Leitsatz (amtlich)
Es verstößt nicht gegen den Gleichheitssatz des Grundgesetzes (Art. 3 Abs. 1), daß bei Müttern der Geburtsjahrgänge ab 1921 die auf Kindererziehung beruhenden Leistungen auf die Sozialhilfe angerechnet werden, während dies bei Müttern der Geburtsjahrgänge vor 1921 nicht der Fall ist (Fortführung von BVerfGE 87, 1).
Tenor
Es verstößt nicht gegen den Gleichheitssatz (Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz), daß bei Müttern der Geburtsjahrgänge ab 1921 der auf Kindererziehungszeiten beruhende Teil des Altersruhegeldes auf die Sozialhilfe angerechnet wird.
Tatbestand
A.
Das Verfahren betrifft die Frage, ob es verfassungsrechtlich zulässig ist, daß Sozialhilfeansprüche von Müttern, die nach 1920 geboren sind, um die durch Kindererziehung erworbenen Rente gemindert werden.
I.
1. Am 1. Januar 1986 trat das Gesetz zur Neuordnung der Hinterbliebenenrenten sowie zur Anerkennung von Kindererziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung (Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeiten-Gesetz – HEZG) vom 11. Juli 1985 (BGBl I S. 1450) in Kraft. Es führte die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten bei der Rentenberechnung ein. Begünstigt wurden vom HEZG allerdings nur Mütter und Väter, die nach dem 31. Dezember 1920 geboren waren. Für die in der öffentlichen Diskussion häufig als „Trümmerfrauen” bezeichneten älteren Mütter wurde erst mit dem Gesetz über Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung für Kindererziehung an Mütter der Geburtsjahrgänge vor 1921 (Kindererziehungsleistungs-Gesetz – KLG) vom 12. Juli 1987 (BGBl I S. 1585) eine Verbesserung in der Rentenversicherung eingeführt und das Verhältnis dieser besonderen Kindererziehungsleistungen zu anderen Sozialleistungen geregelt.
2. a) Das HEZG berücksichtigte Kindererziehungszeiten innerhalb des Systems der gesetzlichen Rentenversicherung. Es unterschied aber danach, ob Kinder vor oder nach dem Inkrafttreten des Gesetzes am 1. Januar 1986 erzogen wurden. Mütter und Väter, die ihr Kind im Geltungsbereich des HEZG in der Zeit nach dem 31. Dezember 1985 erzogen und sich mit ihm dort gewöhnlich aufhielten, waren in den ersten zwölf Kalendermonaten nach Ablauf des Monats der Geburt ihres Kindes versichert (§ 1227 a Abs. 1 RVO; § 2 a Abs. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes – AVG –; § 29 a Abs. 1 des Reichsknappschaftsgesetzes – RKG –, jeweils in der Fassung des HEZG). Die Beiträge galten als durch den Bund entrichtet und gingen wie Beiträge aufgrund einer versicherungspflichtigen Beschäftigung in die Berechnung der Rente ein. Sie wirkten sich sowohl „rentenbegründend” bei der Ermittlung der erforderlichen Wartezeit als auch „rentensteigernd” bei der Rentenhöhe aus. Kindererziehungszeiten vor dem 1. Januar 1986 wurden bei den vom HEZG erfaßten Müttern und Vätern nicht als Pflichtbeitragszeiten, sondern als Versicherungszeiten „eigener Art” behandelt (vgl. die Amtliche Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung, BTDrucks 10/2677, S. 30). Wie Zeiten der Kindererziehung nach dem 31. Dezember 1985 hatten aber auch diese Zeiten rentenbegründende und rentensteigernde Wirkung.
b) Mit Wirkung vom 1. Januar 1992 wurde die unterschiedliche Behandlung der Kindererziehungszeiten danach, ob sie nach dem 31. Dezember 1985 oder vor dem 1. Januar 1986 zurückgelegt waren, aufgegeben und durch Vorschriften des Sozialgesetzbuches (SGB) Sechstes Buch (VI) ersetzt (Art. 6 Nr. 24, Art. 83 Nrn. 1, 2, 7 i.V.m. mit Art. 85 Abs. 1 des Rentenreformgesetzes 1992 – RRG 1992). Nach dem SGB VI stellen nunmehr auch die vor dem 1. Januar 1986 liegenden Zeiten der Erziehung im ersten Lebensjahr des Kindes für die nach dem 31. Dezember 1920 geborenen Mütter und Väter Pflichtbeitragszeiten dar, für die Pflichtbeiträge als gezahlt gelten (§ 55 Satz 2, § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VI). Die Versicherungspflicht wegen Kindererziehung ergibt sich nunmehr aus § 3 Satz 1 Nr. 1 SGB VI.
3. Die Regelungen des KLG wurden bei der Überführung in das SGB VI materiell nicht geändert, sondern lediglich an die nunmehr geltenden Berechnungsfaktoren angepaßt (§§ 294, 295 SGB VI). Anders als für Mütter und Väter der Geburtsjahrgänge 1921 und später sind dort Kindererziehungszeiten nicht als Versicherungszeit innerhalb der Rentenversicherung ausgestaltet. Ohne Rücksicht auf die rentenversicherungsrechtlichen Voraussetzungen gibt es für Kindererziehung einen monatlichen Zahlbetrag, der zunächst 27,10 DM pro Kind betrug. Im Unterschied zum HEZG wurden Kindererziehungsleistungen nach dem KLG jedoch frühestens vom 1. Oktober 1987 an gewährt. Außerdem sah das Gesetz den Beginn der Leistungen in vier Stufen je nach dem Alter der Begünstigten vor. Danach erhielten Leistungen für Kindererziehung Mütter der Geburtsjahrgänge vor 1907 vom 1. Oktober 1987 an, Mütter der Geburtsjahrgänge 1907 bis 1911 vom 1. Oktober 1988 an, Mütter der Geburtsjahrgänge 1912 bis 1916 vom 1. Oktober 1989 und Mütter der Geburtsjahrgänge 1917 bis 1920 vom 1. Oktober 1990 an.
4. a) Mit dem KLG wurde zugleich das Verhältnis dieser Leistungen zu anderen Sozialleistungen bestimmt und in allen Zweigen der Rentenversicherung gleichlautend geregelt (§ 66 ArVNG, § 65 AnVNG und § 39 KnVNG, eingefügt durch Art. 2 Nr. 2, Art. 3 Nr. 2 und Art. 4 KLG). Die Vorschriften hatten übereinstimmend folgenden Wortlaut:
Die Leistung für Kindererziehung bleibt als Einkommen unberücksichtigt, wenn bei Sozialleistungen aufgrund von Rechtsvorschriften die Gewährung oder die Höhe dieser Leistung von anderem Einkommen abhängig ist. Bei Bezug einer Leistung für Kindererziehung findet § 15 b des Bundessozialhilfegesetzes keine Anwendung. Auf Rechtsvorschriften beruhende Leistungen anderer, auf die ein Anspruch nicht besteht, dürfen nicht deshalb versagt werden, weil die Leistung für Kindererziehung bezogen wird.
Sie wurden bei Inkrafttreten des SGB VI am 1. Januar 1992 durch die fast wortgleiche Bestimmung des § 299 SGB VI ersetzt.
In der Amtlichen Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum KLG ist ausgeführt (BTDrucks 11/197, S. 12 f.):
Die Leistung für Kindererziehung soll – ebenso wie die Leistung nach dem Bundeserziehungsgeldgesetz – nicht zu einer Minderung von anderen Sozialleistungen (z.B. Wohngeld, Sozialhilfe, Leistungen der Kriegsopferversorgung) führen. Sie soll als Einkommen der Mutter bei der Bemessung anderer Sozialleistungen – auch z.B. bei der Festsetzung der Höhe einer Hinterbliebenenrente der gesetzlichen Rentenversicherung – nicht berücksichtigt werden und soll auch die von der Mutter bezogene Rente und Sozialleistungen anderer Sicherungssysteme nicht beeinflussen. Dies gilt sowohl für die Fälle, in denen eine andere Sozialleistung bereits bei Beginn der Leistung für Kindererziehung bezogen wird, als auch für die Fälle, in denen später über eine solche Sozialleistung entschieden wird. Freiwillige Leistungen und Ermessensleistungen sollen nicht deshalb versagt werden können, weil die Mutter die Leistung für Kindererziehung erhält. Für die Fälle, in denen bei anderen Leistungen eine „Rente der gesetzlichen Rentenversicherung” berücksichtigt wird, bedarf es einer entsprechenden Regelung nicht, da die Leistung für Kindererziehung eine Leistung eigener Art ist.
Dem Ziel, die finanzielle Situation der älteren Mütter zu verbessern, kann nur durch eine Regelung entsprochen werden, die sicherstellt, daß mittelbare Kürzungen nicht eintreten. Mit der Leistung für Kindererziehung soll gleichzeitig eine Anerkennung der außergewöhnlichen Belastungen der Mütter bei der Kindererziehung in besonders schwierigen Zeiten erfolgen. Im übrigen war es im Hinblick auf das hohe Alter und die große Zahl der pro Jahrgangsstufe Begünstigten notwendig, die Regelung stärker zu pauschalieren und zu typisieren als die Regelung über die Anrechnung von Versicherungszeiten wegen Kindererziehung bei den jüngeren Müttern. Die unkomplizierte Ausgestaltung und das einfache Verwaltungsverfahren würden bei einer Anrechnung der Leistung für Kindererziehung auf andere Sozialleistungen in Frage gestellt; Verzögerungen bei der Auszahlung der Leistung wären wegen der erforderlichen Prüfung der Einzelfälle durch den Rentenversicherungsträger nicht zu vermeiden.
b) Für Mütter und Väter der Geburtsjahrgänge ab 1921 gibt es keine Sondervorschriften über die Behandlung der auf Kindererziehung beruhenden Rententeile. Das hat zur Folge, daß sich die Erhöhung einer Rente durch Kindererziehung bei der Gewährung anderer Sozialleistungen auswirkt und beispielsweise im Rahmen der Bedürftigkeitsprüfung nach den Vorschriften des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) zur Minderung des Sozialhilfeanspruchs führt.
5. Nach § 11 Abs. 1 BSHG in der für den entscheidungserheblichen Zeitraum maßgebenden Fassung der Bekanntmachung vom 20. Januar 1987 (BGBl I S. 401) war Hilfe zum Lebensunterhalt (nur) demjenigen zu gewähren, der seinen notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem aus seinem Einkommen und Vermögen, beschaffen konnte.
Was als Einkommen in diesem Sinne anzusehen war, bestimmte § 76 BSHG:
Begriff des Einkommens
(1) Zum Einkommen im Sinne dieses Gesetzes gehören alle Einkünfte in Geld oder Geldeswert mit Ausnahme der Leistungen nach diesem Gesetz, der Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz und der Renten oder Beihilfen, die nach dem Bundesentschädigungsgesetz für Schaden an Leben sowie an Körper oder Gesundheit gewährt werden, bis zur Höhe der vergleichbaren Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz.
(2) Von dem Einkommen sind abzusetzen
- auf das Einkommen entrichtete Steuern,
- Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung einschließlich der Arbeitslosenversicherung,
- Beiträge zu öffentlichen oder privaten Versicherungen oder ähnlichen Einrichtungen, soweit diese Beiträge gesetzlich vorgeschrieben oder nach Grund und Höhe angemessen sind,
- die mit der Erzielung des Einkommens verbundenen notwendigen Ausgaben.
(3) …
Nach §§ 77 und 78 BSHG waren bestimmte Leistungen und Zuwendungen nicht oder nur eingeschränkt als Einkommen im Sinne des § 76 BSHG zu berücksichtigen. Diese Vorschriften hatten folgenden Wortlaut:
§ 77
Nach Zweck und Inhalt bestimmte Leistungen
(1) Leistungen, die auf Grund öffentlich-rechtlicher Vorschriften zu einem ausdrücklich genannten Zweck gewährt werden, sind nur soweit als Einkommen zu berücksichtigen, als die Sozialhilfe im Einzelfall demselben Zweck dient.
(2) Eine Entschädigung, die wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, nach § 847 des Bürgerlichen Gesetzbuchs geleistet wird, ist nicht als Einkommen zu berücksichtigen.
§ 78
Zuwendungen
(1) Zuwendungen der freien Wohlfahrtspflege bleiben als Einkommen außer Betracht; dies gilt nicht, soweit die Zuwendung die Lage des Empfängers so günstig beeinflußt, daß daneben Sozialhilfe ungerechtfertigt wäre.
(2) Zuwendungen, die ein anderer gewährt, ohne hierzu eine rechtliche oder sittliche Pflicht zu haben, sollen als Einkommen außer Betracht bleiben, soweit ihre Berücksichtigung für den Empfänger eine besondere Härte bedeuten würde.
II.
1. Die 1922 geborene Klägerin des Ausgangsverfahrens erhält seit 1975 auf der Grundlage des BSHG ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt, die im August 1987 502,32 DM monatlich betrug. Daneben bezog sie von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit in Höhe von 357,48 DM monatlich. Der genannte Betrag für die Sozialhilfeleistung ergab sich daraus, daß der sozialhilferechtliche Gesamtbedarf in Höhe von 859,80 DM durch die Erwerbsunfähigkeitsrente zum Teil gedeckt wurde.
Als 1987 die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit in ein Altersruhegeld umgewandelt wurde und hierbei nach dem HEZG für drei Kinder zusätzlich 31 Kalendermonate Kindererziehungszeit rentensteigernd berücksichtigt wurden, führte das zu einer Erhöhung des Zahlbetrages um 68,14 DM auf 425,62 DM monatlich. Im Hinblick auf diese Rentenerhöhung minderte die Beklagte den Betrag der ergänzenden Hilfe zum Lebensunterhalt genau um den Erhöhungsbetrag, so daß sich die Bezüge der Klägerin insgesamt nicht erhöhten.
2. Das Verwaltungsgericht hat das Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht mit Beschluß vom 1. Dezember 1988 und ergänzenden Beschlüssen vom 26. März 1990 und 28. Oktober 1993 die Frage zur Entscheidung vorgelegt,
ob es mit dem Grundgesetz vereinbar ist, daß der Gesetzgeber in den §§ 76 ff. BSHG vom 30. Juni 1961 (BGBl I S. 815) in der Fassung der Bekanntmachung vom 20. Januar 1987 (BGBl I S. 401) sowie in der Reichsversicherungsordnung vom 19. Juli 1911 (RGBl S. 509) in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Dezember 1924 (RGBl I S. 779) keine Regelung getroffen hat, nach der der auf Kindererziehung beruhende Teil des Altersruhegeldes von Müttern der Geburtsjahrgänge nach 1920, die in Kriegs- oder Nachkriegszeiten ein Kind geboren und erzogen haben, von der Anrechnung auf den Sozialhilfeanspruch ausgeschlossen ist, während für Kindererziehungsleistungen, die den vor 1921 geborenen Müttern zustehen, in Art. 2 § 66 Satz 1 ArVNG ein solcher Anrechnungsausschluß vorgesehen ist.
a) Die Frage der Verfassungsmäßigkeit der zur Prüfung gestellten Normen sei für die Entscheidung erheblich. Erwiesen sich die bezeichneten Vorschriften des Bundessozialhilfegesetzes und der Reichsversicherungsordnung auch insoweit als gültig, als darin eine Regelung über die Anrechnungsfreiheit der Kindererziehungsleistungen für nach 1920 geborene Mütter nicht getroffen ist, so sei die Klage abzuweisen. Bei dem auf Kindererziehungszeiten beruhenden Teil der Rente handele es sich um Einkünfte in Geld im Sinne des § 76 Abs. 1 BSHG, die grundsätzlich zu einer entsprechenden Minderung des Sozialhilfeanspruchs führten. Kindererziehungsleistungen nach dem HEZG fielen nicht unter die von § 76 Abs. 1 BSHG anerkannten Ausnahmen. Die Vorschriften der Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze (§ 66 ArVNG, § 65 AnVNG, § 39 KnVNG) beanspruchten nur für Mütter der Geburtsjahrgänge vor 1921 Geltung. Im Falle der Ungültigkeit der zur Prüfung gestellten Normen könne der Klage zwar nicht stattgegeben werden. Jedoch sei das Verfahren bis zu einer gesetzlichen Neuregelung auszusetzen. Es komme also auf die Gültigkeit des Gesetzes bei der Entscheidung über die Klage an.
Die zur Prüfung gestellten Normen könnten nicht verfassungskonform ausgelegt werden. Der Wortlaut des § 76 Abs. 1 BSHG sei eindeutig. Eine erweiternde Auslegung der Vorschriften der Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze widerspräche dem gesetzgeberischen Ziel, die Regelungen auf Mütter der Geburtsjahrgänge vor 1921 zu beschränken.
b) Nach Auffassung des Gerichts verstößt die Anrechnung des auf Kindererziehungszeiten beruhenden Teils der Rente auf die Sozialhilfe für nach 1920 geborene Mütter gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Es liege ein verfassungswidriges Unterlassen des Gesetzgebers vor.
Die durch das KLG eingefügten Vorschriften der Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze (§ 66 ArVNG, § 65 AnVNG, § 39 KnVNG) führten dazu, daß Kindererziehungsleistungen für Mütter der Geburtsjahrgänge vor 1921, die – regelmäßig in Kriegs- oder Nachkriegszeiten – ein Kind geboren hätten und Sozialhilfeempfängerinnen seien, nicht auf den Sozialhilfeanspruch angerechnet würden. Dagegen müßten Mütter, die – wie die Klägerin – nach 1920 geboren seien und ebenfalls in Kriegs- oder Nachkriegsjahren Kinder erzogen hätten, also weitestgehend vergleichbaren Belastungen wie vor 1921 geborene Mütter bei der Kindererziehung ausgesetzt gewesen seien, mangels einer entsprechenden Nichtanrechnungsbestimmung eine Kürzung ihrer Sozialhilfe um die Kindererziehungsleistung hinnehmen.
Die dargestellte unterschiedliche Behandlung sei sachlich nicht gerechtfertigt. Zwar habe das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 7. Juli 1992 (BVerfGE 87, 1) zu dem Verhältnis beider Personengruppen bereits Stellung genommen. Über die Verfassungsmäßigkeit der Anrechnung von Kindererziehungsleistungen nach dem HEZG auf die Sozialhilfe bei Müttern der Geburtsjahrgänge nach 1920 sei aber nicht entschieden worden.
Soweit ein Unterschied darin liege, daß die Kindererziehungsleistung nach dem KLG eine Leistung eigener Art der Träger der gesetzlichen Rentenversicherung sei, während die Kindererziehungsleistung nach dem HEZG als Rente gewährt werde, rechtfertige dieser die Ungleichbehandlung bei der Regelung der Anrechenbarkeit auf Sozialhilfeleistungen nicht. Entscheidend sei, daß der Gesetzgeber mit den Leistungen nach dem KLG und dem HEZG denselben Zweck verfolgt habe, nämlich die Berücksichtigung der Kindererziehung in der Rentenversicherung. Handele es sich dem Grunde nach aber um gleichartige Sozialleistungen, so ergäben sich aus der verschiedenartigen Ausgestaltung keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht, daß sie die ungleiche Regelung der Anrechnungsfähigkeit im Hinblick auf Sozialhilfeleistungen rechtfertigen könnten.
Mit dem Argument der Systemgerechtigkeit könne die Ungleichbehandlung nicht gerechtfertigt werden, weil der Verzicht auf eine Nichtanrechnungsvorschrift keine systemgerechte Konsequenz aus der Ausgestaltung der Kindererziehungsleistung nach dem HEZG sei. Eine Regelung, welche die Nichtanrechnung von Kindererziehungsleistungen auf den sozialhilfe-rechtlichen Bedarf bestimme, setze sich mit dem Ziel des HEZG, Kindererziehungszeiten mit Zeiten versicherungspflichtiger Beschäftigung gleichzustellen und Personen zu begünstigen, die sich der Kindererziehung widmeten, nicht in Widerspruch. Auch die Konzeption des Bundessozialhilfegesetzes fordere keine Anrechnung der Kindererziehungsleistungen nach dem HEZG auf die Sozialhilfe, zumal das Sozialhilferecht auch Ausnahmen vom Nachrangprinzip zulasse und eine Aufspaltung von Leistungen in anrechnungsfähige und nicht anrechnungsfähige Teile kenne.
Ein rechtfertigender Grund ergebe sich auch nicht daraus, daß die vor 1921 geborenen Mütter während der Kindererziehung regelmäßig besonderen Belastungen ausgesetzt gewesen seien, weil sie Kinder zumeist in Kriegs- oder Nachkriegszeiten geboren und erzogen haben. Der Anrechnungsausschluß könne nicht als Ausgleich für die in der erst später begonnenen Gewährung von Kindererziehungsleistungen liegenden Benachteiligung der vor 1921 geborenen Sozialhilfeempfängerinnen betrachtet werden. Die Personengruppe der nach 1920 geborenen Sozialhilfeempfängerinnen habe zwar bereits ab 1. Januar 1986 Kindererziehungsleistungen in Form der Rente erhalten können, sich diese Leistung aber auf die Sozialhilfe anrechnen lassen müssen. Mit Blick auf die Gesamtleistung liege keine Bevorzugung dieser Personengruppe vor. Die vor 1921 geborenen Mütter hätten die Kindererziehungsleistung zwar wegen ihrer geringen Lebenserwartung typischerweise nur für kürzere Zeit, immerhin aber neben der Sozialhilfe erhalten.
Eine Rechtfertigung unter dem Gesichtspunkt zulässiger Typisierung komme ebenfalls nicht in Betracht. Unter den Müttern der Geburtsjahrgänge 1921 bis 1930 habe es viele gegeben, die in den Kriegs- oder Nachkriegszeiten Kinder geboren und erzogen hätten. Es sei anzunehmen, daß sich eine Vielzahl von Müttern in derselben oder einer ähnlichen Situation befunden habe wie die Klägerin.
III.
Zur Vorlage haben der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung namens der Bundesregierung und der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts Stellung genommen.
1. Der Bundesminister hält die ungleiche Behandlung von Müttern der Geburtsjahrgänge vor 1921 einerseits und Müttern der Geburtsjahrgänge ab 1921 andererseits für verfassungsgemäß.
Die Kindererziehungsleistungen nach dem HEZG und diejenigen nach dem KLG seien wegen ihrer unterschiedlichen Ausgangspunkte verschiedenen Ordnungsbereichen zuzuordnen und damit nicht vergleichbar. Auch die in gewisser Hinsicht vorhandene Funktionsgleichheit beider Leistungen – Abgeltung für Kindererziehung – führe wegen der Eigenständigkeit beider Rechtsbereiche zu keinem anderen Ergebnis. Angesichts der Eigenständigkeit der beiden Regelungsbereiche beständen auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die unterschiedliche Regelung der Anrechnung auf andere Sozialleistungen. Es dürften nicht einzelne Regelungen des KLG herausgegriffen und denjenigen des HEZG gegenübergestellt werden. Entscheidend sei vielmehr eine Gesamtschau. Diese zeige, daß in manchen Punkten die Regelung des KLG, in anderen diejenige des HEZG günstiger sei. Insgesamt komme der Anrechnung des auf Kindererziehungszeiten beruhenden Teils der Rente auf den sozialhilferechtlichen Bedarf jedenfalls keine so überragende Bedeutung zu, daß er die übrigen Vorteile der Regelung für die Jahrgänge ab 1921 oder die entsprechenden restriktiven Vorschriften des KLG aufwiegen könne. Im Rahmen der notwendigen Gesamtbetrachtung sei auch zu berücksichtigen, daß Mütter der Geburtsjahrgänge vor 1921 Kindererziehungsleistungen erst in einem erheblich späteren Zugangsalter erhalten hätten als die Jahrgänge, bei denen sich Kindererziehungszeiten im Rahmen der Rentenberechnung auswirkten. Jedenfalls wäre ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG nicht sehr intensiv und beträfe im Hinblick auf den Charakter des KLG als Übergangsregelung auch nur eine verhältnismäßig eng begrenzte (rückläufige) Zahl von Personen.
2. Der für das Sozialhilferecht zuständige 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts teilt die verfassungsrechtlichen Bedenken des vorlegenden Gerichts ebenfalls nicht. Er weist – ebenso wie der Bundesminister – auf die qualitativen und systematischen Unterschiede zwischen den Leistungen nach dem HEZG und denjenigen nach dem KLG hin. Im Hinblick auf diese Unterschiede könne nicht angenommen werden, daß Art. 3 Abs. 1 GG in bezug auf einzelne Regelungen – beispielsweise die Anrechnung oder Nichtanrechnung auf andere Sozialleistungen – Gleichheit verlange.
Entscheidungsgründe
B.
Es verstößt nicht gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG), daß bei Müttern der Geburtsjahrgänge ab 1921 der auf Kindererziehungszeiten beruhende Teil des Altersruhegeldes auf die Sozialhilfe angerechnet wird.
1. Soweit es um den Ausgleich kindererziehungsbedingter Nachteile in der Alterssicherung geht, werden Mütter der Geburtsjahrgänge ab 1921 anders behandelt als Mütter der Geburtsjahrgänge vor 1921. Dabei sind in manchen Punkten die Regelungen des KLG günstiger, in anderen diejenigen des HEZG. Die hier zur Prüfung gestellte Einzelregelung benachteiligt Versicherte der Geburtsjahrgänge ab 1921, sofern sie auf Sozialhilfe angewiesen sind. Während Mütter der Geburtsjahrgänge vor 1921 neben der Sozialhilfe zusätzlich Einkommen nach dem KLG erhalten können, wirkt sich der auf Kindererziehungszeiten beruhende Teil der Rente bei Müttern der Geburtsjahrgänge ab 1921 in der Sozialhilfe leistungsmindernd aus.
2. Diese Ungleichbehandlung ist jedoch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Für die Ungleichbehandlung bestehen hinreichende sachliche Gründe (vgl. BVerfGE 87, 1 ≪36≫; 88, 87 ≪96 f.≫; 92, 53 ≪68≫).
a) Die Eigenständigkeit der Regelungen des KLG gegenüber denjenigen des HEZG, gegen die verfassungsrechtliche Bedenken nicht bestehen (vgl. BVerfGE 87, 1), beruht darauf, daß Mütter der Geburtsjahrgänge vor 1921 bei Inkrafttreten des HEZG die Altersgrenze von 65 Jahren erreicht hatten und daß ihre bereits abgeschlossene Rentenbiographie nicht mehr mit einem vertretbaren Aufwand hätte aufgerollt werden können. Vor allem hätte das gesetzgeberische Ziel, ihnen eine Leistung für Kindererziehung zukommen zu lassen, über das HEZG nur unzureichend verwirklicht werden können, wenn diese Personengruppe die Anwartschaft für ein Altersruhegeld nicht erfüllt hatte. Anders als Versicherte der Geburtsjahrgänge ab 1921 hätten sie nicht mehr die Möglichkeit gehabt, Lücken in der Rentenbiographie durch Entrichtung freiwilliger Beiträge (vgl.§ 1233 RVO, § 10 AVG, § 33 Abs. 2 RKG) zu schließen und wenigstens auf diese Weise in den Genuß der Leistungen nach dem HEZG zu gelangen (vgl. BVerfGE 87, 1 ≪44≫), weil bei ihnen der letzte Versicherungsfall schon eingetreten war.
Ob daneben für die Wahl des Stichtages noch von Bedeutung ist, daß gerade die Mütter der Geburtsjahrgänge vor 1921 anders als die jüngeren wegen der herkömmlichen Rollenverteilung von Mann und Frau oftmals nicht im Erwerbsleben gestanden und deshalb keine Rentenanwartschaften erworben hatten (vgl. die Amtliche Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung, BTDrucks 11/197, S. 9), kann offenbleiben. Denn bei diesem Personenkreis fiel vornehmlich ins Gewicht, daß ein Ausgleich für Kindererziehung im Rentenrecht nicht mehr durchführbar war. Damit bestand ein gewichtiger Grund für eine unterschiedliche Ausgestaltung der Leistungen, obwohl sie demselben Zweck dienen.
Es können deshalb nicht einzelne Regelungselemente des KLG herausgegriffen und mit denjenigen des HEZG am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG verglichen werden. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist vielmehr maßgeblich eine Gesamtbetrachtung der beiden Regelungssysteme mit ihren jeweiligen Vor- und Nachteilen. Während nach dem KLG ausschließlich leibliche Mütter berechtigt sind, können nach den Vorschriften des HEZG Adoptiv-, Stief- und Pflegemütter und auch Väter Leistungen für Kindererziehung erhalten. Andererseits sind nach dem KLG auch versicherungsfreie Personen begünstigt. Die Kindererziehungsleistungen für vor 1921 geborene Mütter bleiben – anders als Renten – unbesteuert. Renten, die auf Kindererziehungszeiten beruhen, sind demgegenüber „hinterbliebenenfähig”, Leistungen für Kindererziehung nach dem KLG nicht. Bei einer solchen Gesamtbetrachtung kommt der Anrechnung des auf Kindererziehungszeiten beruhenden Teils der Rente auf den sozialhilferechtlichen Bedarf bei Müttern der Geburtsjahrgänge ab 1921 kein derartiges Gewicht zu, daß eine isolierte verfassungsrechtliche Bewertung am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG gerechtfertigt wäre. Wenn unterschiedliche Regelungssysteme für gleichartige Sachverhalte oder gleichartige Zwecke – Abgeltung für Kindererziehung – generell gerechtfertigt sind (vgl. BVerfGE 87, 1 ≪43 ff.≫), so kann nicht nach einzelnen Begünstigungen und Benachteiligungen differenziert und eine von dem jeweiligen Regelungssystem losgelöste, isolierte verfassungsrechtliche Prüfung vorgenommen werden (vgl. BSG SozR 3-3100 § 40 a BVG Nr. 1). Es ist daher verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, daß der Gesetzgeber den teilweise hochbetagten Müttern der Geburtsjahrgänge vor 1921 den tatsächlichen Erhalt der neu geschaffenen Leistung garantieren wollte.
b) Zugleich sollte die außergewöhnliche Belastung der Geburtsjahrgänge vor 1921 in den besonders schwierigen Kriegs- und Nachkriegszeiten anerkannt werden (vgl. die Amtliche Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung, BTDrucks 11/197, S. 12 f.). Bei ihnen konnte typischerweise eher der Fall der Sozialhilfebedürftigkeit eintreten, weil Krieg und Nachkriegszeit ihnen den Aufbau eigener Rentenansprüche besonders erschwert hatten. Zwar ist es nicht von der Hand zu weisen, daß auch noch Versicherte der Geburtsjahrgänge nach 1920 Kinder in zum Teil vergleichbar schwierigen Zeiten zu erziehen hatten. Jedoch durfte der Gesetzgeber davon ausgehen, daß sie zunehmend von der günstigeren Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland profitiert haben.
c) Das gilt um so mehr, als im Unterschied zu dem am 1. Januar 1986 in Kraft getretenen HEZG das KLG einen Leistungsbeginn frühestens zum 1. Oktober 1987 vorsah. Insgesamt haben die älteren Frauen ohnedies erheblich geringere Leistungen erhalten, weil die Bezugsdauer durch den hinausgezögerten Leistungsbeginn und die geringere Lebenserwartung gemindert war. Da das Gesetz erst 21 Monate später als das HEZG in Kraft trat, bestand für den vom KLG betroffenen Personenkreis mindestens eine entsprechende Leistungslücke (vgl. BVerfGE 87, 1 ≪45≫). Aber auch bei jeder einzelnen Frau setzte der Leistungsbeginn regelmäßig erst geraume Zeit nach Vollendung des 65. Lebensjahres ein. Die ältesten Berechtigten waren bei Leistungsbeginn 80 Jahre; die jüngsten erhielten die Zahlung ab dem 70. Lebensjahr. Insofern dient die unbedingte Garantie des Zahlbetrags dem Ausgleich des zeitlich verkürzten Gesamtanspruchs.
d) Die Ungleichbehandlung ist aber auch durch das gesetzgeberische Ziel gerechtfertigt, das Verwaltungsverfahren für die Bewilligung und Auszahlung der Leistungen nach dem KLG – wegen der Eilbedürftigkeit – möglichst einfach zu halten. Den Müttern der Geburtsjahrgänge vor 1921 konnte und sollte – wie die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme ausgeführt hat – schon wegen ihres hohen Alters kein weiterer als der unumgänglich notwendige Schriftwechsel zugemutet werden. Eine Anrechnung der Leistung für Kindererziehung auf andere Sozialleistungen hätte dieses Ziel in Frage gestellt (vgl. die Amtliche Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung, BTDrucks 11/197, S. 13). Nachzahlungsbeträge wären zur Erfüllung öffentlich-rechtlicher Ausgleichsansprüche einbehalten worden (§§ 102 ff. SGB X). Bei Müttern, deren Erziehungsleistung nach dem HEZG berücksichtigt wird, besteht insoweit kein Bedarf zu besonderer Verfahrensgestaltung. Die Kindererziehung ist nur einer von vielen Faktoren der Rentenberechnung, die – rechtzeitig beantragt – für die Zukunft den Leistungsanspruch bestimmt.
Unterschriften
Grimm, Kühling, Seibert, Jaeger, Hömig, Steiner
Fundstellen
Haufe-Index 1134533 |
BVerfGE, 103 |
NJW 1998, 2431 |
FamRZ 1998, 890 |
ZBR 1998, 363 |
SozSi 1998, 318 |