Verfahrensgang
Tenor
1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 18. August 2010 – 11 UF 411/10 – verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 18. August 2010 – 11 UF 411/10 – wird aufgehoben und die Sache an das Oberlandesgericht Koblenz zurückverwiesen.
Die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Koblenz vom 30. August 2010 – 11 UF 411/10 – und vom 7. September 2010 – 11 UF 411/10 – werden damit gegenstandslos.
2. Das Land Rheinland-Pfalz hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
Tatbestand
I.
Die Beschwerdeführerin begehrt die rückwirkende Zahlung einer Rente im Rahmen des verlängerten schuldrechtlichen Versorgungsausgleichs.
1. Die Beschwerdeführerin wurde 1989 geschieden. Im Scheidungsurteil wurde der Versorgungsausgleich auch hinsichtlich der Anwartschaften des Ehemannes auf eine betriebliche Altersversorgung durchgeführt. Der geschiedene Ehemann starb am 10. Juli 1999.
a) Mit Schreiben vom 28. August 1999 verlangte die Beschwerdeführerin einen Unterhaltsbeitrag vom ehemaligen Arbeitgeber des geschiedenen Ehemannes, der E. AG. Mit Schreiben vom 8. September 1999 begehrte die Beschwerdeführerin, über die Voraussetzungen eines Unterhaltsbeitrags aufgeklärt zu werden. Mit erneutem Schreiben vom 8. März 2000 erklärte die Beschwerdeführerin, sie wolle einer abschlägigen Mitteilung „nicht widersprechen”, bitte aber noch einmal um „wohlwollende Prüfung”.
Im Dezember 2002 beantragte die Beschwerdeführerin, den Versorgungsausgleich neu zu regeln und die E. AG zu verpflichten, im Rahmen des verlängerten schuldrechtlichen Versorgungsausgleichs gemäß § 3a des Gesetzes zur Regelung von Härten im Versorgungsausgleich (VAHRG) die unterbliebene Versorgungsrente an sie zu zahlen. Mit Bescheid vom 3. Juli 2003 wurde der Beschwerdeführerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab dem 1. Januar 2000 bewilligt.
b) Mit Beschluss des Amtsgerichts Karlsruhe vom 18. Februar 2005 wurde die E. AG verpflichtet, mit Wirkung erst ab dem 1. Januar 2003 monatlich eine verlängerte schuldrechtliche Ausgleichsrente an die Beschwerdeführerin zu zahlen.
Mit Beschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 25. November 2005 – 2 UF 75/05 – wurde die Beschwerde der Beschwerdeführerin im Wesentlichen zurückgewiesen. Aus dem Verweis in § 3a Abs. 6 VAHRG auf § 1585b Abs. 2 und 3 BGB ergebe sich, dass die verlängerte Ausgleichsrente trotz vorheriger Erfüllung der Voraussetzungen erst ab dem Zeitpunkt der Rechtshängigkeit beziehungsweise der Inverzugsetzung verlangt werden könne. Der Beschwerdeführerin stehe danach kein Anspruch auf Ausgleichszahlungen vor dem 1. Januar 2003 zu. Die E. AG sei vor diesem Zeitpunkt nicht in Verzug geraten. Die Schreiben der Beschwerdeführerin aus dem Jahr 1999 seien vor Fälligkeit des Anspruchs aus § 3a VAHRG, der den Renteneintritt der Beschwerdeführerin am 1. Januar 2000 voraussetze, eingegangen. Aber auch das Schreiben vom 8. März 2000 habe keine verzugsbegründende Wirkung, da das Schreiben kein Leistungsverlangen, sondern nur eine Bitte um Überprüfung unter Billigkeitsgesichtspunkten enthalten habe.
c) Ein weiteres Abänderungsverfahren, das aufgrund eines Wohnsitzwechsels der Beschwerdeführerin an das Amtsgericht Bingen am Rhein abgegeben wurde, blieb bis vor dem Oberlandesgericht Koblenz erfolglos.
d) Mit Bescheid vom 15. Juni 2009 erkannte die Deutsche Rentenversicherung Bund an, dass die Anspruchsvoraussetzungen für die Rente der Beschwerdeführerin wegen Erwerbsunfähigkeit ab dem 3. Februar 1999 erfüllt waren. Daraufhin begehrte die Beschwerdeführerin in einem erneuten Abänderungsantrag, ihr die Betriebsrente ab dem 1. September 1999 rückwirkend zu zahlen.
e) Mit Beschluss des Amtsgerichts Bingen am Rhein vom 10. Juni 2010 – 80 F 58/10 – wurde der Antrag zurückgewiesen, da der Betriebsrentenversicherungsträger vor dem 1. Januar 2003 nicht in Verzug geraten sei. Verzug sei nur bei Vertretenmüssen möglich. Im Hinblick auf die rechtskräftigen Vorentscheidungen hätte der Betriebsrententräger weitere Zahlungen gar nicht leisten dürfen. Die erneute Antragstellung aufgrund einer korrigierten Beurteilung der Deutschen Rentenversicherung könne den Verzug nicht rückwirkend wieder aufleben lassen.
f) Mit – angegriffenem – Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 18. August 2010 – 11 UF 411/10 – wurde die Beschwerde der Beschwerdeführerin zurückgewiesen. Der schuldrechtliche Versorgungsausgleich nach § 3a VAHRG setze einen bereits eingetretenen Rentenbezug voraus. Trotz des neuen Rentenbescheids vom 15. Juni 2009 habe die Beschwerdeführerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit tatsächlich nicht vor dem 1. Januar 2003 bezogen. Außerdem fehle es an einer verzugsbegründenden Mahnung. Sie habe einen Rentenbezug ihrem verstorbenen Ehemann beziehungsweise der Witwe ihres geschiedenen Mannes, Frau S., mit ihren Schreiben nicht anzeigen können, weil ein solcher nicht stattgefunden habe. Frau S., nicht die E. AG, sei Gegnerin des Verfahrens.
g) Mit – angegriffenem – Beschluss vom 30. August 2010 wurden die Gegenvorstellung und Anhörungsrüge der Beschwerdeführerin zurückgewiesen. Ihr Vorbringen sei umfassend gewürdigt worden. Eine weitere Anhörungsrüge und Gegenvorstellung wurde mit – angegriffenem – Beschluss vom 7. September 2010 zurückgewiesen.
2. In ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin, die angegriffenen Entscheidungen des Oberlandesgerichts Koblenz ließen außer Acht, dass gemäß § 1587g Abs. 1 Satz 2 BGB eine Erwerbsunfähigkeit und nicht allein der tatsächliche Rentenbeginn den verlängerten schuldrechtlichen Versorgungsausgleich erlaube. Die Entscheidungen des Oberlandesgerichts seien insofern willkürlich und verletzten ihr Recht auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG.
3. Die Akten des Ausgangsverfahrens wurden beigezogen. Die Landesregierung Rheinland-Pfalz hatte Gelegenheit zur Stellungnahme, hat davon jedoch nicht Gebrauch gemacht.
Entscheidungsgründe
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung anzunehmen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführerin geboten ist. Die Kammer ist für diese Entscheidung zuständig, weil die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sind und die zulässige Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet ist (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
1. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen allerdings nicht den Anspruch der Beschwerdeführerin auf rechtliches Gehör.
Art. 103 Abs.1 GG verpflichtet das erkennende Gericht, den Vortrag der Beteiligten zu berücksichtigen, das heißt zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen (vgl. BVerfGE 65, 293 ≪295 f.≫; 87, 363 ≪392 f.≫; 96, 205 ≪216 f.≫). Vorliegend hat sich das Oberlandesgericht mit dem Vorbringen der Beschwerdeführerin auseinandergesetzt. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen nicht auf einer Gehörsverletzung. Dass das Gericht zu einer anderen rechtlichen Bewertung gelangt als die Beschwerdeführerin, begründet keine Gehörsverletzung.
2. Jedoch verletzt der Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 18. August 2010 Art. 3 Abs. 1 GG.
a) Zwar begründet eine fehlerhafte Anwendung einfachen Rechts allein noch keinen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (vgl. BVerfGE 67, 90 ≪94 ff.≫). Ist eine Entscheidung jedoch sachlich schlechthin unhaltbar, so ist sie objektiv willkürlich. Ohne dass es auf subjektive Umstände oder ein Verschulden des Gerichts ankäme, stellt eine derartige willkürliche Entscheidung einen Verstoß gegen das aus Art. 3 Abs. 1 GG abzuleitende Verbot dar, offensichtlich unsachliche Erwägungen zur Grundlage einer staatlichen Entscheidung zu machen (vgl. BVerfGE 58, 163 ≪167 f.≫; 62, 189 ≪192≫; 71, 122 ≪136≫; 71, 202 ≪205≫).
b) Von einer derart fehlerhaften Entscheidung ist hier auszugehen.
Gemäß § 3a Abs. 1 Satz 1 VAHRG in Verbindung mit § 1587g Abs. 1 Satz 2 BGB ist auf Seiten des Berechtigten nicht allein auf den Rentenbezug, sondern alternativ auf das Vorliegen einer Erwerbsunfähigkeit abzustellen, die angesichts des von der Beschwerdeführerin vorgelegten Rentenbescheids bereits seit Februar 1999 bestand. Die zweite Alternative in § 1587g Abs. 1 Satz 2 BGB hat das Oberlandesgericht nicht berücksichtigt. Diese nicht mehr verständliche Entscheidung begründet einen Verstoß gegen das Willkürverbot.
Überdies ist gemäß § 3a Abs. 1 VAHRG Anspruchsgegner der Träger der auszugleichenden Versorgung, nicht – wie vom Oberlandesgericht angenommen – der Rechtsnachfolger des inzwischen verstorbenen Ehegatten. Es ist unverständlich, warum eine andere Person als der Schuldner der Ausgleichsrente Empfänger einer verzugsbegründenden Mahnung für den Anspruch auf Zahlung einer Ausgleichsrente in der Vergangenheit gemäß § 3a Abs. 6 VAHRG in Verbindung mit § 1585b Abs. 2, § 1613 Abs. 1 Satz 1 BGB sein sollte.
Von einer weiteren Begründung wird abgesehen.
3. Die Entscheidung über die Aufhebung und Zurückverweisung des Beschlusses des Oberlandesgerichts Koblenz vom 18. August 2010 beruht auf § 93c Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 BVerfGG in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG. Die ebenfalls angegriffenen Beschlüsse des Oberlandesgerichts Koblenz über die Anhörungsrüge und Gegenvorstellung vom 30. August und 7. September 2010 werden damit gegenstandslos.
4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Gaier, Paulus, Britz
Fundstellen
FamRZ 2012, 431 |
FamFR 2012, 107 |