Verfahrensgang
OLG Oldenburg (Oldenburg) (Beschluss vom 04.06.2007; Aktenzeichen 13 W 39/07) |
Tenor
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 4. Juni 2007 – 13 W 39/07 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes.
Der Beschluss wird aufgehoben, soweit er über die Kosten entscheidet. Die Sache wird zur Entscheidung über die Kosten an das Oberlandesgericht Oldenburg zurückverwiesen.
Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Anforderungen an die Prüfung der Anordnung von Abschiebungshaft durch die Rechtsmittelgerichte, die sich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG ergeben.
1. Der Beschwerdeführer ist ein 1961 geborener syrischer Staatsangehöriger, der nach seiner Einreise in das Bundesgebiet im Jahr 2002 erfolglos ein Asylverfahren durchlief. Er wurde mangels genauer Kenntnis seiner Identität zunächst geduldet. Ausweislich eines Vermerks in den Akten des Amtsgerichts wandte sich der Leiter der zuständigen Ausländerbehörde am 19. Februar 2007 telefonisch an das Amtsgericht. Die Identität des Beschwerdeführers sei nunmehr durch Urkunden geklärt. Es sei beabsichtigt, gegen den Beschwerdeführer einen Antrag auf Abschiebungshaft zu stellen. Man erwarte, dass der Beschwerdeführer in den nächsten Tagen bei der Behörde vorsprechen werde. Dann wolle man ihn festnehmen. Der zuständige Richter erklärte telefonisch, dass er die Festnahme anordne beziehungsweise genehmige für den Fall, dass der Beschwerdeführer dem Amtsgericht unverzüglich unter Stellung eines Abschiebungshaftantrags vorgeführt werde. Der Beschwerdeführer wurde am Vormittag des 26. Februar 2007 festgenommen. Anschließend stellte die Ausländerbehörde einen Antrag auf Anordnung von Sicherungshaft. Das Amtsgericht ordnete diese mit Beschluss vom gleichen Tage an.
2. Unter dem 13. März 2007 beantragte der Beschwerdeführer die Feststellung der Rechtswidrigkeit seiner Ingewahrsamnahme bis zum Erlass der Haftanordnung. Sollte das Amtsgericht der Auffassung sein, dass der Vermerk vom 19. Februar 2007 einen Haftbeschluss darstelle, werde dagegen sofortige Beschwerde erhoben: Der Erlass einer einstweiligen Haftanordnung setze einen Antrag voraus. Zudem dürfe eine einstweilige Anordnung nach § 11 FreihEntzG nur dann ergehen, wenn bereits ein Antrag in der Hauptsache anhängig sei. Das Amtsgericht fasste den Schriftsatz vom 13. März 2007 als sofortige Beschwerde auf und legte diese dem Landgericht vor.
3. Das Landgericht hob die Haftanordnung des Amtsgerichts mit Beschluss vom 13. April 2007 auf: Es könne dahinstehen, ob die Wirksamkeit der Haftanordnung deren Schriftform voraussetze. Jedenfalls fehle es an einer auf den Einzelfall bezogenen Begründung, wie sie gemäß § 11 Abs. 2, § 6 FreihEntzG geboten sei. Überdies habe kein den Anforderungen des § 3 FreihEntzG gerecht werdender Haftantrag vorgelegen. Dem Amtsgericht sei lediglich mitgeteilt worden, dass die Identität des Betroffenen belegt sei und man beabsichtige, einen Antrag auf Abschiebungshaft zu stellen. Damit genüge der Antrag den Anforderungen der §§ 3, 11 FreihEntzG nicht.
4. Mit der sofortigen weiteren Beschwerde führte die Ausländerbehörde unter anderem aus, dass der amtsgerichtliche Vermerk den Inhalt des Telefongesprächs nur verkürzt wiedergebe. Das Amtsgericht sei darüber in Kenntnis gesetzt worden, dass der Beschwerdeführer vollziehbar ausreisepflichtig gewesen sei und auch Haftgründe bestünden.
5. Das Oberlandesgericht hob mit dem hier angegriffenen Beschluss vom 4. Juni 2007 den Beschluss des Landgerichts auf und wies den Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Ingewahrsamnahme zurück. Das Landgericht habe zutreffend ausgeführt, dass die telefonische Entscheidung des Amtsgerichts nicht nach den Vorschriften des Gesetzes über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen zustande gekommen sei. Jedoch führe dies nicht zur Rechtswidrigkeit der Festnahme des Beschwerdeführers. Die Garantien des Art. 104 Abs. 1 und 2 GG seien eingehalten worden. Die Festnahmeanordnung sei auf Antrag der zuständigen Ausländerbehörde ergangen. Dieser müsse nicht schriftlich gestellt werden. Die Festnahmeentscheidung entspreche zwar nicht der Vorschrift des § 6 FreihEntzG in Verbindung mit § 11 Abs. 2 FreihEntzG, jedoch folgten die wesentlichen Entscheidungsgründe aus dem Vermerk. Nach den Gründen wäre eine einstweilige Anordnung gemäß § 11 FreihEntzG nicht zu beanstanden gewesen. Da die wesentlichen materiellen Voraussetzungen einer Entscheidung nach § 11 FreihEntzG vorgelegen hätten und die Entscheidung noch hinreichend dokumentiert sei, sei die Festnahme durch die vorher erteilte richterliche Anordnung abgedeckt und rechtmäßig.
6. Die vom Beschwerdeführer erhobene Anhörungsrüge nach § 29a FGG, die er damit begründete, sein Vortrag zur Notwendigkeit eines Antrags auf Anordnung der Freiheitsentziehung in der Hauptsache sei übergangen worden, wies das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 7. Juni 2007 zurück: Der Senat habe sich mit der Frage, dass ein Verfahren nach § 11 FreihEntzG grundsätzlich ein Hauptsacheverfahren voraussetze, auseinandergesetzt. Da nach Auffassung des Senats jedoch die wesentlichen materiellen Voraussetzungen einer Entscheidung gemäß § 11 FreihEntzG vorgelegen hätten, sei dieser Punkt für die Frage einer eventuellen Rechtswidrigkeitsfeststellung nicht relevant.
7. Das Land Niedersachsen und der Landkreis Grafschaft Bentheim hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
Entscheidungsgründe
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Dies ist zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist danach zulässig und offensichtlich begründet im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. Der Beschluss des Oberlandesgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG.
1. Die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) ist ein besonders hohes Rechtsgut, in das nur aus wichtigen Gründen eingegriffen werden darf (vgl. BVerfGE 10, 302 ≪322≫; 29, 312 ≪316≫). Geschützt wird die im Rahmen der geltenden allgemeinen Rechtsordnung gegebene tatsächliche körperliche Bewegungsfreiheit vor Eingriffen wie Verhaftung, Festnahme und ähnlichen Maßnahmen des unmittelbaren Zwangs (vgl. BVerfGE 22, 21 ≪26≫; 94, 166 ≪198≫; 96, 10 ≪21≫). Nach Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG darf die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Freiheit der Person nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden. Die formellen Gewährleistungen des Art. 104 GG stehen mit der materiellen Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in unlösbarem Zusammenhang (vgl. BVerfGE 10, 302 ≪322≫; 58, 208 ≪220≫). Art. 104 Abs. 1 GG nimmt den schon in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalt auf und verstärkt ihn für alle Freiheitsbeschränkungen, indem er neben der Forderung nach einem förmlichen Gesetz die Pflicht, die sich aus diesem Gesetz ergebenden freiheitsschützenden Formvorschriften zu beachten, zum Verfassungsgebot erhebt (vgl. BVerfGE 10, 302 ≪323≫; 29, 183 ≪195 f.≫; 58, 208 ≪220≫).
§ 11 Abs. 1 Satz 1 FreihEntzG enthält eine Verfahrensgarantie, die nach Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG von Verfassungs wegen zu beachten ist (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 1. April 2008 – 2 BvR 1925/04 –, juris). Die Regelung setzt für die einstweilige Anordnung einer Freiheitsentziehung unter anderem voraus, dass ein ordnungsgemäßer Antrag auf Erlass einer – endgültigen – Haftanordnung durch die zuständige Verwaltungsbehörde gestellt worden ist (vgl. Marschner, in: Marschner/Volckart, Freiheitsentziehung und Unterbringung, 4. Aufl. 2001, § 11 FreihEntzG Rn. 2). Nach dieser Regelung dürfen vorläufige Entscheidungen über die Freiheitsentziehung nur getroffen werden, wenn das Gericht bereits mit dem Verfahren in der Hauptsache befasst ist, sodass ihm auch für die Entscheidung über den Erlass einer einstweiligen Anordnung die notwendigen Unterlagen vorliegen. Nur so wird es dem Gericht ermöglicht, seine Entscheidung über die Dauer der einstweiligen Freiheitsentziehung an die Umstände anzupassen, die dazu führen, dass zunächst eine einstweilige Anordnung notwendig wird und die endgültige Haftentscheidung noch nicht getroffen werden kann.
2. Den sich aus diesen Maßstäben ergebenden Anforderungen wird der angegriffene Beschluss nicht gerecht.
Das Oberlandesgericht verkennt Tragweite und Bedeutung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG bereits deshalb, weil es die (vorläufige) Ingewahrsamnahme des Beschwerdeführers ohne Antrag auf Anordnung von Abschiebungshaft in der Hauptsache für rechtmäßig erachtet. Die Ausführungen zur Unschädlichkeit von Verfahrens- und Formvorschriften bei Erfüllung der materiellen Haftvoraussetzungen stehen nicht im Einklang mit der verfassungsrechtlichen Bedeutung, die der Regelung des § 11 Abs. 1 FreihEntzG über Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG zukommt. Der Verstoß gegen diese Vorschrift kann insbesondere nicht mit der Argumentation für unbeachtlich erklärt werden, die einstweilige Freiheitsentziehung sei materiell zu Recht angeordnet worden. Eine solche hypothetische Betrachtungsweise widerspricht dem Gesetzesvorbehalt des Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG und findet in den Vorschriften des Gesetzes über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen keinen Anhalt (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 1. April 2008 – 2 BvR 1925/04 –, juris).
III.
1. Einer Aufhebung des angegriffenen Beschlusses bedarf es angesichts des hier festgestellten Verfassungsverstoßes nur hinsichtlich der getroffenen Kostenentscheidung (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG). Insoweit wird die Sache an das Oberlandesgericht zurückverwiesen. Auf die weiteren Grundrechtsrügen kommt es nicht an.
2. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Mellinghoff, Lübbe-Wolff, Gerhardt
Fundstellen