Verfahrensgang
OLG Dresden (Beschluss vom 14.09.2007; Aktenzeichen 21 UF 0346/07) |
Tenor
1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden vom 14. September 2007 – 21 UF 0346/07 – verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 6 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes.
Der Beschluss wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht Dresden zurückverwiesen.
2. Der Freistaat Sachsen hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
3. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Tatbestand
I.
Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen einen Sorgerechtsentzug.
1. Aus der nichtehelichen Verbindung der 1986 geborenen Beschwerdeführerin und des Kindesvaters ging im Februar 2005 das verfahrensbetroffene Kind hervor, für das die Eltern infolge Sorgeerklärung die gemeinsame elterliche Sorge innehaben. Im Einverständnis der Eltern wuchs das Kind im Wesentlichen bei der 1941 geborenen Großmutter der Beschwerdeführerin (im Folgenden: Urgroßmutter) auf. Anlässlich der Inhaftierung der Mutter im Oktober 2006 beantragte die Urgroßmutter beim Familiengericht die Vormundschaft für das Kind.
a) Unter Aufrechterhaltung einer deckungsgleichen einstweiligen Anordnung vom 18. Dezember 2006 entzog das Amtsgericht mit Beschluss vom 10. Mai 2007 den Eltern auch in der Hauptsache die elterliche Sorge für das Kind und bestimmte das Jugendamt zu dessen Vormund. Den Antrag der Urgroßmutter, sie als Vormündin zu bestellen und ihren Hilfsantrag, den Verbleib des Kindes in Familienpflege bei ihr anzuordnen, wies es zurück.
Die Kindesmutter habe nicht dargetan, dass sie nunmehr nach ihrer Haftentlassung Lebensverhältnisse geschaffen habe, in denen sie eine dem Kindeswohl entsprechende Betreuung und Versorgung des Kindes gewährleisten könnte. Zum Vormund sei das Jugendamt zu bestellen gewesen, weil dieses hier besser als die Urgroßmutter in der Lage sei, die Sorgerechtsangelegenheiten im Interesse des Kindes wahrzunehmen. Es sei zu befürchten, dass die Urgroßmutter zukünftig nicht in der Lage sein werde, gegenüber der Mutter die Interessen des Kindes in ausreichendem Umfang wahrzunehmen. Der Antrag der Urgroßmutter, hilfsweise anzuordnen, dass das Kind weiterhin bei ihr in Pflege verbleibe, sei zurückzuweisen gewesen. Es lasse sich nicht feststellen, dass es den Interessen des Kindes widerspreche, wenn das Jugendamt das Kind schrittweise an eine Pflegefamilie heranführe mit dem Ziel, das Kind in eine Pflegefamilie zu geben und den Kontakt zur Urgroßmutter im Rahmen eines umfangreichen Umgangsrechts aufrechtzuerhalten. Die Erwägungen des Jugendamts, angesichts der unsicheren Perspektive einen Wechsel des Kindes in eine Pflegefamilie bereits in einem geringeren Lebensalter vorzunehmen, in dem eine Eingewöhnung noch leichter falle, orientiere sich am Kindeswohl.
b) Gegen diesen Beschluss legten sowohl die Beschwerdeführerin als auch die Urgroßmutter Beschwerde ein. Nachdem das Oberlandesgericht zunächst mit einstweiliger Anordnung vom 25. Juni 2007 vorläufig den Verbleib des Kindes bei der Urgroßmutter angeordnet hatte, wies es mit dem angegriffenen Beschluss vom 14. September 2007 die Beschwerden zurück.
Eine gegenwärtige, nachhaltige und schwerwiegende Gefährdung für die körperliche, geistige und seelische Kindesentwicklung sei bei einem Aufenthalt des Kindes bei der Mutter abzusehen. Ihre bisherigen Initiativen seien unzureichend. Trotz der Mahnungen der Urgroßmutter, Hinweisen der Behörden und der ihr bekannten Unterstützungsmöglichkeiten habe sie seit ihrer Haftentlassung und somit über nahezu ein halbes Jahr und nach dem Erlebnis eines vorläufigen Sorgerechtsentzugs für ein weiteres, jüngeres Kind Ergebnisse zur Absicherung ihrer Wohn- oder finanziellen Verhältnisse erst in Form der Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II erreicht und sich erst vor kurzem um berufliche Qualifizierungsmaßnahmen und Wohnraum bemüht. Daher könnten auch die in der Vergangenheit getätigten Bekundungen, sie sei in der Lage, sich um das Kind zu kümmern, nur als Wunschdenken qualifiziert werden. Auch die Einschätzung der Urgroßmutter, die zwar die Hoffnung zum Ausdruck bringe, dass die Mutter vielleicht in der Zukunft die Fähigkeit entwickle, sich selbst um den Sohn zu kümmern, damit aber ihr gleichzeitig diese Fähigkeit derzeit abspreche, bilde für den Senat Grundlage der vorstehenden Beurteilung.
Die Voraussetzungen der Kindeswohlgefährdung seien auch erfüllt, soweit die Mutter die eigene defizitäre Erziehung des Kindes dadurch auszugleichen versuche, dass sie in erheblichem Umfang die tatsächliche Betreuung durch die Urgroßmutter ausführen lasse und auch künftig von ihrem Aufenthaltsbestimmungsrecht in dieser Weise Gebrauch machen möchte. Die Mutter biete nicht die Gewähr dafür, dass sie diesen Aufenthalt und “Erziehungsvorrang” der Urgroßmutter auch dauerhaft akzeptiere. Gegenüber der Urgroßmutter sei sie in ihrer Durchsetzungskraft im Konfliktfall die Überlegene und habe sich schon in der Vergangenheit nicht von dieser leiten lassen. Sie habe wiederholt bekundet, dass sie künftig den Sohn selbst versorgen wolle, aber nicht dargelegt, welche konkrete eigene Entwicklung sie vollziehen müsste, um dies bewerkstelligen zu können.
Eine Kindeswohlgefährdung bestehe auch bei einem (abgesicherten) Aufenthalt des Kindes bei der Urgroßmutter. Trotz deren Leistungen in der Vergangenheit und ihrer liebevollen Betreuung und Versorgung des Sohnes habe sie nicht verhindern können, dass insbesondere die geistige Entwicklung des Kindes defizitär verlaufen sei und dies eine Gefährdung darstelle. Nach eigener Sachkunde des Senats aufgrund eigener Kindererziehungen und unter Zugrundelegung allgemein zugänglicher Quellen über die soziale und geistige Entwicklung von Kleinkindern sei die geistige Entwicklung des Kindes evident [gemeint wohl: evident defizitär]. Im August 2007 habe die Logopädin, der das Kind erst auf Anraten des Jugendamts von der Urgroßmutter vorgestellt worden sei, festgestellt, dass das Kind nur über einen Wortschatz von 15 Wörtern verfüge, in seinem Aufgabenverständnis stark eingeschränkt sei und eine Sprachverständnisstörung besitze. Damit bleibe es in seiner sprachlichen Entwicklung deutlich hinter durchschnittlichen Entwicklungen von Kindern seines Alters zurück. Die Urgroßmutter sehe den Besuch bei der Logopädin als nicht notwendig an. Sie sei im Ergebnis der Aufforderung des Jugendamts zur Vorstellung des Kindes zwar nachgekommen, versperre sich aber der Einsicht, dass Defizite bestehen könnten und weitere Förderung und Forderung des Jungen erfolgen müssten. Der Aufforderung zur Vorstellung zur Prüfung einer Frühförderung sei sie nicht nachgekommen. Die Mutter, die über diese Umstände informiert sei, teile die Auffassung der Urgroßmutter und habe sich ebenfalls nicht bemüht. Diese Defizite könnten nicht lediglich durch den künftigen Besuch eines Kindergartens ausgeglichen werden, da dieser lediglich stundenweise besucht werde und nicht die übrige geistige Förderung bewirken könne, um die Chancen des Kindes in der Zukunft zu wahren. Die lediglich bruchstückhaften Äußerungen des Kindes, die gerade mal “Auto” und “nein” bei der Begegnung mit den Senatsmitgliedern umfasst hätten, hätten auch unter Berücksichtigung der Ermüdungserscheinungen des Sohnes bei der Anhörung einen Eindruck des Jungen darüber vermittelt, dass er in seiner geistigen Entwicklung im Vergleich zu gleichaltrigen Jungen nicht unerheblich zurückgeblieben sei.
Dass weder Mutter noch Urgroßmutter diese Defizite erkennen würden beziehungsweise offen seien, entsprechende Feststellungen treffen zu lassen und sich dem fach- und sachkundigen Urteil von Experten nicht anpassten, zeige eine unzureichende Einstellung gegenüber den kindlichen Belangen. Auch unter Berücksichtigung der entstandenen Bindungen des Kindes zur Urgroßmutter erscheine es dem Senat nicht als zwingend, den Sohn – wie von der Mutter beabsichtigt – weiter bei der Urgroßmutter zu belassen. Sein derzeitiges Verhalten könne auch dahingehend gewertet werden, dass er besondere Nähe zur Urgroßmutter nach Besuchen der Pflegefamilie suche, weil seine bisherigen Bindungen eher als unsicher zu bewerten seien, da er sich stärker des Rückhalts der Urgroßmutter versichere als Kinder mit sicheren Bindungen. Der Sohn sei in einem Alter, in dem er durchaus in der Lage sei, sich auf neue – verlässliche und dauerhafte – Bezugspersonen einzulassen.
Der Sorgerechtsentzug sei verhältnismäßig, da minder eingreifende Maßnahmen nicht geeignet seien, die Kindeswohlgefährdung auszuräumen. Auch wenn allgemein die Gefahr bestehen möge, zum vermeintlich Besten des Kindes zu stark in die Familie einzugreifen und so den elterlichen Erziehungsvorrang aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ebenso wie die Kinderrechte zu verletzen, dürften zur Wahrung der Elternrechte nicht immer neue Therapie- oder Hilfeversuche unternommen werden, die dem Kind über einen allzu langen Zeitraum hinweg geordnete Verhältnisse vorenthielten. Insbesondere eine sozialpädagogische Familienhilfe sei nicht geeignet, die defizitäre Erziehung der Mutter auch bei Unterstützung durch die Urgroßmutter auszugleichen, da sowohl eine dauerhafte Überforderung als auch eine unzureichende Befähigung vorliege, die Belange und Bedürfnisse des Kindes zu erkennen und dieses zu fördern und zu fordern. Die Mutter werde mit dieser Hilfeform auch in der Zukunft nicht in der Lage sein, eine von Zuwendung getragene intensive Förderung und Forderung des Kindes zu erreichen, da sie diese Kraft und das Durchhaltevermögen der erforderlichen Erlangung eigener geordneter Lebens-, Einkommens- und Wohnverhältnisse derzeit nicht besitze und nicht in einem Zeitrahmen erlangen könne, der nach dem Kindeswohl erforderlich sei, um dessen geistige Entwicklung zu erreichen.
2. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihres Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG.
3. Die Verfassungsbeschwerde wurde der Regierung des Freistaats Sachsen, dem Kindesvater, der Urgroßmutter und dem Amtsvormund zugestellt; allen Beteiligten wurde Gelegenheit zur Stellungnahme, auch zum Gegenstandswert gegeben. Der Freistaat Sachsen verteidigt die angegriffene Entscheidung. Die Urgroßmutter hat sich der Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin angeschlossen. Der Amtsvormund und der Kindesvater haben sich nicht geäußert. Die Beschwerdeführerin regt an, den Gegenstandswert auf 8.000 € festzusetzen.
Dem Bundesverfassungsgericht haben die Akten des Ausgangsverfahrens vorgelegen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Kammer gibt der Verfassungsbeschwerde statt.
Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Elternrechts der Beschwerdeführerin geboten (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Zu dieser Entscheidung ist die Kammer berufen, weil die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sind und die zulässige – insbesondere ausreichend substantiiert begründete (§ 92 BVerfGG) – Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet ist (§ 93c Abs. 1 BVerfGG).
1. Der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG.
a) Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert den Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Sie können grundsätzlich frei von staatlichen Einflüssen und Eingriffen nach eigenen Vorstellungen darüber entscheiden, wie sie die Pflege und Erziehung ihrer Kinder gestalten und damit ihrer Elternverantwortung gerecht werden wollen. In der Beziehung zum Kind muss aber das Kindeswohl die oberste Richtschnur der elterlichen Pflege und Erziehung sein (vgl. BVerfGE 60, 79 ≪88≫ m.w.N.).
Eine gerichtliche Entscheidung, nach der die Trennung des Kindes von seinen Eltern vollzogen werden kann, ist mit dem in Art. 6 Abs. 2 und 3 GG gewährleisteten Elternrecht nur dann vereinbar, wenn ein schwerwiegendes – auch unverschuldetes – Fehlverhalten und entsprechend eine erhebliche Gefährdung des Kindeswohls vorliegen. Nicht jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit der Eltern berechtigt den Staat auf der Grundlage seines ihm nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG zukommenden Wächteramts (vgl. BVerfGE 7, 320 ≪323≫; 59, 360 ≪376≫), diese von der Pflege und Erziehung ihres Kindes auszuschalten oder gar selbst diese Aufgabe zu übernehmen (vgl. BVerfGE 24, 119 ≪144 f.≫; 60, 79 ≪91≫). Es gehört nicht zur Ausübung des Wächteramts des Staates, gegen den Willen der Eltern für eine den Fähigkeiten des Kindes bestmögliche Förderung zu sorgen. Das Grundgesetz hat den Eltern zunächst die primäre Entscheidungszuständigkeit bezüglich der Förderung ihrer Kinder zugewiesen. Dabei wird auch in Kauf genommen, dass Kinder durch den Entschluss der Eltern wirkliche oder vermeintliche Nachteile erleiden (vgl. BVerfGE 60, 79 ≪94≫; BVerfG FamRZ 2006, S. 1593 ≪1594≫).
Das elterliche Fehlverhalten muss daher ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind bei einem Verbleiben in der Familie in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist (vgl. BVerfGE 60, 79 ≪91≫). Wenn Eltern das Sorgerecht für ihr Kind entzogen und damit zugleich die Aufrechterhaltung der Trennung des Kindes von ihnen gesichert wird, darf dies zudem nur unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen (vgl. BVerfGE 60, 79 ≪89≫). Dieser gebietet es, dass Art und Ausmaß des staatlichen Eingriffs sich nach dem Grad des Versagens der Eltern und danach bestimmen müssen, was im Interesse des Kindes geboten ist. Der Staat muss daher nach Möglichkeit versuchen, durch helfende, unterstützende, auf Herstellung oder Wiederherstellung eines verantwortungsgerechten Verhaltens der leiblichen Eltern gerichtete Maßnahmen sein Ziel zu erreichen (vgl. BVerfGE 60, 79 ≪93≫ m.w.N.).
Wird ein Kind von seinen Eltern gegen deren Willen getrennt, so ist dies der stärkste vorstellbare Eingriff in das Elternrecht des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG, der in gleicher Intensität auch das Kind selbst betrifft. Zugleich liegt in dem Entzug der Personensorge die Feststellung des Gerichts, dass die Eltern als Erziehungsberechtigte versagt haben. Diese Beurteilung ihrer Persönlichkeit berührt die Eltern in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 55, 171 ≪181≫; 60, 79 ≪91≫). Bei dieser Sachlage besteht Anlass, die Intensität verfassungsgerichtlicher Kontrolle (allgemein dazu BVerfGE 18, 85, 92) auszuweiten und auch einzelne Auslegungsfehler nicht außer Betracht zu lassen (vgl. BVerfGE 60, 79 ≪91≫; 72, 122 ≪138≫; 75, 201 ≪222≫).
Grundrechtsschutz ist auch durch die Gestaltung des Verfahrens sicherzustellen (vgl. BVerfGE 55, 171 ≪182≫); das gerichtliche Verfahren muss in seiner Ausgestaltung geeignet und angemessen sein, um der Durchsetzung der materiellen Grundrechtspositionen wirkungsvoll zu dienen (vgl. BVerfGE 84, 34 ≪49≫). Zwar muss auch in Verfahren mit Amtsermittlungsgrundsatz dem erkennenden Gericht überlassen bleiben, welchen Weg es im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften für geeignet hält, um zu den für seine Entscheidung notwendigen Erkenntnissen zu gelangen (vgl. BVerfGE 79, 51 ≪62≫). Die Fachgerichte sind danach zwar verfassungsrechtlich nicht stets gehalten, ein Sachverständigengutachten einzuholen (vgl. BVerfGE 55, 171 ≪182≫). Wenn sie aber von der Beiziehung eines Sachverständigen absehen, müssen sie anderweit über eine möglichst zuverlässige Entscheidungsgrundlage verfügen (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 18. Januar 2006 – 1 BvR 526/04 –, FamRZ 2006, S. 605 ≪606≫ und vom 26. September 2006 – 1 BvR 1827/06 –, FamRZ 2007, S. 105 ≪106≫).
b) Diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben hält die angegriffene Entscheidung nicht stand, weil das vom Oberlandesgericht gewählte Verfahren nicht geeignet war, eine möglichst zuverlässige Grundlage für den von ihm gebilligten völligen Sorgerechtsentzug zu schaffen.
Zwar ist das Oberlandesgericht mit nachvollziehbarer Begründung davon ausgegangen, dass im Falle einer Übernahme der Betreuung des Kindes durch die Beschwerdeführerin persönlich derzeit das Kindeswohl gefährdet wäre, und dass im Falle eines nicht abgesicherten Aufenthalts des Kindes bei der Urgroßmutter zu befürchten sei, dass die Beschwerdeführerin den Aufenthalt des Kindes bei jener und deren “Erziehungsvorrang” nicht akzeptiere.
Soweit indes das Oberlandesgericht von einer konkreten Kindeswohlgefährdung auch im Falle eines rechtlich abgesicherten Aufenthalts des Kindes bei der Urgroßmutter ausgegangen ist, entbehrt diese Prognose einer ausreichend tragfähigen Grundlage.
Die Verfahrenspflegerin hatte bereits im März 2007 ein positives Bild der Betreuung des Kindes durch die Urgroßmutter gezeichnet und ausgeführt, es müsse vor einer Herausnahme des Kindes geprüft werden, ob die sprachlichen Verzögerungen des Kindes nicht möglicherweise eine ganz natürliche Ursache hätten und ob eventuelle Defizite gegebenenfalls mit Hilfe von Logopädie und Familienhilfe aufgeholt werden könnten. Im Bericht vom 20. Juni 2007 hatte die Verfahrenspflegerin neben einer engen Bindung des Kindes zu seiner Urgroßmutter Fortschritte des Kindes im sprachlichen Bereich dargestellt. Die Urgroßmutter habe erklärt, anlässlich der wahrgenommenen Logopädietermine sei ihr erklärt worden, dass die so zeitige Förderung eines Kindes mit Logopädie relativ ungewöhnlich sei, eigentlich würde dies erst in späterem Alter erfolgen. Zu prüfen sei, ob die Trennung des Kindes von der Urgroßmutter als Bindungsperson nicht größere Schäden bei ihm verursache als sein Verbleib bei ihr.
Aufgrund dieser Stellungnahmen der Verfahrenspflegerin hätte sich das Oberlandesgericht veranlasst sehen müssen, ein Sachverständigengutachten zu den Ursachen und dem Ausmaß der von ihm angenommenen Entwicklungsverzögerungen des Kindes und – unter Berücksichtigung der Erfolgsaussichten der Einrichtung einer sozialpädagogischen Familienhilfe – zu den Förderkompetenzen der Urgroßmutter sowie den Aussichten für die Wiederherstellung der Erziehungsfähigkeit der Beschwerdeführerin während des abgesicherten Aufenthalts des Kindes bei der Urgroßmutter einzuholen. Denn die sonstigen vom Oberlandesgericht herangezogenen Erkenntnisquellen boten ersichtlich keine hinreichende Gewähr dafür, ihm eine möglichst zuverlässige Entscheidungsgrundlage zu verschaffen.
aa) Soweit das Oberlandesgericht ausgeführt hat, dass die Beschwerdeführerin auch mit der Unterstützung einer sozialpädagogischen Familienhilfe die von Zuwendung getragene intensive Förderung und Forderung des Kindes nicht in einem Zeitrahmen erreichen könne, der nach dem Kindeswohl erforderlich sei, um dessen geistige Entwicklung zu erreichen, fehlt es für diese weitreichende Prognose mangels sachverständiger Beratung an einer hinreichend zuverlässigen Grundlage.
Die Einschätzung des Oberlandesgerichts berücksichtigt nicht, dass das Kind weiterhin von der Urgroßmutter betreut würde. Diese hätte auch – im Falle des Einverständnisses der Beschwerdeführerin unproblematisch (vgl. nur Fischer in: Schellhorn/Fischer/Mann, SGB VIII, 3. Aufl. 2007, § 27 Rn. 21 m.w.N.; Münder u.a., Frankfurter Kommentar zum SGB VIII, 5. Aufl. 2006, § 27 Rn. 44 m.w.N.) – Anspruch auf Hilfe zur Erziehung. Soweit das Oberlandesgericht davon ausgegangen sein sollte, die von der Beschwerdeführerin diesbezüglich erteilte Zustimmung sei nicht zuverlässig, hätte es – als milderes Mittel – der Beschwerdeführerin ergänzend das Recht zur Beantragung und Beendigung von Erziehungshilfen entziehen, insoweit Pflegschaft anordnen und so die Fortdauer der einzurichtenden Familienhilfe sicherstellen können.
Soweit das Oberlandesgericht in Bezug auf die Betreuung des Kindes durch die Urgroßmutter ausführt, diese habe selbst die Befürchtung geäußert, ab der Einschulung des Kindes die Betreuung nicht mehr persönlich übernehmen zu können, und es sei daher vorzugswürdig, das Kind in jungem Alter in eine Pflegefamilie zu vermitteln, greift auch dies verfassungsrechtlich zu kurz. Die Urgroßmutter hat nämlich zugleich ihrer Hoffnung Ausdruck verliehen, dass die Beschwerdeführerin bis dahin in der Lage sein werde, ihr Kind zu erziehen. Dafür, diese Hoffnung zu verwerfen, fehlt es an einer ausreichenden Grundlage. Aufgrund des Erziehungsvorrangs der Beschwerdeführerin kann dieser die Chance, während einer ausreichenden anderweitigen innerfamiliären Betreuung des Kindes mit der ihr zustehenden staatlichen Hilfe an ihrer eigenen Wiederbefähigung zu arbeiten, nicht genommen werden, solange solche Anstrengungen nicht von vornherein als zum Scheitern verurteilt angesehen werden müssen. Letztere, mehrere Jahre umfassende Prognose konnte das Oberlandesgericht ohne sachverständige Hilfe nicht zuverlässig anstellen.
bb) Soweit das Oberlandesgericht der – bislang noch nicht versuchten – Einrichtung einer sozialpädagogischen Familienhilfe die Erfolgsaussicht abgesprochen hat, beruhte auch dies nicht auf einer zuverlässigen Grundlage.
Das Jugendamt hat sich diesbezüglich selbst unsicher gezeigt. Im Anhörungstermin vom 16. August 2007 hat die Jugendamtsmitarbeiterin bekundet, sie “denke”, dass eine Familienhilfe auch mit 10 oder 15 Stunden nichts brächte. Sie sehe die Zukunft des Kindes im Sinne einer Förderung “eher” in einer Pflegefamilie. Sie halte es für “unwahrscheinlich”, dass es mit einer Familienhilfe gelingen könne, die Mutter und die Urgroßmutter zur Förderung des Kindes zu bewegen. Auf solche vage Äußerungen kann eine zuverlässige Prognose der Erfolglosigkeit einer Familienhilfe nicht gestützt werden.
cc) Insoweit, als das Oberlandesgericht es als dem Kind nicht zumutbar angesehen hat, “immer neue Hilfeversuche” zu unternehmen, erhellt sich aus den Akten des Ausgangsverfahrens nicht, welche konkreten Maßnahmen – neben der Aufforderung zur Wahrnehmung von Logopädieterminen und zur Anmeldung zur Frühförderung – insoweit bereits erfolgt sind. Aus den Akten geht nur hervor, dass das Jugendamt sehr früh eine Vermittlung des Kindes in eine Pflegefamilie vorbereitet hat.
c) Die Entscheidung des Oberlandesgerichts beruht auch auf dem Grundrechtsverstoß. Es ist nicht auszuschließen, dass das Oberlandesgericht bei Beachtung der sich aus dem Elternrecht der Beschwerdeführerin ergebenden Anforderungen an die Verfahrensgestaltung zu einem dieser günstigeren Ergebnis gekommen wäre.
2. Die Verletzung des Elternrechts der Beschwerdeführerin durch die angegriffene Entscheidung ist nach § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG festzustellen. Der Beschluss des Oberlandesgerichts ist aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).
3. Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG.
Unterschriften
Papier, Hohmann-Dennhardt, Hoffmann-Riem
Fundstellen
Haufe-Index 1890584 |
FamRZ 2008, 492 |