Entscheidungsstichwort (Thema)
Fachgerichtliche Feststellung und Beurteilung einer staatlichen Maßnehme - Folter
Beteiligte
Rechtsanwältin Martha-Lina Bode und Koll. |
Verfahrensgang
Tenor
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Osnabrück vom 28. November 1996 – 5 A 459/96 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 16a Absatz 1 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben und die Sache wird an das Verwaltungsgericht Osnabrück zurückverwiesen.
Der Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 19. März 1997 – 11 L 6969/96 – ist damit gegenstandslos.
Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerde-Verfahren und das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (vgl. Beschluss vom 25. Juli 1997) zu erstatten.
Tatbestand
A.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die fachgerichtliche Feststellung und Beurteilung des Charakters einer staatlichen Maßnahme, insbesondere des Einsatzes von Folter, als „politische Verfolgung” und an die Würdigung des Vorbringens eines Asylbewerbers zu seinen individuellen Verfolgungsgründen.
I.
1. Der Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit und stammt aus dem Südosten der Türkei.
a) Er reiste im April 1995 auf dem Luftweg in das Bundesgebiet ein und beantragte seine Anerkennung als Asylberechtigter.
Im Rahmen seiner – aus gesundheitlichen Gründen an zwei Tagen durchgeführten – Anhörung durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) Anfang Juni 1995 gab er an, in der Türkei mit der PKK sympathisiert zu haben. Im März 1993 sei er mit einigen Cousins nach der Teilnahme an einem Newroz-Fest in seinem Heimatdorf festgenommen und gefoltert worden. Hierzu schilderte der Beschwerdeführer im Einzelnen, wie er gefoltert wurde. Nach der Entlassung – so der Beschwerdeführer weiter – sei er gezwungen worden, in der Zeit vom September 1994 bis zum April 1995 Wachaufgaben zu übernehmen. Im Dezember 1994 habe er auf die Bitte eines PKK-Angehörigen Lebensmittel besorgt und sie den PKK-Leuten in den Wald gebracht. Vor der Übergabe habe er einen Mann getroffen, von dem er jetzt wisse, dass dieser mit den türkischen Sicherheitsbehörden zusammenarbeite. Dieser Mann habe die Übergabe der Lebensmittel beobachtet. Er – der Beschwerdeführer – sei dann von Soldaten verhaftet worden. Nach seiner Festnahme sei er zur Wache nach Varto genommen und dort fünf Tage lang „sehr viel” gefoltert worden; dies könne man noch immer sehen. Dann sei er aufgefordert worden, als Spitzel für den Staat tätig zu werden. Nach fünf Tagen sei er freigelassen worden. Danach habe er wieder die Tätigkeit als Wachposten aufgenommen. Im März 1995 habe sich sein Bruder mit dem bereits erwähnten Mann, der für die türkischen Sicherheitsbehörden gearbeitet habe, gestritten. Dieser habe seinen Bruder bei den Soldaten wegen Waffenbesitzes angezeigt. Sein Bruder sei daraufhin verhaftet und nach zwei Tagen auf dem Revier in Varto nach Mus gebracht worden. Er – der Beschwerdeführer – habe dann von seiner Mutter eine Nachricht erhalten, dass die Soldaten bereits seit zwei, drei Tagen ständig im Dorf nach ihm gefragt hätten. Er habe sich daraufhin einen Tag lang bei seinem Onkel aufgehalten und sei anschließend nach Adana gefahren, wo er sich 20 Tage lang bei seiner Schwester aufgehalten habe. Am 25. April 1995 habe er Adana Richtung Istanbul verlassen, bevor er zwei Tage später ausgereist sei.
Nach der Anhörung teilte der Beschwerdeführer schriftsätzlich mit, dass ein Onkel und zwei weitere Verwandte wegen PKK-Unterstützung und Versteckens einer Waffe festgenommen worden seien und sich noch in Haft befänden. Die türkischen Sicherheitskräfte forschten bei seinen Angehörigen auch nach seinem Verbleib.
b) Mit Bescheid vom 24. Mai 1996 lehnte das Bundesamt den Asylantrag ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen der §§ 51 Abs. 1 und 53 AuslG nicht vorlägen, forderte den Beschwerdeführer zur Ausreise auf und drohte ihm die Abschiebung in die Türkei an. Zur Begründung hieß es unter anderem: Der Beschwerdeführer könne sich nicht auf die beiden Verhaftungen berufen, da es sich insoweit um Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung gehandelt habe. Auch hinsichtlich der während der Inhaftierung erlittenen Folter liege keine politische Verfolgung vor. Die weit verbreitete Misshandlung von Personen im Polizeigewahrsam sei als Folge der Tradition und der Geisteshaltung anzusehen, von der sowohl gewöhnliche strafrechtlich Verdächtige betroffen sein könnten, als auch Personen, die im Rahmen von Ermittlungen nach dem Anti-Terror-Gesetz verhaftet worden seien, so dass die Misshandlungen nicht wegen eines Asylmerkmals begangen würden und dementsprechend keine politische Verfolgung seien.
Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG seien ebenfalls nicht gegeben. Zwar komme es in der Türkei generell zur Anwendung von Folter; eine solche generelle Foltergefahr belege jedoch nicht bereits eine individuelle Gefährdung. Der Beschwerdeführer habe nicht substantiiert dargetan, dass ihm die konkrete Gefahr der Folter drohe.
2. a) In der mündlichen Verhandlung über die dagegen bei dem Verwaltungsgericht Osnabrück erhobene Klage ergänzte und vertiefte der Beschwerdeführer seinen bisherigen Vortrag; insbesondere schilderte er detailliert seine Folterungen im Dezember 1994. Seine verschiedenen Beweisanträge lehnte das Verwaltungsgericht ab.
b) Mit dem angegriffenen Urteil wies das Verwaltungsgericht Osnabrück die Klage ab, im Wesentlichen aus folgenden Gründen:
aa) Der Beschwerdeführer habe eine politisch motivierte Verfolgung nicht glaubhaft gemacht. Insoweit werde auf die zutreffenden Ausführungen im angegriffenen Bescheid Bezug genommen.
Er könne sich zur Begründung einer Vorverfolgung nicht auf die Festnahme mit anschließender Folterung im März 1993 berufen, da es insoweit an einem Kausalzusammenhang zwischen Verfolgung und Flucht fehle.
Er könne Asyl auch nicht deshalb beanspruchen, weil er nach seinen – nicht zu widerlegenden – Angaben im Dezember 1994 für die Dauer von fünf Tagen zur Wache mitgenommen und dort misshandelt worden sei. Zwar rechtfertigten Maßnahmen der Terrorismusbekämpfung – um eine solche Maßnahme habe es sich in seinem Fall gehandelt – nicht den Einsatz brutaler Gewalt gegen Personen, bei denen keine über allgemeine Merkmale wie Volkszugehörigkeit, Alter und Geschlecht hinausgehenden objektivierbaren Verdachtsmomente bestünden. Nach den Angaben des Beschwerdeführers sei die Festnahme im Dezember 1994 erfolgt, weil er die Terroristen der PKK mit Lebensmitteln unterstützt habe und bei diesem Vorgehen von einem Spitzel der Sicherheitskräfte beobachtet worden sei. Der Einsatz der Folter gegen ihn sei daher aufgrund konkreter Verdachtsmomente unabhängig von Volkszugehörigkeit, Glaubenszugehörigkeit oder anderen asylerheblichen Merkmalen erfolgt. Es seien auch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass gegen ihn wegen des Vorfalls weitere Maßnahmen ergriffen werden sollten. Dagegen spräche insbesondere, dass er nach seinen Angaben bis April 1995 Wachaufgaben für das Heimatdorf wahrgenommen haben wolle.
Eine politische Verfolgung habe der Beschwerdeführer auch nicht im Hinblick auf die von ihm vorgetragenen Umstände und Gründe seiner Ausreise glaubhaft gemacht. Er habe insoweit angegeben, dass der Spitzel der Sicherheitskräfte, der auch ihn verraten habe, seinen Bruder bei den Behörden wegen des Besitzes einer Maschinenpistole angezeigt habe und sein Bruder deshalb verhaftet worden sei. Bei dieser Gelegenheit hätten die Soldaten auch nach ihm – dem Beschwerdeführer – gefragt. Hierin seien keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür zu sehen, dass die Sicherheitskräfte den Beschwerdeführer hätten festnehmen wollen. Es sei vielmehr davon auszugehen, dass die Soldaten, wie die Kammer aus zahlreichen anderen Verfahren türkischer Asylbewerber erfahren habe, routinemäßig nach dem Aufenthaltsort vorwiegend männlicher Familienangehöriger gefragt hätten, um festzustellen, ob diese „in die Berge” gegangen seien. Etwas anderes lasse sich auch nicht aus den Angaben des Beschwerdeführers entnehmen, er wolle bei Telefonaten von seinen Angehörigen in der Heimat erfahren haben, dass man weiterhin nach ihm suche. Insoweit fehle es an konkreten Anhaltspunkten für eine beabsichtigte Festnahme des Beschwerdeführers. Solche Anhaltspunkte ergäben sich auch nicht aus der in das Wissen des Zeugen A. gestellten Behauptung über dessen Telefonate mit den Angehörigen des Beschwerdeführers. Zwar könnten entsprechende Angaben der Angehörigen telefonisch erfolgt sein, hieraus könne jedoch nicht geschlossen werden, dass diese Angaben zutreffen würden. Zum einen sei es in hohem Maße unglaubhaft, dass Sicherheitskräfte den Angehörigen die Aussagen festgenommener PKK-Kämpfer mitgeteilt haben sollten, zum anderen sei bei derartigen Angaben von Angehörigen grundsätzlich davon auszugehen, dass sie ein Interesse an der Asylanerkennung der im Bundesgebiet befindlichen Familienmitglieder hätten und von daher geneigt seien, etwaige Nachfragen der Sicherheitskräfte als nachhaltige Fahndungsmaßnahmen zu bezeichnen.
bb) Als objektiver Nachfluchtgrund komme die Entwicklung der Verhältnisse in der Türkei nach der Ausreise des Beschwerdeführers in Betracht. Insoweit könne dahinstehen, ob kurdische Volkszugehörige einer regionalen Gruppenverfolgung oder einer Einzelverfolgung wegen ihrer Gruppenzugehörigkeit ausgesetzt seien, da ihnen jedenfalls im westlichen Teil der Türkei grundsätzlich eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung stehe, in der sie hinreichend sicher vor unmittelbarer und mittelbarer politischer Verfolgung seien. Dort drohe ihnen nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auf Dauer ein Leben unter dem Existenzminimum, das zu Hunger, Verelendung und schließlich zum Tod führe (unter Verweis auf das Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 16. Mai 1995 – 11 L 6012/91 –).
cc) Die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG seien nicht gegeben.
dd) Dem Beschwerdeführer stehe auch Abschiebungsschutz nach § 53 AuslG nicht zu. Zur Frage der Gefährdung der in die Türkei zurückkehrenden kurdischen Asylbewerber habe das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht (in seinem Urteil vom 20. Juni 1995 – 11 L 5754/91 –) ausgeführt, dass nur derjenige, der unter dem konkreten Verdacht stehe, Unterstützer oder gar Angehöriger der PKK zu sein, oder der deswegen bereits gesucht werde, im Falle seiner Rückkehr von Folter bedroht sei. Der Beschwerdeführer müsse nicht wegen seiner früheren Festnahmen 1993 und im Dezember 1994 damit rechnen, im Falle seiner Rückkehr erneut in Haft genommen und gefoltert zu werden. Es sei von ihm weder behauptet noch sonst ersichtlich, dass gegen ihn konkrete Anhaltspunkte über diejenigen hinaus vorliegen würden, die bereits Gegenstand von Maßnahmen der türkischen Sicherheitskräfte gewesen seien. Wegen des Lebensmitteltransportes für die PKK sei er fünf Tage inhaftiert worden. Ein Strafverfahren habe sich offensichtlich nicht angeschlossen. Warum die türkischen Sicherheitskräfte im Falle seiner Rückkehr aus der Bundesrepublik Deutschland jenen Vorfall erneut zum Anlass nehmen sollten, gegen ihn Maßnahmen zu ergreifen, sei nicht ersichtlich, zumal die türkischen Sicherheitsbehörden von seinen behaupteten exilpolitischen Betätigungen kaum Kenntnis erlangt haben dürften.
3. Den auf Divergenz und mehrere Verletzungen des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 und Nr. 3 AsylVfG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO) gestützten Antrag auf Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht mit dem gleichfalls angegriffenen Beschluss vom 19. März 1997 abgelehnt.
II.
1. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 16a Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 und seines Anspruchs aus Art. 103 Abs. 1 GG durch die beiden fachgerichtlichen Entscheidungen.
a) Das Verwaltungsgericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Verhaftung und Folterung keine politische Verfolgung darstelle. Dafür hätte es die ihm widerfahrene Folter auf ihre Asylerheblichkeit prüfen müssen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts bedürfe es in solchen Fällen einer besonderen Prüfung, weil die besondere Intensität einer Verfolgungsmaßnahme darauf schließen lasse, dass der Betroffene wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werde.
b) Soweit das Verwaltungsgericht eine Wiederholungsgefahr hinsichtlich der erlittenen Verfolgung verneine, obwohl nach seinen Feststellungen seit der Festnahme des Bruders des Beschwerdeführers die Sicherheitskräfte nach ihm gesucht hätten, lasse es außer Acht, dass, auch wenn die konkrete Tat nicht weiterverfolgt worden sei, der Beschwerdeführer in den Augen der Sicherheitskräfte der Unterstützung der PKK verdächtig bleibe. Nach der vom Verwaltungsgericht selbst wiedergegebenen Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (Urteil vom 20. Juni 1995 – 11 L 5754/91 –) müsse die Anwendung von Folter im Polizeigewahrsam ernsthaft in Betracht gezogen werden, wenn der Betroffene unter dem konkreten Verdacht stehe, Unterstützer oder gar Angehöriger der PKK zu sein oder deswegen bereits gesucht werde.
c) Zudem habe das Verwaltungsgericht die Ausführungen des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts zur inländischen Fluchtalternative und zur Rückkehrproblematik offenbar nur abgeschrieben, ohne ihre Relevanz im Hinblick auf seinen Fall zu prüfen. Trotz der vom Verwaltungsgericht wiedergegebenen Erkenntnislage schriftsätzlicher Hinweise und insbesondere seines Beweisantrages auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Rückkehrgefährdung und zum Bestehen einer inländischen Fluchtalternative gehe das Verwaltungsgericht nicht auf die für die Wiederholungsgefahr relevante Seite ein, dass er – der Beschwerdeführer – schon aufgrund seiner Festnahmen wegen des Verdachts konkreter Unterstützungshandlungen für die PKK zum Kreis verdächtiger PKK-Anhänger zähle und deshalb nicht nur vor weiterer Verfolgung nicht hinreichend sicher sei, sondern diese auch landesweit befürchten müsse.
d) Schließlich erhebt der Beschwerdeführer verschiedene Gehörsrügen gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts.
e) Das Oberverwaltungsgericht verletze ihn in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG, da es trotz offensichtlicher Divergenz zur obergerichtlichen Rechtsprechung eine Berufungszulassung ablehne und die Anforderungen an eine Gehörsrüge überspanne.
2. Den gemäß § 94 BVerfGG Äußerungsberechtigten wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
3. Nachdem Abschiebungsmaßnahmen gegen den Beschwerdeführer eingeleitet worden waren, hat auf dessen Antrag die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit Beschluss vom 25. Juli 1997 der Ausländerbehörde einstweilen bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde untersagt, die im Bescheid des Bundesamtes vom 24. Mai 1996 angedrohte Abschiebung zu vollziehen.
Entscheidungsgründe
B. – I.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93b i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), und gibt ihr statt. Das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Asyl gemäß Art. 16a Abs. 1 GG. Die für diese Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden; in diesem Sinne ist die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet, so dass die Entscheidungskompetenz der Kammer gegeben ist (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
II.
1. a) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist eine Verfolgung dann eine politische, wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale gezielt Rechtsverletzungen zufügt, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen. Geht es dabei um Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit, so stellt generell jede derartige nicht ganz unerhebliche Maßnahme staatlicher Stellen, die an die politische Überzeugung oder Betätigung eines Betroffenen anknüpft, politische Verfolgung dar, ohne dass es insoweit noch auf eine besondere Intensität oder Schwere des Eingriffs ankommt (vgl. BVerfGE 54, 341 ≪357: „… unmittelbare Gefahr für Leib, Leben …”≫; 80, 315 ≪333, 335 unter Hinweis auf die das Asylrecht tragende humanitäre Intention, in einer ausweglosen Lage Schutz zu gewähren≫; vgl. auch BVerwGE 80, 321 ≪324≫; 87, 141 ≪145 f.≫).
Auch Maßnahmen der staatlichen Selbstverteidigung können asylrechtsbegründend sein. Da insbesondere auch die betätigte politische Überzeugung im Schutzbereich des Asylgrundrechts liegt, kann eine staatliche Verfolgung von Taten, die aus sich heraus eine Umsetzung politischer Überzeugung darstellen, grundsätzlich politische Verfolgung sein. Es bedarf einer besonderen Begründung, um sie gleichwohl aus dem Bereich politischer Verfolgung herausfallen zu lassen. Hierfür kommt der Rechtsgüterschutz in Betracht, sofern die staatlichen Maßnahmen einer in den Taten zum Ausdruck gelangenden, über die Betätigung der politischen Überzeugung hinaus gehenden zusätzlichen kriminellen Komponente gelten. Auch eine danach nicht asylerhebliche Strafverfolgung kann freilich in politische Verfolgung umschlagen, wenn objektive Umstände darauf schließen lassen, dass der Betroffene wegen eines asylerheblichen Merkmals eine härtere als die sonst übliche Behandlung erleidet (vgl. im Einzelnen BVerfGE 80, 315 ≪336 ff.≫). Auch unmenschliche Behandlung, insbesondere Folter, kann sich dann als asylrelevante Verfolgung darstellen, wenn sie wegen asylrelevanter Merkmale oder im Blick auf diese in verschärfter Form eingesetzt wird (BVerfGE 81, 142 ≪151≫).
Auf die Asylverheißung des Art. 16a Abs. 1 GG kann sich nicht berufen, wer seine politische Überzeugung unter Einsatz terroristischer Mittel betätigt hat. Maßnahmen des Staates zur Abwehr des Terrorismus sind keine politische Verfolgung, wenn sie dem aktiven Terroristen, dem Teilnehmer an oder einem Unterstützer von terroristischen Aktivitäten gelten. Allerdings kann auch in derartigen Fällen eine asylerhebliche Verfolgung dann vorliegen, wenn zusätzliche Umstände für eine solche Annahme sprechen (vgl. BVerfGE 81, 142 ≪152≫). Dies ist etwa dann der Fall, wenn objektive Umstände – z.B. eine gesteigerte Verfolgungsintensität in Form einer härteren Bestrafung – darauf schließen lassen, dass der Betroffene gleichwohl wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt wird (vgl. BVerfGE 80, 315 ≪336 ff.≫; Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Oktober 1990 – 2 BvR 508/86 –, InfAuslR 1991, S. 18 ≪19 f.≫, vom 25. April 1991 – 2 BvR 1437/90 –, InfAuslR 1991, S. 257 ≪260 f.≫, vom 3. Juli 1996 – 2 BvR 1957/94 –, InfAuslR 1996, S. 318 ≪321≫, und vom 22. Januar 1999 – 2 BvR 86/97 –, InfAuslR 1999, S. 273 ≪276≫). Nicht asylbegründend sind staatliche Maßnahmen danach nur dann, wenn und soweit sie sich auf die Abwehr des Terrorismus beschränken. Wird hingegen über die Bekämpfung von Straftaten hinaus der politische Gegner – in Anknüpfung an ein asylerhebliches Merkmal – verfolgt, kommt den dabei ergriffenen staatlichen Maßnahmen asylbegründende Wirkung zu. So vermag insbesondere eine (angebliche) Terrorismusbekämpfung staatlichen Gegenterror, der etwa darauf gerichtet ist, die nicht unmittelbar beteiligte zivile Bevölkerung in Erwiderung des Terrorismus unter den Druck brutaler staatlicher Gewalt zu setzen, nicht zu rechtfertigen. Deshalb werfen fachgerichtlich festgestellte weit reichende Menschenrechtsverletzungen im Rahmen einer unnachsichtigen Bekämpfung des Terrors durch den Staat stets die Frage auf, ob den staatlichen Maßnahmen die Annahme zugrunde liegt, dass zum Beispiel nur Angehörigen einer bestimmten Ethnie oder nur den in einem bestimmten Gebiet lebenden Angehörigen dieser Ethnie zumindest eine Nähe zu separatistischen/terroristischen Aktivitäten, wenn nicht gar eine generelle Sympathie für sie oder pauschal deren Unterstützung zu unterstellen sei. Bejahendenfalls lässt sich nicht von vornherein ausschließen, dass die staatlichen Maßnahmen – objektiv gesehen – zumindest auch auf die Ethnie gerichtet sind und an diese Zugehörigkeit anknüpfen (vgl. BVerfGE 80, 315 ≪339 f.≫; Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Dezember 1993 – 2 BvR 1638/93 –, InfAuslR 1994, S. 105 ≪107 f.≫, – 2 BvR 1916/93 –, InfAuslR 1994, S. 156 ≪158 f.≫, und vom 22. Januar 1999 – 2 BvR 86/97 –, InfAuslR 1999, S. 273 ≪276≫).
b) Das Bundesverfassungsgericht hat in Bezug auf den Tatbestand „politisch Verfolgter” sowohl hinsichtlich der Ermittlung des Sachverhalts selbst als auch seiner rechtlichen Bewertung zu prüfen, ob die tatsächliche und rechtliche Wertung der Gerichte sowie Art und Umfang ihrer Ermittlungen der Asylgewährleistung gerecht werden (BVerfGE 76, 143 ≪162≫). Den Fachgerichten ist dabei ein gewisser Wertungsrahmen zu belassen. Dieser bezieht sich u.a. auch auf die rechtliche Bewertung des ermittelten Sachverhalts. Verfassungsrechtlich zu beanstanden ist eine fachgerichtliche Bewertung jedoch dann, wenn sie anhand der gegebenen Begründung nicht mehr nachvollziehbar ist (vgl. Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Juni 1990 – 2 BvR 1727/89 –, InfAuslR 1991, S. 85 ≪88≫, vom 12. März 1992 – 2 BvR 721/91 –, InfAuslR 1992, S. 231 ≪233≫, vom 22. Juli 1996 – 2 BvR 1416/94 –, NVwZ-Beilage 2/97, S. 11, und vom 22. Januar 1999 – 2 BvR 86/97 –, InfAuslR 1999, S. 273 ≪277≫). Ermittlungen zum Tatbestand „politisch Verfolgter” sind zudem vom Bundesverfassungsgericht daraufhin zu überprüfen, ob sie hinreichend verlässlich und auch dem Umfang nach, bezogen auf die besonderen Gegebenheiten im Asylbereich, zureichend sind. Angesichts der Feststellungsbedürftigkeit des Asylgrundrechts (vgl. dazu BVerfGE 56, 216 ≪236≫; 60, 253 ≪295≫; 94, 166 ≪199 f.≫) hat die Sachaufklärungspflicht des Verwaltungsgerichts (§ 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO) verfassungsrechtliches Gewicht (vgl. Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Januar 1990 – 2 BvR 760/88 –, InfAuslR 1990, S. 161 ≪164≫, und vom 22. Januar 1999 – 2 BvR 86/97 –, InfAuslR 1999, S. 273 ≪277≫). Zu den asylspezifischen Anforderungen an die gerichtliche Ermittlungstiefe gehört es in der Regel, tatsächlichen oder vermeintlichen Unklarheiten oder Widersprüchen im Sachvortrag des Asylbewerbers, etwa durch dessen Befragung, nachzugehen (vgl. Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Juli 1996 – 2 BvR 1416/94 –, NVwZ-Beilage 2/97, S. 11, und vom 22. Januar 1999 – 2 BvR 86/97 –, InfAuslR 1999, S. 273 ≪277≫).
2. Gemessen an diesen Grundsätzen halten die Erwägungen des Verwaltungsgerichts zur Qualifizierung der dem Beschwerdeführer widerfahrenen und bei einer Rückkehr möglicherweise erneut drohenden Behandlung durch staatliche Stellen als asylrechtlich unerheblich der verfassungsgerichtlichen Überprüfung nicht stand. Mit seiner Beurteilung, der Beschwerdeführer sei unverfolgt ausgereist und ihm drohe im Falle seiner Rückkehr in die Türkei keine individuelle politische Verfolgung, hat es den ihm eröffneten fachgerichtlichen Wertungsrahmen überschritten.
a) Das Verwaltungsgericht hat die vom Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung unter Beweis gestellten Behauptungen dazu, dass er in der Türkei zweimal wegen Unterstützung der PKK verhaftet und sehr schwer misshandelt worden sei, als wahr bzw. nicht widerlegbar unterstellt. Damit hat es im Rahmen des geltenden Amtsermittlungsgrundsatzes (§ 86 Abs. 1 VwGO) seiner Entscheidung folgenden Sachverhalt zugrunde gelegt: Der Beschwerdeführer wurde zweimal auf die Wache gebracht und für drei bzw. fünf Tage fest gehalten. Dort wurde er sehr schwer gefoltert, wobei die Folterungen bei der zweiten Festnahme sogar noch heftiger waren als bei der ersten. Den ihm gemachten Vorwurf der Unterstützung der PKK stritt er dabei ab.
Diese vom Beschwerdeführer geschilderten Maßnahmen hat das Verwaltungsgericht als asylrechtlich unerheblich qualifiziert. Die dazu angestellten Erwägungen stehen schon maßstäblich mit den oben dargelegten Grundsätzen, wonach solche Maßnahmen auch im Bereich des staatlichen Rechtsgüterschutzes politische Verfolgung sein können, nicht im Einklang.
Das Verwaltungsgericht hat unberücksichtigt gelassen (jedenfalls lässt sich der Begründung Gegenteiliges nicht entnehmen), dass bereits die besondere Intensität der Verfolgungsmaßnahme ein sonstiger Umstand sein kann, der darauf schließen lässt, dass es sich um Maßnahmen politischer Verfolgung – wenngleich unter dem Deckmantel angeblicher „Terrorismusbekämpfung” bzw. „gerechtfertigt” als „ordnungsrechtliche Maßnahmen” – handeln kann (BVerfGE 80, 315 ≪339≫). Im Sinne „sonstiger Umstände” können neben der dem Beschwerdeführer zugefügten besonders extremen menschenrechtswidrigen Behandlung zudem bereits das zweimalige Auftreten solcher Vorkommnisse, deren schikanöse Tendenz und schließlich auch das Ausbleiben gesetzlich vorgesehener strafrechtlicher Konsequenzen Anhaltspunkte für eine politische Gerichtetheit der Verfolgungsmaßnahme ergeben. Das Verwaltungsgericht hat die vom Beschwerdeführer erlittenenen besonders schweren Folterungen – ohne erkennbare Würdigung der gegebenen besonderen Umstände – als ordnungsrechtliche Maßnahmen aufgrund konkreter Verdachtsmomente zur Terrorismusbekämpfung beurteilt und damit zu Unrecht ohne Weiteres als nicht asylbegründend erachtet.
b) Das Verwaltungsgericht ist auch der Frage, ob die dem Beschwerdeführer widerfahrenen staatlichen Maßnahmen härter als diejenigen zur Verfolgung ähnlicher – nicht politischer – Straftaten von vergleichbarer Gefährlichkeit und deshalb asylrelevant (vgl. BVerfGE 80, 315 ≪338≫) gewesen sein könnten, nicht nachgegangen. Es hat den ihm eröffneten fachgerichtlichen Wertungsrahmen dadurch, dass es eine solche Prüfung – wie auch die insoweit gebotene weitere Sachaufklärung – unterlassen hat, verkannt. Es ist dem Urteil insoweit weder zu entnehmen, dass es sich bei den vom Beschwerdeführer geschilderten Misshandlungen um „übliche” Foltermaßnahmen gehandelt hätte, die so auch bei der Verfolgung nicht politischer Straftaten von vergleichbarer Gefährlichkeit in der Türkei ergriffen worden wären, noch dass hierzu die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen getroffen worden sind.
Der die Urteilsgründe insoweit einleitende Verweis auf den Bundesamtsbescheid, wonach die weit verbreitete Misshandlung von Personen im türkischen Polizeigewahrsam als Folge von Tradition und Geisteshaltung anzusehen sei und sowohl gewöhnliche strafrechtlich Verdächtige, als auch Personen betreffen könne, die im Rahmen von Ermittlungen nach dem Anti-Terror-Gesetz verhaftet würden, genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. Der Bundesamtsbescheid befasst sich an dieser Stelle nur allgemein mit Misshandlungen im Polizeigewahrsam, nicht jedoch mit schweren Folterungen. Es fehlt bereits an einem Anhaltspunkt dafür, dass damit zum Ausdruck gebracht werden sollte, auch für gewöhnliche Straftäter seien so schwere Folterungen, wie sie der Beschwerdeführer geschildert hat, im türkischen Polizeigewahrsam an der Tagesordnung. Ferner fehlt eine Begründung, die erkennen ließe, aufgrund welcher tatsächlichen Grundlage das Bundesamt zu einer solchen Erkenntnis für gewöhnliche Straftäter gelangt sein könnte.
Da es sich bei den vom Beschwerdeführer geschilderten schweren Misshandlungen nach dem objektiven Geschehensablauf jedenfalls auch um Akte politischer Verfolgung handeln kann und der Beschwerdeführer dies auch als Verfolgung aus politischen Gründen erlebt hat, wäre es Sache des Verwaltungsgerichts gewesen, dem näher nachzugehen. Das Verwaltungsgericht hat dies unterlassen und damit auch gegen seine vom Asylgrundrecht umfasste Sachaufklärungspflicht verstoßen.
Der sich schon aus § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO ergebenden umfassenden Verpflichtung des Gerichts, von Amts wegen jede mögliche Aufklärung des Sachverhalts bis hin zur Grenze der Zumutbarkeit zu versuchen, kommt vorliegend im Hinblick auf Art. 16a GG verfassungsrechtliches Gewicht zu (vgl. oben 1. b≫). Die Darlegungs- und Mitwirkungspflicht des Asylbewerbers wäre überspannt, würde man von ihm verlangen, eine unterschiedliche Behandlung im Rahmen polizeilicher Maßnahmen bei der Strafverfolgung und -vollstreckung von politisch Verfolgten einerseits und (sonstigen) Straftätern andererseits von sich aus darzutun. Solange sich insoweit ein „Politmalus” bei solchen Verfolgungsmaßnahmen nicht von vornherein ausschließen lässt, ist es Sache des Gerichts, den Sachverhalt, soweit ihm Entscheidungserheblichkeit zukommt, auch tatsächlich in einer der Bedeutung des Asylgrundrechts entsprechenden Weise aufzuklären. Hierzu bestand vorliegend insbesondere deshalb Anlass, weil auch das hier zuständige Niedersächsische Oberverwaltungsgericht u.a. von einer im Vergleich zu sonstigen Straftätern häufigeren und härteren Misshandlung solcher Häftlinge im türkischen Polizeigewahrsam ausgeht, denen eine staatsfeindliche Gesinnung zugeschrieben wird (vgl. Beschluss der 1. Kammer vom 22. Januar 1999 – 2 BvR 86/97 –, InfAuslR 1999, S. 273 ≪278≫).
Sollte das Verwaltungsgericht die Angaben des Beschwerdeführers zu der ihm widerfahrenen menschenrechtswidrigen Behandlung durch staatliche Stellen für zu unbestimmt gehalten oder die Unmittelbarkeit einer drohenden Gefahr für Leib und Leben bezweifelt haben, hätte es angesichts des Umstandes, dass Eingriffe dieser Art, sofern sie an ein asylrelevantes Merkmal anknüpfen, generell die für die Zuerkennung des Asylrechts erforderliche Intensität aufweisen (vgl. oben 1. a≫), von sich aus den Sachverhalt weiter aufklären müssen, um die näheren Umstände der vom Beschwerdeführer mitgeteilten schweren Misshandlungen zu ermitteln. Das ist nicht geschehen.
c) Das Urteil des Verwaltungsgerichts beruht auf den dargelegten verfassungsrechtlichen Mängeln. Die weiteren in den Entscheidungsgründen angeführten Gesichtspunkte räumen den aufgezeigten Grundrechtsverstoß nicht aus und erweisen sich teilweise ihrerseits als ebenfalls verfassungsrechtlich nicht tragfähig.
aa) Das Verwaltungsgericht führt als Hilfserwägung an, es seien auch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass gegen den Beschwerdeführer wegen des Vorfalls (im Dezember 1994) weitere Maßnahmen hätten ergriffen werden sollen. Dagegen „spräche” insbesondere – so das Verwaltungsgericht weiter –, dass er nach seinen eigenen Angaben bis April 1995 weiter Wachaufgaben für sein Heimatdorf wahrgenommen haben wolle. Diese Hilfserwägung ist nicht geeignet, den aufgezeigten Fehler zu korrigieren. Sie könnte bei anzunehmender politischer Verfolgung durch die Folterungen im Dezember 1994 deren Asylrelevanz nicht nachträglich ausräumen. Kamen die genannten Maßnahmen aber – wie dargelegt – als Akte politischer Verfolgung in Frage, so musste der Beschwerdeführer in Anbetracht der von ihm gemachten Erfahrungen damit rechnen, auch zukünftig in asylrechtlich erheblicher Weise mit Maßnahmen der Sicherheitsbehörden überzogen zu werden. Für eine gegenteilige Feststellung ist – jedenfalls mangels ausreichender Sachaufklärung – kein Raum.
bb) Die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass die erlittenen Folterungen im März 1993und im Dezember 1994 nicht im erforderlichen Kausalzusammenhang zur Flucht im April 1995 stünden, ist jedenfalls ohne nähere Begründung und weitere Sachaufklärung ebenfalls verfassungsrechtlich nicht tragfähig.
Der asylrechtlich geforderte Kausalzusammenhang zwischen politischer Verfolgung und Flucht fehlt nur dann, wenn ein Asylbewerber nach erlittener politischer Verfolgung noch längere Zeit im Heimatland verbleibt und in dieser Zeit dort unbehelligt und verfolgungsfrei leben kann (vgl. BVerfGE 74, 51 ≪60 ff.≫; 80, 315 ≪344≫; BVerwGE 87, 52 ≪55 f.≫; 87, 141 ≪146 f.≫). Insofern bedarf es einer Zusammenschau der vom Asylbewerber zur Begründung seiner Verfolgungsfurcht vorgetragenen fortlaufenden Kette von Ereignissen. Umstände, die den erforderlichen Kausalzusammenhang zwischen politischer Verfolgung und Flucht entfallen lassen könnten, sind danach hier nicht ersichtlich.
Betrachtet man die Ereignisse – wie geboten – realitätsgerecht im Zusammenhang, nämlich zum einen die erste Folterung im März 1993 – bei der es sich nur dann um eine für die Beurteilung unerhebliche abgeschlossene Verfolgungsmaßnahme gehandelt hätte, wenn man die erneuten schweren Folterungen im Dezember 1994 außer Betracht ließe – und zum anderen die Folterungen im Dezember 1994 und die Ereignisse im Zusammenhang mit der Verhaftung des Bruders des Beschwerdeführers im März 1995, so ist die Feststellung des Verwaltungsgerichts, es bestünden keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die Sicherheitskräfte den Beschwerdeführer im Zusammenhang mit dem Vorfall um seinen Bruder hätten festnehmen wollen, sinngemäß handele es sich also bei den Maßnahmen im Dezember 1994 um eine in der Vergangenheit liegende abgeschlossene Verfolgung, von Verfassungs wegen nicht mehr nachvollziehbar und verlässt deshalb den fachgerichtlichen Wertungsrahmen. Sollte das Verwaltungsgericht die Angaben des Beschwerdeführers zu den letztlich fluchtauslösenden Vorfällen mit seinem Bruder für zu unbestimmt gehalten haben, hätte es von sich aus den Sachverhalt weiter aufklären müssen. Das ist nicht geschehen.
Auch der Verweis darauf, dass der Beschwerdeführer weiterhin Wachaufgaben wahrgenommen haben wolle und weitere Maßnahmen gegen ihn offenbar nicht hätten ergriffen werden sollen, erweist sich nicht als tragfähig. Ihm liegt gleichfalls eine nicht realitätsgerechte Aufsplitterung eines Lebenssachverhalts in Einzelvorgänge zugrunde, in deren Folge das Verwaltungsgericht sich zu Unrecht von einer weiteren Prüfung der Vorfälle im Zusammenhang mit der Verhaftung des Bruders auf deren Asylrelevanz für den Beschwerdeführer entbunden sah, nachdem es den vom Beschwerdeführer zuvor erlittenen Maßnahmen auf – wie dargelegt – verfassungsrechtlich nicht tragfähiger Grundlage die Asylerheblichkeit abgesprochen hatte. Das Verwaltungsgericht erläutert selbst, ihm sei bekannt, dass vielfach nach männlichen Familienangehörigen gefragt werde, um festzustellen, ob Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass die Betreffenden „in die Berge” (d.h. zur Guerilla) gegangen seien. Bereits nach diesen Ausführungen des Verwaltungsgerichts bestand für die Sicherheitskräfte weiterhin Anlass, den Beschwerdeführer einer Zusammenarbeit mit der PKK zu verdächtigen. Lediglich in Fällen, in denen der Betroffene zuvor von den Sicherheitskräften in keinerlei Verbindung zur PKK gebracht wurde, könnte die Frage der Sicherheitskräfte nach dem Verbleib männlicher Familienangehöriger verfassungsrechtlich tragfähig ohne Weiteres als reine Routineanfrage betrachtet werden.
cc) Die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur inländischen Fluchtalternative sind in sich widersprüchlich und können das angegriffene Urteil deshalb ebenfalls nicht tragen.
Das Verwaltungsgericht schließt sich durch Bezugnahme auf ein Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts dessen Beurteilung an, es erscheine durchaus plausibel, dass die Sicherheitskräfte ihre Maßnahmen zum Aufgreifen von PKK-Verdächtigen auch im Westen der Türkei und dabei insbesondere innerhalb der Gruppe der aus dem Osten zugewanderten Kurden weiter intensiviert hätten. Es sei zwar nicht erkennbar, dass damit im Zusammenhang stehende Übergriffe ohne das Vorliegen eines besonderen Anlasses oder konkreter Verdachtsmomente ausschließlich oder überwiegend an die kurdische Volkszugehörigkeit anknüpften. Vielmehr richteten sie sich in der Regel gegen politisch aktive Kurden, denen von den türkischen Sicherheitsbehörden Separatismus vorgeworfen werde. Soweit Beispielsfälle genannt würden, in denen Polizeibeamte ohne konkrete Verdachtsmomente gegen kurdische Volkszugehörige vorgegangen seien, handele es sich dabei um eine begrenzte Zahl von Einzelfällen, die einen Rückschluss darauf, im Westen der Türkei richte sich polizeiliches Vorgehen generell gegen alle Kurden ohne Ansehung eines individuellen Verdachts oder das Vorliegen eines besonderen Anlasses, nicht erlaubten. Im Falle des Vorwurfs des Separatismus komme es aber nach Festnahmen vor allem in Staatssicherheitssachen in den Großstädten im Westen immer wieder vor, dass die Betroffenen misshandelt würden, obwohl dies nach der Strafprozessordnung untersagt sei.
Im Hinblick hierauf war asylrechtlich zumindest eine weitere Sachverhaltsaufklärung durch das Verwaltungsgericht angezeigt. War der Betroffene – wie hier der Beschwerdeführer – in der Vergangenheit bereits zweimal Opfer staatlicher Maßnahmen wegen des Verdachts der Unterstützung der PKK, von der die letzte gerade einmal vier Monate zurücklag, so ist nach den vom Verwaltungsgericht in Bezug genommenen Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts eine erneute Verfolgungsgefahr im Westen der Türkei – gegebenenfalls sogar mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit – selbst dann nicht von der Hand zu weisen, wenn die frühere Verfolgungsmaßnahme als abgeschlossen zu betrachten ist. Bei dem hier – nach den Ausführungen oben zu 1. a) und b) – in Betracht zu ziehenden Prognosemaßstab der hinreichenden Verfolgungssicherheit gilt dies erst recht.
dd) Verfassungsrechtlich nicht tragfähig ist schließlich auch die vom Verwaltungsgericht angestellte Prognose hinsichtlich der Rückkehrgefährdung. Soweit nach den bisherigen Darlegungen eine Vorverfolgung des Beschwerdeführers nicht auszuschließen ist, ist zu seinen Gunsten vom herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab für die Prognose zukünftiger Verfolgungssicherheit auszugehen. Die Rückkehr in den Herkunftsstaat wäre ihm danach nur dann zumutbar, wenn er in allen Landesteilen der Türkei für die absehbare Zukunft hinreichend sicher vor (erneuter) Verfolgung wäre (vgl. BVerfGE 54, 341 ≪360≫) oder jedenfalls verfolgungsfrei eine zumutbare inländische Fluchtalternative erreichen könnte (vgl. BVerfGE 80, 315 ≪343 ff.≫; 81, 58 ≪65 f.≫). Aus der Sicht des Verwaltungsgerichts, das von einer unverfolgten Ausreise des Beschwerdeführers ausging, bestand freilich keine Veranlassung, von diesem herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab auszugehen; ausreichend war vielmehr die Feststellung, dem Beschwerdeführer drohe im Falle der Rückkehr jedenfalls nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung. Auch insoweit sind aber angesichts der vom Verwaltungsgericht festgestellten Misshandlungen des Beschwerdeführers die weiteren Darlegungen in sich widersprüchlich und damit verfassungsrechtlich nicht tragfähig:
Das Verwaltungsgericht führt zur Rückkehrproblematik – wiederum durch Inbezugnahme eines Urteils des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts – u.a. aus, zurückkehrende Asylbewerber kurdischer Volkszugehörigkeit, die – wie der Beschwerdeführer – nicht im Besitz gültiger Reisepapiere seien, müssten bei ihrer Einreise im Regelfall mit einer eingehenderen Befragung und einer Identitätsüberprüfung rechnen, die im Einzelfall auch mehrere Tage in Anspruch nehmen könne. Hierbei komme es auch zu einer Befragung nach Vorstrafen oder zur Asylantragstellung. Die Identitätsprüfung stelle zwar keinen asylerheblichen Eingriff dar und erfolge auch nicht wegen eines asylerheblichen Merkmals, etwa der Volkszugehörigkeit, sondern diene neben der Ermittlung von Straftätern und der Personenfeststellung dazu, gesuchter PKK-Angehöriger oder Unterstützer dieser Organisation habhaft zu werden. Stehe aber der Betroffene unter dem konkreten Verdacht, Unterstützer oder gar Angehöriger der PKK zu sein, oder werde er deswegen bereits gesucht, müsse die Anwendung von Folter ernsthaft in Betracht gezogen werden. Nach wie vor komme es in der Türkei vor allem im Polizeigewahrsam zu Folterungen. Insbesondere würden Verdächtige, denen Staatsschutzdelikte vorgeworfen würden, also Terrorismus und Separatismus, zur Erlangung von Geständnissen gefoltert.
Hiernach hätte sich im Falle des Beschwerdeführers dem Verwaltungsgericht die Frage einer verfolgungsfreien Erreichbarkeit der West-Türkei stellen müssen. Angesichts der unter Bezugnahme auf das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht festgestellten Auskunftslage war gegebenenfalls sogar mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass der Beschwerdeführer aufgrund des gegen ihn bestehenden Verdachts, Unterstützer der PKK zu sein, bei der Einreise erneut gefoltert werden würde.
III.
1. Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist demnach aufzuheben, ohne dass es auf weitere hiergegen erhobene Rügen ankommt. Die Sache ist an das Verwaltungsgericht zurück zu verweisen (vgl. § 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG), damit über den Asylantrag des Beschwerdeführers neu entschieden werden kann.
2. Damit ist der ebenfalls angegriffene Beschluss des Oberverwaltungsgerichts gegenstandslos.
IV.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 und 3 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).
Unterschriften
Sommer, Broß, Osterloh
Fundstellen
Haufe-Index 565353 |
InfAuslR 2000, 254 |
ZAR 2000, 138 |