Entscheidungsstichwort (Thema)
Mietrechtlicher Eigenbedarfsrechtsstreit über Wohnraum
Verfahrensgang
LG Kleve (Urteil vom 25.11.1998; Aktenzeichen 6 S 156/98) |
AG Geldern (Urteil vom 22.05.1998; Aktenzeichen 3 C 103/97) |
Tenor
Das Urteil des Landgerichts Kleve vom 25. November 1998 - 6 S 156/98 - und das Urteil des Amtsgerichts Geldern vom 22. Mai 1998 - 3 C 103/97 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 14 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes. Das Urteil des Landgerichts wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht zurückverwiesen.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde betrifft einen mietrechtlichen Eigenbedarfsrechtsstreit über Wohnraum.
I.
1. Der Beschwerdeführer ist Eigentümer eines vom Beklagten des Ausgangsverfahrens errichteten, 1989 an den Beschwerdeführer veräußerten Hauses. Nach der Veräußerung verblieb der Beklagte aufgrund eines mit dem Beschwerdeführer geschlossenen Mietvertrags in dem Haus, in dessen Nähe der Beschwerdeführer ein Büro für Innenarchitektur sowie für Maler- und Lackierarbeiten unterhält. Die Fahrzeit von der derzeitigen Wohnung des Beschwerdeführers zu diesem Büro beträgt etwa 40 Minuten. 1996 kündigte er das Mietverhältnis wegen Eigenbedarfs. Er benötige eine Wohnung in unmittelbarer Nähe seiner Betriebsstätte. Der Beklagte widersprach nach § 556 a BGB und verlangte die Fortsetzung des Mietverhältnisses.
Das Amtsgericht hat die auf Räumung und Herausgabe der Wohnung gerichtete Klage des Beschwerdeführers abgewiesen. Es hat dessen Kündigung als unwirksam angesehen, weil zur Beendigung des Mietverhältnisses berechtigende Gründe nicht dargelegt worden seien. Dabei sei, soweit der Beschwerdeführer seinen Wohnsitz in die Nähe seiner Betriebsstätte verlegen wolle, zu beachten, daß Wohnung und Betriebsstätte schon bei Mietvertragsabschluß auseinandergefallen seien. Unwirksam sei die Kündigung auch deshalb, weil der Beklagte ihr widersprochen habe und die vertragsmäßige Beendigung des Mietverhältnisses für ihn eine Härte bedeuten würde, die auch unter Würdigung der Interessen des Beschwerdeführers nicht zu rechtfertigen sei.
Das Landgericht hat die Berufung des Beschwerdeführers zurückgewiesen. Zwar lägen aus dessen Sicht vernünftige und nachvollziehbare Gründe für den Wunsch vor, das in Rede stehende Haus künftig mit seiner Familie selbst zu nutzen. Eigenbedarf sei damit grundsätzlich gegeben. Indessen führe die gemäß § 556 a BGB vorzunehmende Abwägung der beiderseitigen Interessen dazu, daß dem Wunsch des Beklagten nach Fortsetzung des Mietverhältnisses der Vorzug gebühre.
Schon zu Beginn des Mietverhältnisses habe der Beschwerdeführer in einiger Entfernung von seinem Betrieb gewohnt. 1992 sei er mit seiner damaligen Lebensgefährtin und deren Kind in seine nunmehr genutzte Wohnung eingezogen. Über einen längeren Zeitraum habe er die damit nach seiner Darstellung verbundenen Nachteile in Kauf genommen. Dies beseitige zwar den Eigenbedarf des Beschwerdeführers nicht, zumal in seinem Haushalt inzwischen neben der jetzigen Lebensgefährtin zwei minderjährige Kinder lebten und seine Wohnung hierfür nach der Aussage der vom Landgericht als Zeugin vernommenen Lebensgefährtin nicht unbedingt geeignet sei. Doch zeige sich hieran immerhin, daß der Beschwerdeführer seine Wohnsituation selbst über längere Zeit nicht als so unangenehm empfunden habe, daß eine Änderung dringend geboten wäre.
Auf der anderen Seite sei zu berücksichtigen, daß der 1925 geborene Beklagte das fragliche Haus vor etwa 30 Jahren errichtet und seither bewohnt habe. Von daher sei nachvollziehbar, daß er in der von ihm gewohnten Umgebung besonders verwurzelt sei, auch wenn es richtig sein dürfte, daß etwa eine Stadtwohnung mit den damit verbundenen Vorzügen für eine Person im Alter des Beklagten vorteilhafter wäre. Nach dem vom Amtsgericht eingeholten Sachverständigengutachten sei zudem davon auszugehen, daß der Beklagte 1983/84 eine lange depressive Phase durchlebt habe, die einer stationären Behandlung von mehr als einem Jahr Dauer bedurft habe; bei einem erzwungenen Wohnungswechsel bestünde die Gefahr, daß eine erneute Erkrankung ausgelöst werde. Nach dem in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindruck empfinde der Beklagte – sicherlich auf der Grundlage einer in gewisser Weise starren und unbeweglichen Grundhaltung – allein die Möglichkeit, „sein” Haus in naher Zukunft aufgeben zu müssen, als Bedrohung, der er nicht gewachsen wäre.
Unter diesen Umständen seien die Interessen des Beklagten an einer Fortsetzung des Mietverhältnisses als gegenwärtig derart schwerwiegend anzusehen, daß der Eigenbedarf des Beschwerdeführers zurückstehen müsse.
2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich dieser gegen die beiden zivilgerichtlichen Entscheidungen. Er rügt eine Verletzung von Art. 14 GG und macht geltend:
Die Entscheidungen beruhten auf einer unvollständigen und völlig einseitigen, die Interessen des Vermieters verkennenden Abwägung. Würde sie allgemein praktiziert, würde das aus dem Eigentumsrecht folgende Recht der Eigenbedarfskündigung praktisch leerlaufen. Den vom Landgericht gesehenen, aber falsch gewichteten Interessen des Beschwerdeführers stünden keine annähernd gleichen Belange des Mieters gegenüber.
Das Landgericht überbewerte die Interessen des Mieters bereits, wenn es maßgeblich darauf abstelle, daß dieser das Haus errichtet und ununterbrochen seit etwa 30 Jahren mit der Folge der Verwurzelung bewohnt habe. Der Beklagte habe das Haus schließlich nach dem Verkauf nur gemietet, so daß immer habe klar gewesen sein müssen, daß er darin werde nicht auf Dauer wohnen können. Auch seine psychische Erkrankung könne die Vorrangigkeit der Eigentumsposition nicht in Frage stellen. Das Landgericht habe selbst die starre und unbewegliche Grundhaltung des Beklagten erwähnt. Das spreche dagegen, das schwerwiegende Eigentumsinteresse des Beschwerdeführers hintanzustellen.
Die Bewertung des Landgerichts wäre verfassungsrechtlich nur vertretbar, wenn der Beklagte ernsthaft erkrankt wäre und Gefahr für Leib und Leben bestünde. Derartige Gefahren seien jedoch nicht zu erkennen, zumal die streitbefangene Wohnung für den Beklagten und seine Frau Nachteile aufweise und eine stadtnähere Wohnung, wie auch das Landgericht einräumen müsse, dem Alter der Mieter angemessener wäre.
3. Die Landesregierung Nordrhein-Westfalen und der Beklagte des Ausgangsverfahrens hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
Der Beklagte hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Die Zivilgerichte hätten die gebotene Interessenabwägung zutreffend vorgenommen. Zu dem von ihnen festgestellten Sachverhalt sei darauf hinzuweisen, daß das streitgegenständliche Anwesen nicht vom Beklagten, sondern von der finanzierenden Sparkasse an den Beschwerdeführer verkauft worden sei, nachdem der Beklagte im Anschluß an seine Erkrankung berufsunfähig geworden sei und habe Konkurs anmelden müssen.
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Eigentumsgrundrechts des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93 c Abs. 1 BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (vgl. etwa BVerfGE 68, 361 ≪367 ff.≫; 79, 292 ≪302 ff.≫; 81, 29 ≪31 ff.≫; 89, 1 ≪5 ff.≫). Auch ist die Verfassungsbeschwerde begründet, weil die Entscheidungen des Amtsgerichts und des Landgerichts den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG verletzen.
1. Das durch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleistete Eigentum ist in seinem rechtlichen Gehalt durch Privatnützigkeit und die grundsätzliche Verfügungsbefugnis des Eigentümers über den Eigentumsgegenstand gekennzeichnet. Es soll ihm als Grundlage privater Initiative und in eigenverantwortlichem privatem Interesse von Nutzen sein (vgl. BVerfGE 52, 1 ≪30≫ m.w.N.; 81, 29 ≪32≫). Die grundrechtliche Eigentumsverbürgung umfaßt deshalb auch die Befugnis, den Eigentumsgegenstand selbst zu nutzen. Mit der Vermietung begibt sich der Eigentümer nicht endgültig dieser Befugnis (vgl. BVerfGE 81, 29 ≪33≫). Das haben die Zivilgerichte zu berücksichtigen, wenn sie in Anwendung des § 564 b Abs. 2 Nr. 2 BGB über eine auf Eigenbedarf gestützte Kündigung zu urteilen haben. Sie müssen die Entscheidung des Eigentümers über seinen Wohnbedarf grundsätzlich achten (vgl. BVerfGE 79, 292 ≪303 ff.≫). Denn es unterliegt der alleinigen, sich aus dem Eigentumsgrundrecht ergebenden Befugnis des Vermieters zu bestimmen, welchen Wohnbedarf er für sich und seine Angehörigen als angemessen ansieht (vgl. BVerfGE 68, 361 ≪373 f.≫). Diese Befugnis umfaßt auch die Entscheidung darüber, von welchem Zeitpunkt an dieser Bedarf Anlaß für eine Eigenbedarfskündigung sein soll.
Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG schließt allerdings Beschränkungen des Kündigungsrechts, wie sie die – verfassungsgemäße (vgl. BVerfGE 68, 361) – Vorschrift des § 564 b Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 BGB und die Regelung in § 556 a BGB vorsehen, nicht aus. Diese Beschränkungen tragen dem Umstand Rechnung, daß neben dem Eigentum des Vermieters auch das Besitzrecht des Mieters den Schutz des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG genießt (vgl. BVerfGE 89, 1 ≪5 ff.≫). Bei der Auslegung und Anwendung der genannten mietrechtlichen Vorschriften sind deshalb von den Zivilgerichten neben den Belangen des Vermieters, seinem Erlangungsinteresse, auch die Belange des Mieters, sein Bestandsinteresse, angemessen zu berücksichtigen, die beiderseitigen Belange gegeneinander abzuwägen und in einen verhältnismäßigen Ausgleich zu bringen (vgl. BVerfGE 89, 1 ≪9 ff.≫). Das dabei gefundene Ergebnis ist vom Bundesverfassungsgericht nur in eingeschränktem Umfang überprüfbar. Dieses greift nur bei der Verletzung von Verfassungsrecht auf Verfassungsbeschwerde hin ein. Diese Schwelle ist, abgesehen vom Fall des Verstoßes gegen das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 18, 85 ≪96≫), erst erreicht, wenn die Auslegung der Zivilgerichte Fehler erkennen läßt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der Eigentumsgarantie, insbesondere vom Umfang ihres Schutzbereichs, beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind (vgl. BVerfGE 89, 1 ≪9 f.≫ m.w.N.).
2. Gemessen an diesen Grundsätzen sind die angegriffenen Entscheidungen mit Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG nicht vereinbar.
a) Das Landgericht hat zwar – anders als das Amtsgericht – zutreffend erkannt, daß der Beschwerdeführer vernünftige und nachvollziehbare Gründe für seinen Eigenbedarfswunsch (vgl. dazu BVerfGE 81, 29 ≪33 f.≫) angeführt hat. Es hat aber trotz der Feststellung, damit sei Eigenbedarf „grundsätzlich gegeben”, das Erlangungsinteresse des Beschwerdeführers in der Abwägung mit dem ebenfalls eigentumsgeschützten Bestandsinteresse des Beklagten in einer Weise fehlgewichtet, die die Bedeutung des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG für die Rechtsstellung des Wohnungseigentümers grundlegend verkennt. Das gleiche gilt für die vom Amtsgericht zusätzlich vorgenommene Interessenbewertung.
aa) Unangebracht ist schon die Überlegung des Landgerichts, der Beschwerdeführer habe, indem er seit 1992 mit seiner damaligen Lebensgefährtin und deren Kind in seine derzeit genutzte Wohnung eingezogen sei, die nach seiner Darstellung mit dieser Wohnung verbundenen Nachteile über einen längeren Zeitraum hin in Kauf genommen. Auch wenn dies tatsächlich der Fall gewesen und der Beschwerdeführer deshalb, wie das Landgericht weiter meint, seine Wohnsituation während dieses Zeitraums nicht als so unangenehm empfunden haben sollte, daß er deren Änderung als dringend geboten erachtet hätte, ändert dies nichts daran, daß der Beschwerdeführer, als er sich 1996, inzwischen auch älter geworden, zu der streitigen Kündigung entschlossen hat, seine Wohnverhältnisse und die Entfernung seiner Wohnung zu seinem Betrieb einer neuen Beurteilung unterziehen durfte, tatsächlich auch unterzogen hat und dabei zu einer anderen Einschätzung gelangt ist. Entsprechendes gilt für die Erwägung des Amtsgerichts, bei Würdigung der Eigenbedarfskündigung des Beschwerdeführers sei zu beachten, daß dessen Wohnung und Betriebsstätte seit Abschluß des Mietvertrags mit dem Beklagten auseinandergefallen seien. Für eine Berücksichtigung der Verhältnisse vor 1996 war deshalb im Rahmen der erforderlichen Interessenabwägung kein Raum. Vielmehr war der vernünftige und nachvollziehbare Wunsch des Beschwerdeführers, seinen Lebensmittelpunkt nunmehr in die Nähe der Stätte seines Betriebs zu verlegen, ohne Rücksicht auf früheres Verhalten in diese Abwägung einzustellen.
bb) Dies gilt um so mehr, als sich die familiäre Situation des Beschwerdeführers während des Klageverfahrens gegenüber früher gravierend verändert hatte. Statt mit Lebensgefährtin und einem Kind bewohnt der Beschwerdeführer die von ihm derzeit genutzte Wohnung inzwischen zusammen mit Lebensgefährtin und zwei minderjährigen Kindern. Die Wohnverhältnisse sind demzufolge nach der Aussage der vom Landgericht als Zeugin vernommenen Lebensgefährtin äußerst beengt. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Würdigung des Landgerichts, die vom Beschwerdeführer bewohnte Wohnung sei für den genannten Personenkreis „nicht unbedingt geeignet”, den tatsächlichen Gegebenheiten hinreichend gerecht wird. Denn unabhängig davon bildet der Umstand, daß die Zahl der mit dem Beschwerdeführer in dessen Haushalt zusammenlebenden Personen nach Abschluß des Mietvertrags mit dem Beklagten größer geworden ist, einen weiteren vernünftigen und ohne weiteres nachvollziehbaren Grund für den Wunsch, in die dem Beschwerdeführer gehörende größere Wohnung umzuziehen. Auch das ist im Rahmen der Abwägung mit den Interessen des Beklagten des Ausgangsverfahrens nicht mit dem nötigen Gewicht berücksichtigt worden.
b) Ob die Lebensumstände und der Gesundheitszustand des Beklagten von Amtsgericht und Landgericht richtig gewürdigt und gewichtet worden sind, braucht die Kammer nicht zu erwägen. Sie sind jedenfalls auch nach den letztinstanzlichen Feststellungen des Landgerichts nicht so gewichtig, daß sie das Erlangungsinteresse des Beschwerdeführers von vornherein auch dann überwiegen, wenn dieses Interesse mit seinem wahren Gewicht in die Interessenabwägung eingebracht wird.
c) Es kann deshalb auch nicht ausgeschlossen werden, daß im Ausgangsverfahren eine dem Beschwerdeführer günstigere Entscheidung getroffen worden wäre, wenn die Gründe für dessen Wunsch, in die eigene Wohnung zu ziehen, richtig gewürdigt und mit dem ihnen zukommenden wahren Gewicht berücksichtigt worden wären.
3. Die Entscheidung über die Zurückverweisung der Sache an das Landgericht beruht auf § 95 Abs. 2 BVerfGG, die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Papier, Grimm, Hömig
Fundstellen
Haufe-Index 543503 |
NJW-RR 1999, 1097 |
NZM 1999, 659 |
ZMR 1999, 531 |
WuM 1999, 449 |
IPuR 1999, 42 |