Verfahrensgang
LG Köln (Aktenzeichen 5 O 141/95) |
Tenor
1. Die Rechte der Beschwerdeführerin aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes) werden dadurch verletzt, dass es das Landgericht Köln unterlassen hat, in dem Verfahren 5 O 141/95 in angemessener Zeit eine Entscheidung über die von ihr geltend gemachten Ansprüche zu treffen.
2. Das Land Nordrhein-Westfalen hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
I.
1. Die Beschwerdeführerin erhob vor dem Landgericht im April 1995 eine Zahlungsklage gegen die Stadt P. (im Folgenden: Beklagte) und forderte Honorar in Höhe von rund 480.000 EUR für Ingenieurleistungen im Zusammenhang mit der Erweiterung und Sanierung einer Kläranlage. Die Beklagte erhob Widerklage und machte Schadensersatzansprüche geltend. Das Landgericht holte zwei Sachverständigengutachten ein. Der Zweitgutachter gab mehrmals ergänzende Stellungnahmen ab. Das Landgericht hat über Klage und Widerklage bislang nicht entschieden.
2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihres Rechts auf effektiven Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) wegen überlanger Verfahrensdauer.
3. Das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen und die Beklagte haben Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.
Entscheidungsgründe
II.
1. Die Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Rechts der Beschwerdeführerin auf effektiven Rechtsschutz angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c BVerfGG): Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind geklärt (vgl. BVerfGE 55, 349 ≪369≫; 88, 118 ≪124≫), und die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet.
a) In der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass sich aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) die Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes im materiellen Sinn für bürgerlichrechtliche Streitigkeiten ableiten lässt (vgl. BVerfGE 82, 126 ≪155≫; 93, 99 ≪107≫) und sich daraus die Verpflichtung der Fachgerichte ergibt, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zu einem Abschluss zu bringen (vgl. BVerfGE 55, 349 ≪369≫; 60, 253 ≪269≫; 88, 118 ≪124≫; 93, 1 ≪13≫). Die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens ist stets nach den besonderen Umständen des einzelnen Falles zu bestimmen (vgl. BVerfGE 55, 349 ≪369≫). Es gibt keine allgemeingültigen Zeitvorgaben; verbindliche Richtlinien können auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht entnommen werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 6. Mai 1997 – 1 BvR 711/96 –, NJW 1997, S. 2811; EGMR Dritte Sektion, Urteil vom 11. Januar 2007 – 20027/02 Herbst/Deutschland –, NVwZ 2008, S. 289 ≪291≫, Rn. 75). Die Verfahrensgestaltung obliegt in erster Linie dem mit der Sache befassten Gericht. Sofern der Arbeitsanfall die alsbaldige Bearbeitung und Terminierung sämtlicher zur Entscheidung anstehender Fälle nicht zulässt, muss das Gericht hierfür zwangsläufig eine zeitliche Reihenfolge festlegen (vgl. BVerfGE 55, 349 ≪369≫). Bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Frage, ab wann ein Verfahren unverhältnismäßig lange dauert, sind sämtliche Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen (vgl. BVerfGE 122, 248 ≪279≫), insbesondere die Natur des Verfahrens und die Bedeutung der Sache für die Parteien (vgl. BVerfGE 46, 17 ≪29≫), die Auswirkungen einer langen Verfahrensdauer für die Beteiligten (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 6. Mai 1997 – 1 BvR 711/96 –, NJW 1997, S. 2811 ≪2812≫), die Schwierigkeit der Sachmaterie, das den Beteiligten zuzurechnende Verhalten, insbesondere Verfahrensverzögerungen durch sie sowie die gerichtlich nicht zu beeinflussende Tätigkeit Dritter, vor allem der Sachverständigen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. Juli 2000 – 1 BvR 352/00 –, NJW 2001, S. 214 ≪215≫). Dagegen kann sich der Staat nicht auf solche Umstände berufen, die in seinem Verantwortungsbereich liegen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 14. Oktober 2003 – 1 BvR 901/03 –, NVwZ 2004, S. 334 ≪335≫). Ferner haben die Gerichte auch die Gesamtdauer des Verfahrens zu berücksichtigen und sich mit zunehmender Dauer nachhaltig um eine Beschleunigung des Verfahrens zu bemühen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. Juli 2000 – 1 BvR 352/00 –, NJW 2001, S. 214 ≪215≫; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 20. September 2007 – 1 BvR 775/07 –, NJW 2008, S. 503 ≪504≫; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. Juli 2009 – 1 BvR 2662/06 –, DVBl 2009, S. 1164 ≪1165≫; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 2. September 2009 – 1 BvR 3171/08 –, EuGRZ 2009, S. 695 ≪697≫; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 24. September 2009 – 1 BvR 1304/09 –, EuGRZ 2009, S. 699 ≪700≫).
b) Daran gemessen ist die bisherige Dauer des Verfahrens mit dem Recht der Beschwerdeführerin auf effektiven Rechtsschutz unvereinbar. Es ist nach Abwägung sämtlicher Umstände verfassungsrechtlich nicht mehr hinnehmbar, dass über die Klage der Beschwerdeführerin nach über 15 Jahren erstinstanzlich noch nicht entschieden ist.
aa) Bei der Frage der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung dieser Verfahrensdauer ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Rechtssache in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht kompliziert ist und die Einholung eines Gutachtens sowie nach Vorlage mehrerer Parteigutachten die Einholung eines Obergutachtens und mehrerer Ergänzungsgutachten erforderte. Zu erheblichen Verzögerungen führte überdies, dass die Sachverständigen wiederholt ergänzende Informationen einholen und die Vorlage weiterer Unterlagen durch die Parteien veranlassen mussten. Zu einer weiteren, dem Landgericht nicht anzulastenden Erschwerung und Verzögerung des Verfahrens führten die vom Beklagten zweimal erst kurz vor einer mündlichen Verhandlung anhängig gemachten Widerklageanträge und die mehrfache Ablehnung der Sachverständigen durch die Parteien.
bb) Auch unter Berücksichtigung dieser Umstände sind hier dennoch angesichts der außergewöhnlich langen Verfahrensdauer die Grenzen des für einen Prozessbeteiligten unter dem Gesichtspunkt effektiven Rechtsschutzes noch Hinnehmbaren überschritten. Die Bemühungen des Landgerichts um eine Beschleunigung des Verfahrens reichen angesichts der Gesamtdauer des Verfahrens auch in Ansehung aller Schwierigkeiten nicht aus. Angesichts der zunehmenden und schließlich außergewöhnlich langen Verfahrensdauer hätte sich das Landgericht nicht darauf beschränken dürfen, das Verfahren wie einen gewöhnlichen, wenn auch komplizierten Rechtsstreit zu behandeln. Vielmehr hätte es sämtliche ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Verfahrensbeschleunigung nutzen müssen.
Dabei ist es nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, den Gerichten bestimmte Beschleunigungsmaßnahmen vorzuschreiben. Die Entscheidung über die Verfahrensgestaltung obliegt den Fachgerichten. Welche Maßnahmen geeignet sind, lässt sich nicht abstrakt, sondern nur anhand des konkreten Falls und unter Berücksichtigung der Gründe für die lange Verfahrensdauer entscheiden.
Eine Beschleunigung des Verfahrens hätte das Landgericht aber jedenfalls dann erreichen können, wenn es eindeutige Fristen für die Erstellung der Gutachten gesetzt und überwacht beziehungsweise nicht mehrmals eine erhebliche Überschreitung der den Sachverständigen und den Parteien gesetzten Fristen bewilligt oder geduldet hätte. Nachdem bereits der Sachverständige B. mehr als eineinhalb Jahre für die Erstellung eines Gutachtens benötigt hatte und bis Februar 2000 ein weiteres Jahr bis zur Entscheidung über ein Ablehnungsgesuch der Beschwerdeführerin sowie bis März 2001 noch einmal ein weiteres Jahr bis zur Beauftragung des Sachverständigen S. vergangen war, hätte das Landgericht nicht bis November 2002 – und damit weit nach Ablauf der vom Sachverständigen mitgeteilten voraussichtlichen Bearbeitungszeit von einem Jahr – mit seinem weiteren Tätigwerden, einer Sachstandsanfrage beim Sachverständigen, zuwarten dürfen. Nach dann mehr als siebenjähriger Verfahrensdauer bestand auch Veranlassung, die Stellungnahme der Beklagten zu dem seit Januar 2003 vorliegenden Gutachten des Sachverständigen S. vor September 2003 einzufordern. Die mehrmalige Verlängerung der Stellungnahmefrist der Beklagten war ursächlich dafür, dass zwischen ihrer Ablehnung des Sachverständigen und der im Dezember 2003 getroffenen Entscheidung über das Ablehnungsgesuch mehr als acht Monate vergingen.
Auch im weiteren Prozessverlauf ist nicht ersichtlich, dass das Landgericht sämtliche ihm zur Verfügung stehenden und angesichts der außergewöhnlich langen Dauer des Verfahrens dringend gebotenen Möglichkeiten der Verfahrensbeschleunigung genutzt hat. Dem Sachverständigen S. wurde durch Beschluss vom 19. Januar 2004 – also nach mehr als achtjähriger Prozessdauer – ohne nähere Spezifizierung und ohne Fristsetzung aufgegeben, zu den schriftsätzlichen Einwänden der Parteien gegen sein Gutachten ergänzend Stellung zu nehmen. Erst im November 2004 wurde das Landgericht erneut tätig und klärte mit dem Sachverständigen den zu erwartenden Zeitpunkt der ergänzenden Begutachtung ab. Darauf ist zurückzuführen, dass das Gutachten erst im Februar 2005 vorlag. Nachdem im Februar 2006 die Einholung eines weiteren ergänzenden Gutachtens durch den Sachverständigen S. beschlossen worden war und das Gericht damals davon ausgegangen war, das Gutachten werde bis zum Jahresende vorliegen, duldete das Landgericht nach nunmehr über zehnjähriger Verfahrensdauer ohne Weiteres, dass der Sachverständige das Gutachten erst im Januar 2008 fertig stellte. Im Juni 2008 gab es dem Sachverständigen S. erneut ohne nähere Spezifizierung und ohne Fristsetzung auf, ergänzend zu weiteren Einwendungen der Parteien Stellung zu nehmen, und erkundigte sich bei ihm erst im November 2008 nach mittlerweile mehr als 13-jähriger Verfahrensdauer nach dem Sachstand.
c) Die bisherige Verfahrensdauer von 15 Jahren ist unter diesen Umständen verfassungsrechtlich zu beanstanden. Sie erweist sich als nicht mehr vertretbare Vorenthaltung von Rechtsschutz. Deshalb ist die Verletzung der Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG festzustellen. Das Landgericht ist nunmehr gehalten, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, die zu einem möglichst raschen Abschluss des Verfahrens führen.
2. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Kirchhof, Bryde, Schluckebier
Fundstellen