größeren tatsächlichen Auseinandersetzungen erfolgt sind, sagt es selbst, dass schwerwiegende Gefahren jedenfalls für Gesundheit und Eigentum nicht zu befürchten sind. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, die Polizei könne ihren Aufgaben in diesem Jahr nicht nachkommen.
Soweit die Versammlungsbehörde darauf verweist, die Teilnehmer der Versammlung könnten durch das Erscheinungsbild der Kundgebung, etwa durch eine die Zusammengehörigkeit ausdrückende Kleidung oder durch systematisches Fotografieren von Passanten, das Zusammenleben der Bürger konkret gefährden, gibt es Möglichkeiten, dem durch Auflagen entgegenzuwirken.
Auch im Zuge der Folgenabwägung ist zu berücksichtigen, ob es mildere Mittel zur Abwehr von Gefahren gibt als ein Versammlungsverbot. Zwar ist dem Verwaltungsgericht und der Versammlungsbehörde zuzustimmen, dass es ausgeschlossen ist, den Charakter der Gedenkveranstaltung durch Auflagen zu ihrem Inhalt zu verändern. Im Übrigen aber stehen Auflagen oder sonstige ordnungsbehördliche Maßnahmen zur Verfügung, um Gefahren entgegenzuwirken.
cc) Unter diesen Umständen überwiegen angesichts des hohen Stellenwerts der Versammlungsfreiheit in einer freiheitlichen Demokratie die Gefahren, die bei einem Verbot der Versammlung eintreten, diejenigen, welche bei Durchführung der Versammlung als möglich erscheinen, aber durch geeignete Gegenmittel jedenfalls zu einem erheblichen Teil begrenzt oder ganz ausgeschaltet werden können.
3. Die Bestimmungen von Auflagen nach § 15 VersG ist Aufgabe der Versammlungsbehörde, die auf Grund ihrer Sach- und Ortsnähe am besten beurteilen kann, welche Auflagen geeignet, erforderlich und angemessen sind. Sie sind so rechtzeitig zu treffen, dass der Veranstalter sich auf sie einstellen kann.
Der Anspruch über die Erstattung der Auslagen beruht auf § 34 a Abs. 3 BVerfGG.
Von einer weiteren Begründung wird abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Papier, Hohmann-Dennhardt, Hoffmann-Riem
Fundstellen
Haufe-Index 1262355 |
NJW 2003, 3689 |
NVwZ 2004, 338 |
NPA 2004, 0 |
www.judicialis.de 2003 |