Verfahrensgang
Tenor
- Der Beschluss des Landgerichts Regensburg vom 11. August 2005 – StVK 424/2005 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes. Die Entscheidung wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Regensburg zurückverwiesen.
- Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Gewährung effektiven Rechtsschutzes gegen die Anordnung belastender Maßnahmen im Maßregelvollzug.
I.
Der Beschwerdeführer ist gemäß § 63 StGB im Bezirkskrankenhaus Straubing untergebracht. Am 31. Juli 2005 gab ein Mitpatient gegenüber dem Stationsarzt an, der Beschwerdeführer habe ihn gebeten, ihm gegen Entgelt die Anschrift eines Klinikmitarbeiters zu besorgen, um dessen Familie zu bedrohen. Daraufhin wurde der Beschwerdeführer kurzzeitig in eine Isolationszelle verbracht. Aus seinem Zimmer wurden unterdessen verschiedene Gegenstände – nach Angaben des Beschwerdeführers unter anderem ein Bürostuhl, Gesetzbücher und Verteidigerpost – entfernt, und es wurde angeordnet, dass der Beschwerdeführer vorübergehend abzusondern – das heißt in seinem Zimmer einzusperren – sei und ihm für vier Wochen nur die sogenannte Grundausstattung zur Verfügung stehen solle.
Gegen die Anordnung der Absonderung und der Beschränkung auf die Grundausstattung wandte der Beschwerdeführer sich am 3. August 2005 mit einem Antrag auf gerichtliche Entscheidung, mit dem er zugleich die vorläufige Aussetzung des Vollzugs der Maßnahme begehrte. Er bestritt den Vorwurf des Mitpatienten. Vielmehr habe er dessen Angebot, ihm die Adresse gegen Entgelt zu besorgen, abgelehnt. Der Mitpatient habe, wie auch behördlicherseits bekannt sei, schon mehrfach falsche Anschuldigungen erhoben.
Das Bezirkskrankenhaus machte demgegenüber geltend, die Einlassung des Beschwerdeführers sei nicht glaubhaft. Die Absonderung und die Beschränkung auf die Grundausstattung seien aus Gründen der Sicherheit und Ordnung angeordnet worden. Die Absonderung habe auch zur Sicherstellung der medikamentösen Behandlung verhängt werden müssen, weil der Beschwerdeführer in der Vergangenheit die ärztlich angeordnete Medikation teilweise nicht eingenommen habe.
Den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes wies das Landgericht Regensburg mit Beschluss vom 11. August 2005 zurück. Der Antrag sei unzulässig, weil die besonderen Voraussetzungen des § 114 Abs. 2 StVollzG i.V.m. § 123 VwGO nicht vorlägen. Eine einstweilige Anordnung dürfe die Hauptsacheentscheidung nur ausnahmsweise und nur dann vorwegnehmen, wenn anderenfalls dem Antragsteller schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstehen würden. Dies sei aber nicht der Fall. Der Beschwerdeführer befinde sich zwar in einem Zimmer auf Absonderung, dürfe nicht telefonieren und habe nur bestimmte persönliche Gegenstände zur Verfügung, doch seien dies keine irreparablen, über den belastenden Charakter der Maßnahme selbst hinausgehenden Nachteile. Dem Beschwerdeführer sei es zumutbar, die Hauptsacheentscheidung abzuwarten.
II.
1. Mit seiner rechtzeitig eingelegten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Grundrechts aus Art. 19 Abs. 4 GG. Das Gericht habe nicht ausreichend zwischen den Voraussetzungen des § 114 Abs. 2 Satz 1 und denen des § 114 Abs. 2 Satz 2 StVollzG unterschieden. Ein Fall der Vorwegnahme der Hauptsache liege nicht vor.
2. Das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen hatte Gelegenheit zur Äußerung; es hat keine Stellungnahme abgegeben.
III.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93b Satz 1 i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), und gibt ihr statt. Die Entscheidungskompetenz der Kammer ist gegeben (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG); das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung maßgebenden verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden.
1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Der Rechtsweg im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ist erschöpft; gegen die angegriffene Entscheidung ist ein Rechtsmittel nicht gegeben (vgl. § 114 Abs. 2 Satz 3 StVollzG). Die Erschöpfung des Rechtswegs in der Hauptsache ist nicht geboten, weil der Beschwerdeführer eine Grundrechtsverletzung geltend macht, die gerade in der Behandlung seines Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz liegt und im Hauptsacheverfahren nicht mehr ausgeräumt werden kann (vgl. BVerfGE 69, 315 ≪340≫; 80, 40 ≪45≫; 104, 65 ≪70 f.≫).
Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht auch nicht entgegen, dass die Maßnahmen, gegen die der Beschwerdeführer einstweiligen Rechtsschutz begehrt hat, inzwischen vollständig vollzogen sind. Nach Erledigung des ursprünglichen Antrags besteht ein Rechtsschutzinteresse jedenfalls bei gewichtigen Grundrechtsverstößen unter anderem dann fort, wenn die Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt sich nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränkt, in der der Betroffene eine gerichtliche Entscheidung kaum erlangen kann (vgl. BVerfGE 110, 77 ≪86≫). Dies gilt auch für das Verfassungsbeschwerdeverfahren. Rügt der Beschwerdeführer, ihm sei vorläufiger Rechtsschutz zu Unrecht verweigert worden, so macht er jedenfalls dann einen gewichtigen Grundrechtsverstoß geltend, wenn die Maßnahmen, gegen die vorläufiger Rechtsschutz begehrt wurde, ihrerseits gewichtig sind (vgl. Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 7. September 1994 – 2 BvR 1958/93 –, ZfStrVO 1995, S. 371 ff., und vom 11. Juni 2003 – 2 BvR 1724/02 –, BVerfGK 1, 201 ≪203 f.≫). Dies ist hier der Fall.
2. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Der angegriffene Beschluss des Landgerichts Regensburg verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG).
a) Für die Gerichte ergeben sich aus der verfassungsrechtlichen Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes Anforderungen an die Auslegung und Anwendung der jeweiligen gesetzlichen Bestimmungen über den Eilrechtsschutz (vgl. BVerfGE 49, 220 ≪226≫; 77, 275 ≪284≫). Diese muss darauf ausgerichtet sein, dass der Rechtsschutz sich auch im Eilverfahren nicht in der bloßen Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts erschöpft, sondern zu einer wirksamen Kontrolle in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht führt (Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Juni 2003 – 2 BvR 1724/02 –, BVerfGK 1, 201 ≪204 f.≫).
b) Die Auslegung und Anwendung des § 114 Abs. 2 StVollzG durch das Landgericht Regensburg verkennt die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Gewährung effektiven Rechtsschutzes bei belastenden Maßnahmen.
Nach § 114 Abs. 2 StVollzG kann das Gericht den Vollzug einer angefochtenen Maßnahme aussetzen, wenn die Gefahr besteht, dass die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert wird, und ein höher zu bewertendes Interesse an dem sofortigen Vollzug nicht entgegensteht (Satz 1); unter den Voraussetzungen des § 123 Abs. 1 VwGO kann eine einstweilige Anordnung erlassen werden (Satz 2). Mit dieser Regelung differenziert der Gesetzgeber – ähnlich wie in den §§ 80, 123 VwGO – nach dem Gegenstand der Hauptsache. Wendet sich der Antragsteller gegen eine ihn belastende Maßnahme, so kann das Gericht den Vollzug dieser Maßnahme schon unter den Voraussetzungen des § 114 Abs. 2 Satz 1 StVollzG aussetzen. Begehrt der Antragsteller dagegen die Verpflichtung zum Erlass einer von der Anstalt abgelehnten oder unterlassenen Maßnahme, so kommt vorläufiger Rechtsschutz nur unter den Voraussetzungen des § 114 Abs. 2 Satz 2 StVollzG i.V.m. § 123 Abs. 1 VwGO in Betracht.
Das Landgericht hat rechtsfehlerhaft lediglich geprüft, ob der Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 114 Abs. 2 StVollzG i.V.m. § 123 VwGO in Betracht kam, nicht dagegen, ob gemäß § 114 Abs. 2 Satz 1 StVollzG der Vollzug der angefochtenen Maßnahme bis zu einer Hauptsacheentscheidung auszusetzen war. Damit hat das Gericht nicht nur das für die Auslegung von Anträgen maßgebliche, aus dem Gesamtzusammenhang des Antragsvorbringens (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Oktober 1993 – 2 BvR 1004/93 –, StV 1994, S. 201 ≪202≫) zu ermittelnde Rechtsschutzziel des Beschwerdeführers verkannt, sondern sich auch über den Wortlaut des vom Beschwerdeführer gestellten, ausdrücklich auf Aussetzung gerichteten Antrags hinweggesetzt.
Ferner ist die Annahme des Gerichts, die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes führe zu einer Vorwegnahme der Hauptsache, unhaltbar. Die nur vorläufige Aussetzung einer Maßnahme nach § 114 Abs. 2 Satz 1 StVollzG bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache stellt keine Vorwegnahme der Hauptsache dar. Die bloße Tatsache, dass die vorübergehende Aussetzung als solche nicht wieder rückgängig gemacht werden kann, macht die vorläufige Regelung nicht zu einer faktisch endgültigen. Die vorläufige Aussetzung ist vielmehr, sofern die Voraussetzungen für eine stattgebende Eilentscheidung im Übrigen vorliegen, gerade der typische, vom Gesetzgeber vorgesehene Regelungsgehalt des vorläufigen Rechtsschutzes gegen belastende Maßnahmen (vgl. Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 9. November 1993 – 2 BvR 2212/93 –, NStZ 1994, S. 101 f.; vom 17. Juni 1999 – 2 BvR 1454/98 –, NStZ 1999, S. 532; vom 31. März 2003 – 2 BvR 1779/02 –, NVwZ 2003, S. 1112 f. und vom 11. Juni 2003 – 2 BvR 1724/02 –, BVerfGK 1, 201 ≪206≫). Das Gericht hätte daher, ohne insoweit durch den Gesichtspunkt einer unzulässigen Vorwegnahme der Hauptsache gebunden zu sein, gemäß § 114 Abs. 2 Satz 1 StVollzG prüfen müssen, ob die Gefahr besteht, dass die Verwirklichung eines Rechts des Beschwerdeführers vereitelt oder wesentlich erschwert wird, und ob der Aussetzung kein höher zu bewertendes Interesse an dem sofortigen Vollzug entgegensteht. Diese Interessenabwägung hat das Gericht nicht in der verfassungsrechtlich gebotenen Weise vorgenommen. Die Annahme des Gerichts, dem Beschwerdeführer sei das Abwarten der Hauptsacheentscheidung zumutbar, beruht ersichtlich auf der unzutreffenden Annahme, es handele sich um eine Vornahmesache. Ob das Gericht den für Vornahmesachen geltenden Maßstab (vgl. BVerfGE 46, 166 ≪179≫) richtig angewandt hat, kann offenbleiben. Jedenfalls in Anbetracht dessen, dass tatsächlich die Aussetzung einer den Beschwerdeführer erheblich belastenden Maßnahme beantragt war, fehlt für die Annahme, dem Beschwerdeführer sei das Abwarten der Hauptsacheentscheidung zumutbar, eine nachvollziehbare Begründung. Zum Zeitpunkt der Entscheidung war absehbar, dass eine Hauptsacheentscheidung erst nach Erledigung der angegriffenen Maßnahme und damit erst nach Schaffung vollendeter Tatsachen ergehen würde. Die Aufgabe effektiven vorläufigen Rechtsschutzes ist es aber gerade, der Schaffung vollendeter Tatsachen, die mit einer Hauptsacheentscheidung nicht mehr rückgängig gemacht werden können, soweit wie möglich zuvorzukommen (vgl. BVerfGE 37, 150 ≪153≫; 65, 1 ≪70≫).
Die angegriffene Entscheidung beruht auf dem festgestellten Verfassungsverstoß. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Gericht bei Beachtung der verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Gewährung effektiven Rechtsschutzes eine dem Beschwerdeführer günstigere Entscheidung getroffen hätte.
3. Die Entscheidung über die Aufhebung und Zurückverweisung beruht auf § 95 Abs. 2 BVerfGG. Die Aufhebung des landgerichtlichen Beschlusses und die Zurückverweisung der Sache ist ungeachtet des zwischenzeitlichen Vollzugs der Maßnahmen angezeigt, damit das zuständige Gericht noch Gelegenheit hat, eine Entscheidung zur Kostenfrage zu treffen (vgl. BVerfGE 6, 386 ≪389≫).
4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Broß, Lübbe-Wolff, Gerhardt
Fundstellen