Verfahrensgang
OLG Stuttgart (Beschluss vom 26.05.1997; Aktenzeichen 17 UF 98/97) |
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Verurteilung zur Rückführung zweier Kinder nach Argentinien aufgrund des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung vom 25. Oktober 1980 (BGBl II 1990 S. 206; HKiEntfÜ).
1. Die Beschwerdeführerin zu 1. ist deutsche und brasilianische Staatsbürgerin. Aus ihrer im Jahre 1988 in Argentinien geschlossenen Ehe gingen zwei Kinder hervor, der 1989 geborene Beschwerdeführer zu 2. und der 1990 geborene Beschwerdeführer zu 3., die die deutsche und die argentinische Staatsangehörigkeit besitzen.
Nach den Feststellungen des Oberlandesgerichts wurde die Ehe 1994 in Argentinien geschieden. Das Sorgerecht für die Kinder ging auf die Mutter über. Alle Fragen, die Erziehung, Gesundheit und Interessen der Minderjährigen betreffen, sollten jedoch von den Eltern gemeinsam entschieden werden. Zudem müssen nach Art. 264.quater des argentinischen Bürgerlichen Gesetzbuches (deutsche Übersetzung in: Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Losebl., Bd. I, Argentinien) auch im Falle einer Scheidung beide Eltern übereinstimmen, um z.B. die Heirat des Kindes zu erlauben, das Kind zu emanzipieren, den Eintritt in religiöse Gemeinden, Streit- und Sicherheitskräfte zu erlauben oder die Republik zu verlassen.
Durch Verfügung des Zivilgerichts in Mendoza erwirkte die Beschwerdeführerin zu 1. die Erlaubnis, mit den Kindern für zwei Wochen in die USA reisen zu dürfen. Entgegen der Verfügung kehrten die Beschwerdeführer nicht mehr nach Argentinien zurück, sondern reisten am 23. Juli 1996 nach Deutschland. Der Vater bemüht sich um Rückführung der Kinder. Er erstattete in Argentinien Strafanzeige gegen die Beschwerdeführerin zu 1. wegen Kindesentführung. Durch Beschluß des Zivilgerichts in Mendoza vom 27. Dezember 1996 erhielt er das Sorgerecht.
2. Mit dem angegriffenen Beschluß verpflichtete das Oberlandesgericht die Beschwerdeführerin zu 1. aufgrund des Haager Kindesentführungsübereinkommens zur Rückführung der Kinder. Ein Sorgerecht des Vaters sei verletzt, da dieser ein Mitbestimmungsrecht bei bestimmten wichtigen Entscheidungen gehabt habe, z.B. wenn die Kinder Argentinien verlassen sollten. Ein Sorgerecht i.S. des Haager Kindesentführungsübereinkommens habe auch derjenige, dem allein das Recht zustehe, dem Verbringen des Kindes ins Ausland zu widersprechen. Daß die Beschwerdeführerin zu 1. in Argentinien einem Strafverfahren wegen Kindesentführung ausgesetzt sei, könne nicht berücksichtigt werden, da es widersprüchlich wäre, ihr die Berufung auf diesen durch eigenes widerrechtliches Handeln selbst geschaffenen Umstand zu gestatten.
3. Mit der hiergegen gerichteten Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer die Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 bis 4 und Art. 11 GG. Die Kindesentführung durch einen weit überwiegend sorgeberechtigten Elternteil könne nicht ebenso behandelt werden, wie die durch eine nur gleichberechtigt oder geringer an der Sorge beteiligte Person. Wenn, wie hier, der Entführer ganz überwiegend, der Betroffene hingegen nur ganz untergeordnet sorgeberechtigt sei, müsse die Rückführung aus verfassungsrechtlichen Gründen im Regelfall ausscheiden und könne nur ausnahmsweise erfolgen, wenn anderenfalls die Voraussetzungen des Art. 13 Abs. 1 lit. b HKiEntfÜ sinngemäß gegeben wären. Es bestehe ein Vorrang der Einzelfallprüfung vor genereller Regelung. Der Kindesvater werde nur in seinem Mitbestimmungsrecht hinsichtlich des Aufenthaltsortes des Kindes sowie in seinem Umgangsrecht betroffen. Hingegen müsse die Beschwerdeführerin zu 1. bei Rückführung wegen des drohenden argentinischen Strafverfahrens in Deutschland verbleiben und könne ihr bisheriges überwiegendes Sorgerecht überhaupt nicht mehr ausüben.
Jedenfalls seien Auslegung und Anwendung des Haager Kindesentführungsübereinkommens durch das Oberlandesgericht verfassungswidrig. Das Bundesverfassungsgericht sei dabei zu einer vollständigen Überprüfung der angegriffenen Entscheidung befugt. Die Rückführung der Kinder nach Argentinien stelle nicht nur eine vorläufige Regelung dar, da aufgrund einer der Beschwerdeführerin im Falle ihrer Rückkehr drohenden Gefängnisstrafe eine endgültige Trennung eintreten würde. Eine Ausnahmesituation i.S. von Art. 13 Abs. 1 lit. b HKiEntfÜ sei auch aus verfassungsrechtlichen Gründen jedenfalls dann anzunehmen, wenn das Kind durch die Rückführung von seiner bisherigen sozialen Hauptbezugsperson getrennt würde. Es bestehe die Gefahr, daß der Vater die Kinder nach Chile verbringe.
Das Haager Kindesentführungsübereinkommen ist im Verhältnis zwischen Deutschland und Chile in Kraft (BGBl II 1995, 485 ≪486≫).
Entscheidungsgründe
II.
Ein Grund für die Annahme der Verfassungsbeschwerde i.S. des § 93a Abs. 2 BVerfGG liegt nicht vor. Die Verfassungsbeschwerde hat keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung; ihre Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG bezeichneten Rechte angezeigt. Die Verfassungsbeschwerde hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg.
1. Das HKiEntfÜ soll verhindern, daß ein Kind unter Verstoß gegen das Sorgerecht und somit widerrechtlich ins Ausland gebracht wird. Das durch einen Elternteil ohne Zustimmung des anderen Elternteils in einen anderen Vertragsstaat verbrachte Kind soll schnellstmöglich rückgeführt und die Sorgerechtsentscheidung am Ort des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes sichergestellt werden. Auf diese Art dient das HKiEntfÜ dem Kindeswohl. Die strikte Regel, daß allein das ursprünglich international zuständige Gericht unter Berücksichtigung des Kindeswohls über die elterliche Sorge entscheidet, soll gerade einen auch für das Kind nachteiligen Wechsel des Lebensmittelpunktes vermeiden. Es soll verhindert werden, daß durch die Entführung geschaffene vollendete Tatsachen von vornherein ein Übergewicht gewinnen (vgl. BVerfG, 1. Kammer des Zweiten Senats, NJW 1996, S. 1402 ≪1403≫; BVerfG, 3. Kammer des Zweiten Senats, NJW 1996, S. 3145).
2. Der Schutz des Kindes vor Entführung steht im Schnittpunkt verschiedener Grundrechtspositionen sowohl des Kindes als auch beider Elternteile aus Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 GG sowie Art. 6 Abs. 1 bis 4 GG. In erster Linie obliegt es dem Gesetzgeber, aufgrund seiner Ausgestaltungsbefugnis und seines Wächteramtes nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG, einen verhältnismäßigen Ausgleich zwischen den beteiligten Interessen zu finden. Dabei muß das Kindeswohl letztlich bestimmend sein; ihm kommt Vorrang vor den Elterninteressen zu. Einen solchen, verfassungsrechtlich unbedenklichen Ausgleich hat der Gesetzgeber mit dem HKiEntfÜ gefunden (BVerfG, 3. Kammer des Zweiten Senats, NJW 1996, S. 3145).
3. Nach Art. 5 lit. a HKiEntfÜ umfaßt das Sorgerecht die Sorge für die Person des Kindes und insbesondere das Recht, den Aufenthalt des Kindes zu bestimmen. Nach Art. 3 lit. a HKiEntfÜ ist ein Verbringen oder Zurückhalten des Kindes bereits dann widerrechtlich, wenn es ein bloßes Mitsorgerecht verletzt.
a) Ein solches Mitsorgerecht im Sinne des Haager Kindesentführungsübereinkommens hatte der Kindesvater inne, als die Kinder nach Deutschland gebracht wurden. Art. 5 lit. a HKiEntfÜ verdeutlicht, daß – im Hinblick auf den Aufenthaltswechsel als Regelungsgegenstand – das Sorgerecht im Sinne des Übereinkommens nur die Personen- und nicht die Vermögenssorge umfaßt und daß als zentrales Element dieser Personensorge das Recht zu betrachten ist, über den dauerhaften Aufenthalt des Kindes zu bestimmen (vgl. Anlage 1 zur Denkschrift zu den Übereinkommen, BTDrucks 11/5314, S. 51; Pirrung, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 13. Aufl., 1994, Vorbem. zu Art. 19 EGBGB, Rn. 649). Nach den Feststellungen des Oberlandesgerichts war dem Kindesvater ein Mitspracherecht in wichtigen Fragen der Personensorge und insbesondere auch in der Frage des Aufenthalts außerhalb von Argentinien eingeräumt worden.
b) Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Berücksichtigung eines Mitsorgerechts nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen sind nicht ersichtlich. Das gemeinsame Sorgerecht nimmt in der Gesetzgebung und der Rechtsprechung der Staaten zunehmenden Raum ein (Anlage 1 zur Denkschrift zu den Übereinkommen, BTDrucks 11/5314, S. 49). Wäre das Mitsorgerecht nicht erfaßt, so würde der dem Kindeswohl dienende Schutz vor Entführung in zahlreichen Fällen leerlaufen. Gerade in Fällen wie etwa dem gemeinsamen Sorgerecht verheirateter Eltern (zu einem solchen Sachverhalt vgl. BVerfG, 1. Kammer des Zweiten Senats, NJW 1996, S. 1402) wird dem Kindeswohl gedient, indem das Kind möglichst schnell rückgeführt und die Sorgerechtsentscheidung am Ort des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes sichergestellt wird.
Auch wenn das Personensorgerecht des Betroffenen weniger ausgeprägt ist als das des Entführers (zu einem solchen Sachverhalt vgl. BVerfG, 3. Kammer des Zweiten Senats, NJW 1996, S. 3145), stellt die grundsätzliche Rückführungspflicht einen verfassungsrechtlich zulässigen, verhältnismäßigen Ausgleich zwischen den beteiligten Interessen und grundrechtlichen Positionen dar, der den Vorrang des Kindeswohls vor den Elterninteressen wahrt und nicht gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verstößt. Das Haager Kindesentführungsübereinkommen erfaßt seinem Sinn entsprechend alle Fälle, in denen ein Kind unter Verletzung eines Sorgerechts ins Ausland verbracht wird. Hat eine Person sorgerechtliche Befugnisse und insbesondere das Recht, über den Aufenthalt des Kindes mitzubestimmen, so entspricht es nicht dem Kindeswohl, wenn diese Befugnisse faktisch dadurch außer Kraft gesetzt werden können, daß eine andere, mit einem umfangreicheren Sorgerecht ausgestatte Person das Kind entführt und so vollendete Tatsachen schafft. Ob die alleinige Ausübung aller sorgerechtlichen Befugnisse durch einen Elternteil oder ein Aufenthaltswechsel ins Ausland dem Wohle des Kindes entsprechen, soll allein das international zuständige Gericht entscheiden. Die Beschwerdeführerin zu 1. hätte, wie in Art. 264.quater Satz 2 des argentinischen Bürgerlichen Gesetzbuches vorgesehen, bei Nichteinwilligung des Kindesvaters in die Ausreise nach Deutschland eine richterliche Entscheidung in Argentinien herbeiführen müssen.
c) Die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten strengen Anforderungen zum Schutz des Kindeswohls in Sorgerechtsfragen (vgl. BVerfGE 75, 201 ≪218, 220≫; 79, 51 ≪64≫) finden grundsätzlich keine Anwendung auf Entscheidungen nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen. Rückführungsbeschlüsse betreffen nicht selbst das Sorgerecht, sondern sollen erst die Voraussetzungen dafür schaffen, daß das international zuständige Gericht über das Sorgerecht entscheiden kann und diese Entscheidung auch in anderen Vertragsstaaten tatsächlich beachtet wird (vgl. Art. 1 lit. b HKiEntfÜ). Zudem wird dem möglichen Überwiegen des Kindeswohls aufgrund spezieller Umstände des Einzelfalls mit Art. 13 Abs. 1 lit. b HKiEntfÜ hinreichend Rechnung getragen (vgl. BVerfG, 1. Kammer des Zweiten Senats, NJW 1996, S. 1402 ≪1403≫; BVerfG, 3. Kammer des Zweiten Senats, NJW 1996, S. 3145).
d) Eine andere verfassungsrechtliche Beurteilung ist auch dann nicht erforderlich, wenn dem Entführer gerade wegen der Entführung ein Strafverfahren im Herkunftsland droht. Das Haager Kindesentführungsübereinkommen soll gerade vermeiden, daß durch die Entführung vollendete Tatsachen geschaffen werden. Nur so sind widerrechtliche Kindesentführungen effektiv zu verhindern. Dem widerspräche es, wenn der Entführer die Möglichkeit hätte, unter Hinweis auf die möglichen, etwa strafrechtlichen Konsequenzen seines eigenen widerrechtlichen Verhaltens der dadurch geschaffenen rechtswidrigen Lage dauerhaften Bestand zu geben.
4. Im übrigen begegnet die Rechtsanwendung durch das Oberlandesgericht keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Auslegung und Anwendung des Haager Kindesentführungsübereinkommens sind grundsätzlich Sache der Fachgerichte (BVerfG, 3. Kammer des Zweiten Senats, NJW 1996, S. 3145). Eine Entscheidung über die Personensorge, bei der eine erweiterte Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht in Betracht kommt (vgl. BVerfGE 68, 176 ≪190≫; 72, 122 ≪138 f.≫; 75, 201 ≪221 f.≫; 79, 51 ≪63≫), liegt nicht vor.
Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Limbach, Graßhof, Kirchhof
Fundstellen
Haufe-Index 1134561 |
NJW 1997, 3301 |
EuGRZ 1997, 504 |
NVwZ 1998, 53 |
IPRspr. 1997, 101 |
InJur 2000, 4 |