Verfahrensgang
jug. Staatsanwaltschaft Regensburg/Zw.St. Straubing (Entscheidung vom 31.03.2005; Aktenzeichen 139 Js 17219/04) |
Tenor
1. Die Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft Regensburg vom 31. März 2005 – 139 Js 17219/04 – verletzt, soweit sie in ihren Gründen eine Schuldfeststellung enthält, die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. Die Gründe der Einstellungsentscheidung werden aufgehoben. Die Sache wird insoweit an die Staatsanwaltschaft Regensburg zurückverwiesen.
2. Der Freistaat Bayern hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Auswirkungen der Unschuldsvermutung auf die Begründung einer Einstellungsentscheidung der Staatsanwaltschaft (§ 153 Abs. 1 StPO).
I.
Die Staatsanwaltschaft führte gegen die Beschwerdeführerin ein Ermittlungsverfahren unter anderem wegen des Vorwurfs der Misshandlung von Schutzbefohlenen und Körperverletzung. Die Beschwerdeführerin bestritt die Tatvorwürfe. Die Staatsanwaltschaft stellte das Ermittlungsverfahren gemäß § 153 Abs. 1 StPO ein. In der Begründung der Einstellungsverfügung führte sie aus:
„Ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung ist nicht gegeben. Die Schuld wäre als gering anzusehen.
Der Beschuldigten lag zur Last, im Rahmen ihrer Tätigkeit als Kindergartenleiterin in C. mehrfach Kinder geschlagen zu haben.
Die umfangreichen Ermittlungen haben ergeben, dass die Beschuldigte verschiedenen Kindern, insbesondere aber K.O., mit der flachen Hand in das Gesicht oder auf den Po schlug, als diese nicht folgsam waren. Die Vorfälle datieren aus den Jahren 1999, 2000 sowie 2002.
Die Ermittlungen haben aber ebenfalls ergeben, dass keines der betroffenen Kinder Verletzungen davon trug oder psychische Schäden erlitt.
Grundsätzlich können auch einfache Schläge mit der flachen Hand den Tatbestand der Körperverletzung erfüllen, wenn die Geschädigten Schmerzen erleiden, wovon vorliegend auch auszugehen ist, da die Zeugen berichten, die Kinder hätten geweint.
Vorliegend handelt es sich jedoch um Körperverletzungen an der unteren Schwelle der Strafbarkeitsgrenze. Wie die Ermittlungen ergeben haben, resultieren die Handlungen der Beschuldigten überwiegend aus Überforderungssituationen und einem heute im Allgemeinen nicht mehr vertretenen Erziehungsverständnis.
Die Beschuldigte ist strafrechtlich noch nicht in Erscheinung getreten. Angesichts ihres hohen Lebensalters und ihres straflosen Vorlebens ist davon auszugehen, dass sie bereits die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens von der Begehung weiterer Straftaten abhalten wird.”
Nach der Verfahrenseinstellung wies das Landratsamt die Beschwerdeführerin förmlich darauf hin, dass sie mit einem (befristeten) Beschäftigungsverbot rechnen müsse, falls sie zukünftig im Rahmen ihrer Tätigkeit als Kindergartenleiterin zumindest eines der ihr anvertrauten Kinder körperlich misshandle oder an der Gesundheit schädige. Hierzu führte das Landratsamt aus, aus der Verfügung der Staatsanwaltschaft ergebe sich, dass die Beschwerdeführerin verschiedenen Kindern mit der flachen Hand in das Gesicht oder auf den Po geschlagen habe.
Entscheidungsgründe
II.
1. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen die Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft und rügt die Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
Die Einstellungsverfügung verstoße gegen die Unschuldsvermutung. Die Staatsanwaltschaft habe die strafrechtliche Relevanz des Verhaltens der Beschwerdeführerin nach Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld festgestellt, ohne dass die prozessordnungsgemäßen Voraussetzungen für die Erkenntnisse zur Schuldfrage geschaffen seien. Zwar habe die Staatsanwaltschaft zunächst ausgeführt, die Schuld „wäre” als gering anzusehen. Anschließend erfolge jedoch eine Schuldfeststellung.
2. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hat sich zu der Verfassungsbeschwerde geäußert. Es hält die Verfassungsbeschwerde für nicht begründet. Eine Verletzung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung sei nicht feststellbar. Die Gründe der angegriffenen Entscheidung könnten nicht als Erkenntnis der Schuld der Beschwerdeführerin angesehen werden. Die Staatsanwaltschaft habe lediglich eine Bewertung des bestehenden Tatverdachts vorgenommen. Dies ergebe sich insbesondere aus der einleitenden Formulierung der Einstellungsbegründung, wonach die Schuld als gering anzusehen „wäre”.
III.
Die Verfassungsbeschwerde wird zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Rechte der Beschwerdeführerin angezeigt ist (§ 93a Absatz 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist in einer die Entscheidungszuständigkeit der Kammer ergebenden Weise offensichtlich begründet. Die für die Beurteilung maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93c Absatz 1 Satz 1 BVerfGG).
1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.
Sie ist binnen der Monatsfrist des § 93 Abs. 1 BVerfGG beim Bundesverfassungsgericht eingegangen. Die Gründe für die Verfahrenseinstellung sind dem Verteidiger am 11. April 2005 übermittelt worden. Da sich die Beschwerdeführerin erst durch diese Gründe in ihren Grundrechten verletzt sieht, begann die Monatsfrist mit deren Bekanntgabe zu laufen und war somit zum Zeitpunkt des Eingangs der Verfassungsbeschwerdeschrift am 11. Mai 2005 noch nicht abgelaufen. Auf den vorsorglich gestellten Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kommt es mithin nicht an.
2. Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet. Die in den Gründen der angegriffenen Entscheidung enthaltene Schuldfeststellung verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip.
a) Die Unschuldsvermutung ist eine besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips und hat damit Verfassungsrang. Sie verwehrt es den Strafverfolgungsorganen nicht, schon vor Abschluss der Hauptverhandlung verfahrensbezogen den Grad des Verdachts einer strafbaren Handlung eines Beschuldigten zu beurteilen (vgl. BVerfGE 82, 106 ≪114 f.≫). Feststellungen zur Schuld des Angeklagten zu treffen und Schuld auszusprechen, ist den Strafgerichten allerdings erst erlaubt, wenn die Schuld des Angeklagten in dem mit rechtsstaatlichen Verteidigungsgarantien ausgestatteten, bis zum prozessordnungsgemäßen Abschluss durchgeführten Strafverfahren nachgewiesen ist (vgl. BVerfGE 74, 358 ≪372≫; 82, 106 ≪116≫).
Wird ein Strafverfahren eingestellt, bevor die Hauptverhandlung bis zur Schuldspruchreife durchgeführt worden ist, so fehlt es an der prozessordnungsgemäßen Grundlage für ein Erkenntnis zur Schuld. Durch den Wortlaut der für das Offizialverfahren geltenden Einstellungsvorschrift des § 153 StPO hat der Gesetzgeber dem Rechnung getragen; das Gesetz verlangt hier eine nur hypothetische Schuldbeurteilung. Die Strafverfolgungsorgane haben den Sachverhalt, so wie er sich im jeweiligen Verfahrensstadium abzeichnet, daraufhin zu prüfen, ob die Schuld des Angeklagten gering wäre, wenn die Feststellungen in einer Hauptverhandlung diesem Bild entsprächen. Die strafrechtliche Relevanz darf nicht nach Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld festgestellt, sie darf lediglich unterstellt werden (vgl. BVerfGE 74, 358 ≪373≫; 82, 106 ≪116≫).
Die Unschuldsvermutung schließt indes nicht aus, in einer das Strafverfahren ohne förmlichen Schuldspruch beendenden Entscheidung einen verbleibenden Tatverdacht festzustellen und zu bewerten. Allerdings muss dabei aus der Begründung deutlich hervorgehen, dass es sich nicht um eine gerichtliche Schuldfeststellung handelt, sondern nur um die Beschreibung und Bewertung einer Verdachtslage. Dieser Unterschied muss auch in der Formulierung der Gründe hinreichend Ausdruck finden. Dabei ist der Sinnzusammenhang der gesamten Entscheidungsgründe zu würdigen (vgl. BVerfGE 82, 106 ≪117≫).
b) Nach diesem Maßstab verstößt die angegriffene Entscheidung gegen die im Rechtsstaatsprinzip wurzelnde Unschuldsvermutung.
Die Staatsanwaltschaft führte in den Gründen der Einstellungsverfügung aus, „die umfangreichen Ermittlungen haben ergeben, dass die Beschuldigte verschiedenen Kindern, insbesondere aber K.O., mit der flachen Hand in das Gesicht oder auf den Po schlug …”. Sie hat damit strafrechtliche Schuld festgestellt, obwohl das Verfahren noch nicht bis zur Schuldspruchreife durchgeführt worden war. Die einleitende Formulierung „die Schuld wäre als gering anzusehen” ändert daran nichts. Denn die Ausführungen, dass ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung nicht gegeben sei und die Schuld als gering anzusehen wäre, stellen nach dem Gesamtzusammenhang der Gründe der Einstellungsverfügung zunächst lediglich die Darlegung der gesetzlichen Voraussetzungen für eine Einstellung nach § 153 Abs. 1 StPO dar. Sie vermögen die nachfolgenden Angaben zum konkreten Verfahren nicht als bloße Beschreibung einer Verdachtslage zu relativieren. Vielmehr geht die Formulierung, dass die Beschwerdeführerin „verschiedenen Kindern … mit der flachen Hand in das Gesicht oder auf den Po schlug”, es handele sich „um Körperverletzungen an der unteren Schwelle der Strafbarkeitsgrenze”, über eine bloß hypothetische Schuldbeurteilung hinaus. Diese sprachliche Wendung ist Feststellung von Schuld. Auch die weitere Ausführung, es sei davon auszugehen, dass die Geschädigten Schmerzen erlitten hätten, denn die Kinder hätten nach den Zeugenaussagen geweint, verdeutlicht dies.
c) Die Einstellung des Verfahrens beschwert die Beschwerdeführerin nicht. Die Gründe der Einstellungsentscheidung sind hingegen aufzuheben, und die Sache ist insoweit an die Staatsanwaltschaft Regensburg zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).
3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Hassemer, Di Fabio, Landau
Fundstellen