Verfahrensgang
OLG Karlsruhe (Beschluss vom 12.01.2006; Aktenzeichen 3 Ws 14/06) |
LG Mannheim (Beschluss vom 19.12.2005; Aktenzeichen 6 KLs 303 Js 18831/04) |
Tenor
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 12. Januar 2006 – 3 Ws 14/06 – und der Beschluss des Landgerichts Mannheim vom 19. Dezember 2005 – 6 KLs 303 Js 18831/04 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.
Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Das Land Baden-Württemberg hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
A.
Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen die Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft.
I.
1. a) Der Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger und befindet sich seit dem 25. Juni 2004 auf Grund des Haftbefehls des Amtsgerichts Mannheim vom 24. Juni 2004 in Untersuchungshaft. Der Beschwerdeführer wurde dringend verdächtigt, seine Ehefrau in zehn Fällen vergewaltigt zu haben. Als Haftgrund wurde Fluchtgefahr angeführt.
b) Unter dem 29. Juni 2004 erstellte die Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Mannheim die Anklageschrift. Mit Beschluss vom 2. November 2004 eröffnete das Landgericht Mannheim unter Erteilung eines rechtlichen Hinweises die Hauptverhandlung. Am 4. November 2004 wurde der Beginn der Hauptverhandlung auf den 22. November 2004 bestimmt.
c) Die Hauptverhandlung vor dem Landgericht Mannheim fand zwischen dem 22. November und dem 22. Dezember 2004 an insgesamt sechs Sitzungstagen statt. Am 22. Dezember 2004 stellte das Landgericht das Verfahren in Bezug auf fünf Tatvorwürfe nach § 154 Abs. 2 StPO vorläufig ein. Mit Urteil vom gleichen Tage sah es den Beschwerdeführer der Vergewaltigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung in fünf tatmehrheitlichen Fällen als schuldig an und verhängte eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren. Zugleich beschloss es nach Maßgabe der Verurteilung die Fortdauer der Untersuchungshaft.
d) Gegen das Urteil legte der Beschwerdeführer Revision ein. Das vollständig abgesetzte Urteil wurde am 8. Februar 2005 auf der Geschäftsstelle niedergelegt. Das Protokoll der Hauptverhandlung wurde am 25. Februar 2005 fertiggestellt. Unter dem 18. März 2005 wurde die Zustellung des Urteils verfügt. Die Verfügung wurde ausweislich eines Erledigungsvermerks am 31. März 2005 ausgeführt. Die Revisionsbegründung des Beschwerdeführers ging am 5. April 2005 beim Landgericht ein. Weitere Ausführungen zur Begründung der Revision folgten unter dem 4. Mai 2005. Unter dem 11. Mai 2005 wurde die Vorlage der Akten nebst der beglaubigten Abschriften dieser Revisionsbegründung an die Staatsanwaltschaft verfügt. Die Verfügung wurde am 20. Juni 2005 ausgeführt. Die Revisionsbegründungen gingen am 21. Juni 2005 bei der Staatsanwaltschaft ein. Die Gegenerklärung der Staatsanwaltschaft zur Revisionsbegründung wurde am 28. Juni 2005 gefertigt, die zusammen mit den Akten am 4. Juli 2005 beim Landgericht einging. Von dort wurden die Akten am 5. Juli 2005 wiederum zum Zwecke der Weiterleitung an das Revisionsgericht der Staatsanwaltschaft vorgelegt. Der Generalbundesanwalt legte die Akten mit Verfügung vom 4. August 2005 dem Bundesgerichtshof vor, wo sie am 9. August 2005 eingingen.
e) Mit Beschluss vom 25. Oktober 2005 hob der Bundesgerichtshof das Urteil des Landgerichts mit den Feststellungen auf und verwies die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurück. Zur Begründung wurde angeführt, dass das Urteil unter Verstoß gegen § 260 Abs. 1 StPO nach der Erteilung des letzten Wortes ohne nochmalige Beratung verkündet worden sei. Auch die nochmalige Unschuldsbeteuerung des Angeklagten müsse Gegenstand der Urteilsberatung sein. Sie könne mitunter so eindringlich ausfallen, dass sie – weil der Urteilsberatung unmittelbar vorausgehend – geeignet sei, das bisherige Beratungsergebnis zu beeinflussen. Auch deshalb schreibe das Gesetz in § 258 Abs. 2 StPO vor, dass das letzte Wort dem Angeklagten gebühre.
f) Die Zustellung des Beschlusses des Bundesgerichtshofs an den Beschwerdeführer wurde am 25. November 2005 bewirkt. Die Akten gingen beim Landgericht Mannheim am 5. Dezember 2005 ein. Termine zur Durchführung der erneuten Hauptverhandlung sind auf den 20. bis 23. März sowie den 3. und 4. April 2006 bestimmt worden.
2. Mit Beschluss vom 19. Dezember 2005 wies das Landgericht Mannheim die vom Beschwerdeführer erhobene Beschwerde gegen den Haftfortdauerbeschluss des Landgerichts Mannheim vom 22. Dezember 2004 als unbegründet zurück.
Ein dringender Tatverdacht bezüglich der dem Beschwerdeführer im Haftfortdauerbeschluss zur Last gelegten Taten bestehe auch weiterhin. Ferner liege der Haftgrund der Fluchtgefahr vor. Die Aufrechterhaltung und der weitere Vollzug der Untersuchungshaft seien letztlich auch nicht als unverhältnismäßig anzusehen. Angesichts der Bedeutung der Sache, des Gewichts der gegen den Beschwerdeführer erhobenen Schuldvorwürfe und der für den Fall der Verurteilung zu erwartenden Strafe sei die Verhältnismäßigkeit weiterhin gegeben.
3. Seine hiergegen gerichtete Beschwerde verwarf das Oberlandesgericht Karlsruhe mit Beschluss vom 12. Januar 2006 als unbegründet.
Das Landgericht habe zwar übersehen, das die Beschwerde gegen den Haftfortdauerbeschluss vom 22. Dezember 2004 in einen Haftprüfungsantrag umzudeuten gewesen sei. Der angefochtene Beschluss könne aber als Haftprüfungsentscheidung gemäß § 117 Abs. 1 StPO gelten, weil die Fortdauer der Untersuchungshaft inhaltlich angeordnet, diese ausführlich begründet und die Entscheidung den Verfahrensbeteiligten bekannt gemacht worden sei.
Ein dringender Tatverdacht im Sinne des Haftbefehls vom 24. Juni 2005 bestehe für die fünf im aufgehobenen Urteil vom 22. Dezember 2004 festgestellten Taten auf Grund der in der Anklageschrift bezeichneten Beweismittel. Daneben seien auch die Aussagen in der Hauptverhandlung, wie sie im Urteil vom 22. Dezember 2004 niedergelegt seien, zur Begründung des dringenden Tatverdachts im besonderen Maße geeignet. Dem stehe die Aufhebung des Urteils nicht entgegen. Die Urteilsurkunde könne nämlich selbst im Strengbeweisverfahren der Hauptverhandlung zum Zwecke der Tatsachenfeststellung für die Schuld- und Rechtsfolgenfrage herangezogen werden. Vor allem dürfe mit ihrer Hilfe Beweis darüber erhoben werden, wie der Angeklagte oder ein Zeuge sich früher eingelassen habe.
Als Haftgrund bestehe Fluchtgefahr aus den vom Senat für zutreffend erachteten Gründen der angefochtenen Entscheidung, die auch minder schwere Maßnahmen nach § 116 StPO verböten.
Schließlich sei auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügt. Hierbei werde nicht verkannt, dass durch die Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils vom 22. Dezember 2004 und die Zurückverweisung der Sache eine dem Staat zuzurechnende Verfahrensverzögerung von bislang etwa einem Jahr eingetreten sei. Derartige Fehler führten jedoch nicht zwangsläufig zur Aufhebung des Haftbefehls. Vielmehr seien das Gewicht der Straftat und die Höhe der zu erwartenden Strafe mit dem Ausmaß der Verfahrensverzögerung und dem Grad des die Justiz hieran treffenden Verschuldens abzuwägen. Vorliegend sei zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer fünf Verbrechen der Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung dringend verdächtig sei und weiterhin mit einer empfindlichen Freiheitsstrafe zu rechnen habe, die jedoch vier Jahre nicht übersteigen dürfe. Demgegenüber wiege die von der Justiz verschuldete Verfahrensverzögerung nicht so schwer, dass die Fortdauer der Untersuchungshaft von derzeit etwa einem Jahr und sechs Monaten nicht mehr verhältnismäßig wäre.
Andere der Justiz anzulastende Verfahrensverzögerungen lägen nicht vor. Das Verfahren sei mit der gebotenen Beschleunigung, zeitweise sogar besonders intensiv bearbeitet worden. Die nahezu vollständige Ausschöpfung der Urteilsabsetzungsfrist von sieben Wochen sei im Hinblick auf den Umfang der Urteilsgründe von 54 Seiten und die Schwierigkeit der Beweiswürdigung, die, weil Aussage gegen Aussage gestanden habe, besonders sorgfältig abzufassen gewesen sei, nicht zu beanstanden. Soweit das Hauptverhandlungsprotokoll erst zwei Wochen später am 25. Februar 2005 fertig gestellt, die Zustellung des Urteils erst am 18. März 2005 verfügt, die Verfügung erst am 31. März 2005 ausgeführt und nicht ganz zwei Monate nach der Zustellung des Urteils an den Verteidiger das nach § 347 StPO Gebotene veranlasst sowie die Gegenerklärung der Staatsanwaltschaft nicht innerhalb der Wochenfrist des § 347 Abs. 1 Satz 2 StPO vorgelegt worden sei, lägen nur kleinere Verzögerungen vor, die die bis dahin als vorbildlich zu bezeichnende Verfahrensführung nicht entscheidend beeinträchtigten. Auf Grund des allein der Justiz anzulastenden Verfahrensfehlers, der bislang zu einer Verfahrensverzögerung von etwa einem Jahr geführt habe, werde das Landgericht nunmehr alles in seiner Macht stehende tun müssen, um eine gerichtliche Entscheidung so zeitnah wie irgend möglich herbeizuführen.
II.
1. Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG.
Es habe keine der Bedeutung des Freiheitsrechts und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechende angemessene Güterabwägung stattgefunden. Bis zur erneuten Hauptverhandlung werde er über 21 Monate in Untersuchungshaft verbracht haben. Gehe man vom ungünstigsten Fall aus, nämlich der Verurteilung wiederum zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren, und nehme man den Zwei-Drittel-Zeitpunkt des § 57 Abs. 1 StGB in den Blick, verbleibe eine nur noch zu vollstreckende Freiheitsstrafe von 13 Monaten. Mit diesen Aspekten setzten sich die Fachgerichte nicht auseinander. Außerdem habe das Oberlandesgericht kleinere Verzögerungen festgestellt. Dies betreffe die Zeit für die Absetzung des Urteils und die anschließende Zustellung. Ebenso sei dies für die Dauer der Zustellung der Entscheidung des Bundesgerichtshofs festgestellt worden. Berücksichtigt werden müsse auch, dass die Neuterminierung für einen Zeitraum von fünf Monaten nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vorgesehen sei. Diese Verzögerungen könnten vor dem Hintergrund des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG nicht als Petitessen abgetan werden.
Schließlich sei auch die Fluchtgefahr nicht hinreichend begründet worden. Letztlich werde ihm allein die Ausländereigenschaft zur Begründung der Fluchtgefahr vorgehalten. Es sei nicht zu verkennen, dass diese durchaus zu einem gesteigerten Fluchtanreiz führen könne. Bei integrierten Personen müsse jedoch eine sorgfältige Abwägung erfolgen, an der es vorliegend mangele. Er sei in Deutschland sozial integriert, wobei ihm auch seine Arbeitsstelle trotz der Untersuchungshaft freigehalten werde. Überdies sei er Mitglied in Sportvereinen. Hinzu komme, dass seine Eltern und Geschwister ebenfalls an seinem Wohnort ansässig seien. Vor diesem Hintergrund könne ihm nicht in pauschaler Weise seine Ausländereigenschaft entgegen gehalten werden.
2. Den gemäß § 94 BVerfGG Äußerungsberechtigten wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
Entscheidungsgründe
B.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93c i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und – in einer die Entscheidungszuständigkeit der Kammer gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG eröffnenden Weise – auch offensichtlich begründet; die für die Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden.
I.
1. Das Rechtsinstitut der Untersuchungshaft wird durch das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung beherrscht. Die vollständige Entziehung der persönlichen Freiheit ist ein Übel, das im Rechtsstaat grundsätzlich nur dem zugefügt werden darf, der wegen einer gesetzlich mit Strafe bedrohten Handlung rechtskräftig verurteilt worden ist. Diese Maßnahme schon gegen einen einer Straftat lediglich Verdächtigen zu ergreifen, ist nur in eng begrenzten Ausnahmefällen zulässig. Dies ergibt sich auch aus der grundsätzlichen Unschuldsvermutung, die ihre Wurzel im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG hat und auch in Art. 6 Abs. 2 EMRK ausdrücklich hervorgehoben ist (vgl. BVerfGE 19, 342 ≪347≫; 74, 358 ≪371≫). Eine vertretbare Lösung dieses Konflikts zweier für den Rechtsstaat gleich wichtiger Prinzipien lässt sich nur erreichen, wenn den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen ständig der Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Beschuldigten als Korrektiv entgegen gehalten wird, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt (vgl. grundlegend BVerfGE 19, 342 ≪347≫, sowie 20, 45 ≪49 f.≫; 36, 264 ≪270≫; 53, 152 ≪158 f.≫).
2. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entfaltet dabei in verschiedener Hinsicht Wirkungen.
a) Der Eingriff in die Freiheit ist zunächst nur dann hinzunehmen, wenn und soweit einerseits wegen dringenden Tatverdachts begründete Zweifel an der Unschuld des Verdächtigen bestehen, andererseits der legitime Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters nicht anders gesichert werden kann als dadurch, dass der Verdächtige vorläufig in Haft genommen wird. Weder die Schwere des Verbrechens noch die Schwere der – noch nicht festgestellten – Schuld rechtfertigen für sich allein die Verhaftung. Es müssen vielmehr stets Umstände vorliegen, die die Gefahr begründen, dass ohne Festnahme des Beschuldigten die alsbaldige Aufklärung und Ahndung der Tat gefährdet sein könnte. Ist die Untersuchungshaft zur Sicherstellung dieser Zwecke nicht mehr nötig, so ist es unverhältnismäßig und daher grundsätzlich unzulässig, sie anzuordnen, aufrechtzuerhalten oder zu vollziehen (vgl. BVerfGE 19, 342 ≪347 ff.≫; 20, 45 ≪49 f.≫; 36, 264 ≪269 ff.≫).
b) In Bezug auf ihre Dauer darf die Untersuchungshaft zudem nicht außer Verhältnis zu der zu erwartenden Strafe stehen (vgl. BVerfGE 20, 45 ≪49≫). Ferner ist zu bedenken, dass sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft regelmäßig vergrößert (vgl. BVerfGE 36, 264 ≪270≫; 53, 152 ≪158 f.≫).
c) Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung seit langem anerkannt, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz der Dauer der Untersuchungshaft unabhängig von der zu erwartenden Strafe eine weitere Grenze setzt. Dieser Grundsatz ist im Zusammenhang mit von dem Angeklagten nicht zu vertretenden, sachlich nicht zu rechtfertigenden und vermeidbaren erheblichen Verfahrensverzögerungen entwickelt worden (BVerfGE 20, 45 ≪49 f.≫). Er steht damit zugleich in Zusammenhang mit dem Beschleunigungsgebot.
aa) Der verfassungsrechtlich in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verankerte Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen (vgl. BVerfGE 46, 194 ≪195≫), der das gesamte Strafverfahren umfasst (vgl. EGMR, Urteil vom 31. Mai 2001 – 37591/91 –, NJW 2002, S. 2856 f.; Urteil vom 27. Juli 2000 – 33379/96 –, NJW 2001, S. 213 f.; Urteil vom 25. Februar 2000 – 29357/95 –, NJW 2001, S. 211 f.; BVerfGE 46, 17 ≪29≫; 63, 45 ≪68 f.≫; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Februar 2005 – 2 BvR 109/05 –, StV 2005, S. 220 ≪222≫; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. September 2005 – 2 BvR 1315/05 –, NJW 2005, S. 3485 ≪3486≫; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 5. Dezember 2005 – 2 BvR 1964/05 –, StV 2006, S. 73 ≪76≫; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 29. Dezember 2005 – 2 BvR 2057/05 –, StV 2006, S. 81 ≪84≫), verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen (vgl. BVerfGE 20, 45 ≪50≫; 36, 264 ≪273≫). An den zügigen Fortgang des Verfahrens sind dabei umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft schon andauert (Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Dezember 2005 – 2 BvR 2057/05 –, StV 2006, S. 81 ≪84 f.≫; vgl. auch BGHSt 38, 43 ≪46≫; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 18. August 1982 – 1 Ws 607/82 –, StV 1982, S. 531 ≪532≫; Beschluss vom 1. Februar 1991 – 2 Ws 632-633/90 –, StV 1991, S. 308; Beschluss vom 10. August 1992 – 2 Ws 312/92 –, StV 1992, S. 586; Beschluss vom 25. März 1996 – 2 Ws 86/96 –, StV 1996, S. 496; KG, Beschluss vom 30. Juni 1999 – (3) 1 HEs 299/98 –, StV 2000, S. 36 ≪37≫).
bb) Kommt es zu von dem Beschuldigten nicht zu vertretenden, sachlich nicht zu rechtfertigenden und vermeidbaren erheblichen Verfahrensverzögerungen, steht dies regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen. Dieser Gedanke liegt auch der gesetzlichen Regelung des § 121 StPO zu Grunde, der bestimmt, dass der Vollzug der Untersuchungshaft vor Ergehen eines Urteils wegen derselben Tat über sechs Monate nur aufrechterhalten werden darf, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen. Wie sich aus dem Wortlaut und der Entstehungsgeschichte ergibt, handelt es sich hierbei um eng begrenzte Ausnahmetatbestände (BVerfGE 20, 45 ≪50≫; 36, 264 ≪271≫).
Der weitere Vollzug von Untersuchungshaft verstößt dann gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, wenn die Strafverfolgungsbehörden und die Gerichte nicht alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergriffen haben, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen. Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und einer Sicherstellung der späteren Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch vermeidbare Verfahrensverzögerungen verursacht ist (vgl. grundlegend BVerfGE 20, 45 ≪50≫; sowie BVerfGE 20, 144 ≪148 f.≫; 36, 264 ≪270 ff.≫; 53, 152 ≪161 f.≫; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 30. September 1999 – 2 BvR 1775/99 –, StV 2000, S. 322 ≪323≫).
3. Im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch und dem Strafverfolgungsinteresse kommt es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an, die etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann. Dies macht eine auf den Einzelfall bezogene Prüfung des Verfahrensablaufs erforderlich. Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft sind dabei stets höhere Anforderungen an das Vorliegen eines rechtfertigenden Grundes zu stellen. Entsprechend dem Gewicht der zu ahndenden Straftat kann die Fortdauer der Untersuchungshaft zwar trotz kleinerer Verfahrensverzögerungen gerechtfertigt sein. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung vermag aber bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft zu dienen (vgl. EGMR, Urteil vom 26. Oktober 2000 – 30210/96 –, NJW 2001, S. 2694 ≪2697≫ Rn. 114; BVerfGE 20, 45 ≪50≫; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Februar 2005 – 2 BvR 109/05 –, StV 2005, S. 220 ≪224≫; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 23. September 2005 – 2 BvR 1315/05 –, NJW 2005, S. 3485 ≪3487≫; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Dezember 2005 – 2 BvR 1964/05 –, StV 2006, S. 73 ≪76 f.≫).
II.
Diesen sich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ergebenden Anforderungen werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht. Während das Landgericht auf das Vorliegen von Verfahrensverzögerungen mit keinem Wort eingegangen ist, hat das Oberlandesgericht diese Frage zwar aufgegriffen. Es unterlässt aber eine hinreichende Analyse der konkreten Verfahrensabläufe und berücksichtigt in der Folge nicht alle relevanten Gesichtspunkte. Zudem lässt es verfassungsrechtlich einschlägige Abwägungsgrundsätze außer Acht.
1. Das Oberlandesgericht geht lediglich in pauschaler Weise von einer durch den Verfahrensfehler des Landgerichts im Rahmen der Hauptverhandlung verursachten Verfahrensverzögerung von einem Jahr aus, ohne die unterschiedlichen Ursachen der tatsächlich eingetretenen Verfahrensverzögerungen in den Blick zu nehmen. Es verweist zwar noch auf weitere Nachlässigkeiten in verschiedenen Zusammenhängen, die die Verfahrensführung als solche nicht beeinträchtigt hätten. Diese Ausführungen sind aber nur allgemeiner Natur. Weder wird eine Untersuchung der Ursachen noch eine Abschätzung des konkreten Umfangs dieser Verzögerungen vorgenommen. Dies steht mit einer sachgerechten Abwägung nicht in Einklang.
a) Auf Grund der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und 3 i.V.m. Art. 104 GG) muss das Verfahren der Haftprüfung und Haftbeschwerde so ausgestaltet sein, dass nicht die Gefahr einer Entwertung der materiellen Grundrechtsposition besteht (vgl. hierzu BVerfGE 53, 30 ≪65≫; 63, 131 ≪143≫). Dem ist durch eine verfahrensrechtliche Kompensation (vgl. BVerfGE 17, 108 ≪117 ff.≫; 42, 212 ≪219 f.≫; 46, 325 ≪334 f.≫) des mit dem Freiheitsentzug verbundenen Grundrechtseingriffs, namentlich durch erhöhte Anforderungen an die Begründungstiefe von Haftfortdauerentscheidungen Rechnung zu tragen (vgl. BVerfGE 103, 21 ≪35 f.≫). Die mit Haftsachen betrauten Gerichte haben sich bei der zu treffenden Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft mit deren Voraussetzungen eingehend auseinander zu setzen und diese entsprechend zu begründen. In der Regel sind in jedem Beschluss über die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft aktuelle Ausführungen zu dem weiteren Vorliegen ihrer Voraussetzungen, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 7. August 1998 – 2 BvR 962/98 –, NStZ-RR 1999, S. 12 ≪13≫ und vom 10. Dezember 1998 – 2 BvR 1998/98 –, StV 1999, S. 162; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 13. September 2001 – 2 BvR 1316/01 –, NJW 2002, S. 207 f.). In diesem Zusammenhang hat sich das die Haftfortdauer anordnende Gericht auch zur voraussichtlichen Gesamtdauer des Verfahrens, zu der für den Fall einer Verurteilung konkret im Raume stehenden Straferwartung und – unter Berücksichtigung einer etwaigen Aussetzung des Strafrestes gemäß § 57 StGB – zum hypothetischen Ende einer möglicherweise zu verhängenden Freiheitsstrafe zu verhalten. Diese Ausführungen müssen in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Fachgericht im Rahmen einer Eigenkontrolle gewährleisten und in sich schlüssig und nachvollziehbar sein.
Liegt in dieser Hinsicht ein Abwägungsausfall vor, so hat dies regelmäßig eine Verletzung des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) zur Folge. Gleiches hat auch für den Fall eines für das Abwägungsergebnis erheblichen Abwägungsdefizits (es wird nicht eingestellt, was nach Lage der Dinge eingestellt werden muss) oder einer Abwägungsdisproportionalität (Fehlgewichtung einzelner oder mehrerer Belange) zu gelten.
b) Hätte das Oberlandesgericht der danach geforderten Begründungstiefe Rechnung getragen, so hätte es in seine Abwägung verschiedene Faktoren einstellen müssen.
Zum einen stellt die erst mehr als zwei Wochen nach der vollständigen Absetzung des Urteils, die am 8. Februar 2005 bewirkt war, erfolgte Fertigstellung des Protokolls eine erste Verfahrensverzögerung dar. Diese Verzögerung ist als solche auch von Belang, da nach § 273 Abs. 4 StPO das Urteil zuvor nicht zugestellt werden darf und sie sich daher auf die zügige Durchführung des Revisionsverfahrens auswirkt.
Hinzu tritt des Weiteren, dass die Zustellung des Urteils auch nach dem Vorliegen des fertig gestellten Protokolls am 25. Februar 2005 erst am 18. März 2005 – mithin drei Wochen später – verfügt und diese Verfügung schließlich erst am 31. März 2005 ausgeführt wurde. Insgesamt muss daher bereits eine Verfahrensverzögerung von rund sechs Wochen festgestellt werden.
Hierbei handelt es sich auch keineswegs um Verzögerungen, die zu vernachlässigen sind. Abgesehen davon, dass sich auch kleinere Verzögerungen bei einer Gesamtbetrachtung zu einer nicht unerheblichen Verzögerung summieren können, ist darauf hinzuweisen, dass die genannten Tätigkeiten überwiegend den nicht richterlichen Bereich betreffen. Die Organisation des Schreibdienstes und der Geschäftsstellen wie auch des Aktentransports hat ebenfalls dem Beschleunigungsgebot Rechnung zu tragen. Berücksichtigt man, dass für Schreib- und Routinearbeiten in diesem Bereich alleine mehr als sechs Wochen vergingen, ist dies bereits bezogen auf den zu erledigenden Vorgang kaum zu rechtfertigen. Dies gilt umso mehr, als sich die Hauptverhandlung lediglich über einen Zeitraum von einem Monat mit sechs Sitzungstagen erstreckt hat und damit auch das Protokoll der Hauptverhandlung keinen außergewöhnlichen Umfang erreicht. Berücksichtigt man ferner, dass es sich hierbei im Wesentlichen um die Übertragung vorhandener Aufzeichnungen in die Form einer Reinschrift und die Kontrolle der ordnungsgemäßen Beurkundung und die Prüfung auf Richtigkeit und Vollständigkeit handelt, so ist es in Haftsachen keineswegs angängig, dass die Fertigstellung des Protokolls der Hauptverhandlung einen längeren Zeitraum in Anspruch nimmt, als für die Absetzung des Urteils benötigt wurde. Zudem ist der bloße Routinevorgang der Zustellung unverzüglich zu bewirken, wenn alle Voraussetzungen hierfür gegeben sind. Es kann nicht hingenommen werden, dass die von Verfassungs wegen gebotene zügige richterliche Bearbeitung durch eine unzureichende Arbeitserledigung im nicht richterlichen Bereich, sei sie durch eine unzureichende Personalausstattung oder durch sonst absehbare und vermeidbare Umstände verursacht, konterkariert wird.
Von Belang ist dieser Gesichtspunkt auch für den weiteren Verlauf des Revisionsverfahrens. Die Verfügung vom 11. Mai 2005, nach deren Inhalt die Akten nebst der Revisionsbegründung an die Staatsanwaltschaft versandt werden sollten, wurde ausweislich eines Erledigungsvermerks erst am 20. Juni 2005, mithin mehr als fünf Wochen später ausgeführt. Die Akten gingen tatsächlich ausweislich der Eingangsstempel erst am 21. Juni 2005 bei der Staatsanwaltschaft ein. Auch dies ist unter der Geltung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen nicht hinnehmbar.
Unabhängig davon ist festzuhalten, dass auch die dienstlichen Erklärungen der erkennenden Richter zu der im Schriftsatz vom 5. April 2005 enthaltenen Verfahrensrüge erst am 10. und 11. Mai 2005 abgegeben wurden. Auch hierin liegt eine durchaus erhebliche Verfahrensverzögerung, auf die das Oberlandesgericht ebenfalls mit keinem Wort eingeht.
Schließlich hätten auch die Arbeitsabläufe im Rahmen der Zustellung des Beschlusses des Bundesgerichtshofs vom 25. Oktober 2005 dem Oberlandesgericht Anlass zur Prüfung geben müssen. Aus der Schlussverfügung hervor, dass die Kanzleitätigkeit am 14. November 2005 abgeschlossen war und der Beschluss gleichwohl erst am 23. November 2005 versandt wurde.
2. Vor diesem Hintergrund ist in tatsächlicher Hinsicht festzustellen, dass allein diese Ursachen zu Verzögerungen von mehr als drei Monaten geführt haben, bei deren Vermeidung auch die erneute Durchführung der Hauptverhandlung hätte beschleunigt werden können. Im Rahmen der Abwägung wird das Oberlandesgericht bei der erneuten Befassung mit der Sache zu beachten haben, dass sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs des Angeklagten, für den die Unschuldsvermutung streitet, sich gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse des Staates mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert (BVerfGE 36, 264 ≪270≫; 53, 152 ≪158 f.≫). Vor diesem Hintergrund hat das Bundesverfassungsgericht etwa bei einer Dauer der bisher vollzogenen Untersuchungshaft von fast 18 Monaten auch einer Verzögerung von fast sechs Wochen besonderes Gewicht beigemessen (Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 30. September 1999 – 2 BvR 1775/99 –, StV 2000, S. 322 ≪323≫). Bezogen auf den vorliegenden Fall wiegen die dargestellten Verfahrensverzögerungen sogar noch schwerer.
III.
Gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ist die Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG durch das Oberlandesgericht und das Landgericht festzustellen. Der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts ist unter Zurückverweisung der Sache aufzuheben (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). Das Oberlandesgericht hat unverzüglich unter Berücksichtigung der angeführten Gesichtspunkte erneut eine Entscheidung über die Beschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts vom 19. Dezember 2005 herbeizuführen.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Broß, Osterloh, Mellinghoff
Fundstellen