Verfahrensgang
LG München I (Beschluss vom 10.01.2011; Aktenzeichen 2 Qs 60/10) |
AG München (Beschluss vom 10.06.2010; Aktenzeichen I Gs 5079/10) |
Tenor
Der Beschluss des Amtsgerichts München vom 10. Juni 2010 – I Gs 5079/10 – und der Beschluss des Landgerichts München I vom 10. Januar 2011 – 2 Qs 60/10 – verletzen den Beschwerdeführer zu 1. in seinem Grundrecht aus Artikel 13 Absatz 1 und Absatz 2 des Grundgesetzes.
Der Beschluss des Landgerichts München I wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landgericht München I zurückverwiesen.
Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer zu 1. die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
A.
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine strafprozessuale Durchsuchungsanordnung wegen des Verdachts des Betrugs und Computerbetrugs.
I.
1. Der Beschwerdeführer zu 1. besitzt in einem von den Beschwerdeführern zu 2. und 3., seinen Eltern, als Wochenendhaus genutzten Anwesen eine Wohnung. Am 20. März 2010 verstarb ein Nachbar der Beschwerdeführer. Dieser war im Telefonbuch eingetragen. Am 22. März 2010 erschien eine Todesanzeige in zwei lokalen Zeitungen. Am selben Tag zwischen 18:03 Uhr und 18:28 Uhr wurden unter dem Namen des verstorbenen Nachbarn der Beschwerdeführer verschiedene Zeitungs- und Zeitschriftenabonnements im Wert von rund 170 EUR abgeschlossen. Die Druckerzeugnisse erreichten den Haushalt des Verstorbenen in den folgenden Wochen nur in wenigen Fällen. Am 23. März 2010 wurden ebenfalls unter dem Namen des Verstorbenen verschiedene Abbuchungen im Gesamtwert von 135,54 EUR von einem Konto einer Stiftung, deren Kontodaten im Internet einsichtig waren, vorgenommen.
2. Die Staatsanwaltschaft beantragte den Erlass eines Durchsuchungsbeschlusses sowie die Sicherstellung des Computers des Beschwerdeführers zu 1. Zur Begründung wurde angeführt, dass der Täter umfangreiches Detailwissen über den Verstorbenen gehabt haben müsse, da bei der Bestellung und den Abbuchungen insbesondere das Geburtsdatum des Verstorbenen nur leicht verändert angegeben worden sei. Seine Telefonnummer sei hinsichtlich der Vorwahl und der ersten drei Ziffern korrekt angegeben worden. Der Beschwerdeführer zu 1. sei der direkte Nachbar des Verstorbenen, der dort mit Hauptwohnsitz gemeldet sei, während seine Eltern das Haus lediglich als Wochenendhaus nützten. Der Täter müsse die fehlenden Zeitungen aus dem Briefkasten des Verstorbenen rechtzeitig entfernt und sich deswegen in unmittelbarer Nähe aufgehalten haben. Aus diesem Grund richte sich der Tatverdacht gegen den Beschwerdeführer zu 1.
3. Das Amtsgericht München ordnete mit angegriffenem Beschluss vom 10. Juni 2010 die Durchsuchung der Wohnung des Beschwerdeführers zu 1. an. Es bestehe der Verdacht, dass der Beschwerdeführer zu 1. unter einer falschen Identität Zeitungen abonniert, diese nach ihrer Lieferung an sich genommen sowie im Internet Abbuchungen von einem ihm nicht gehörenden Konto veranlasst habe. Die Durchsuchung verlief ergebnislos.
4. Gegen den Durchsuchungsbeschluss legten die Beschwerdeführer Beschwerde ein und rügten das Fehlen jeglichen Tatverdachts sowie die Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme. So werde der Tatverdacht mit keinem Wort begründet; auch eine Abwägung habe nicht stattgefunden. Der Durchsuchungsbeschluss genüge damit nicht den vom Bundesverfassungsgericht konkretisierten Anforderungen an den Richtervorbehalt nach Art. 13 Abs. 2 GG, wonach ein Durchsuchungsbeschluss eine eigenverantwortliche richterliche Prüfung voraussetze.
5. Das Landgericht München I forderte den ermittelnden Polizeibeamten daraufhin auf, zu erläutern, weshalb ein Durchsuchungsbeschluss gerade gegen den Beschwerdeführer zu 1. und nicht gegen einen der übrigen Nachbarn erwirkt wurde. In seiner Stellungnahme vom 25. Dezember 2010 gab dieser als Grund erneut die unmittelbare Nachbarschaft an und stellte ferner unter anderem darauf ab, der Beschwerdeführer zu 1. sei promovierter Arzt und komme wegen seines Intellekts als Leser der abonnierten Zeitungen in Frage.
6. Mit ebenfalls angegriffenem Beschluss vom 10. Januar 2011 verwarf das Landgericht München I die Beschwerde der Beschwerdeführer als unbegründet. Zum Zeitpunkt des Erlasses des Durchsuchungsbeschlusses hätten zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für die Begehung einer Straftat durch den Beschuldigten bestanden. Zur Frage des Tatverdachts könne auf die nachgereichte polizeiliche Stellungnahme verwiesen werden.
II.
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer die Verletzung ihres Grundrechts aus Art. 13 GG.
Art. 13 Abs. 1 GG sei verletzt, weil gegen den Beschwerdeführer zu 1. zu keinem Zeitpunkt ein Tatverdacht bestanden habe. Die landgerichtlichen Nachermittlungen zeigten, dass auch das Landgericht der Auffassung gewesen sei, der Aktenlage sei kein Tatverdacht zu entnehmen gewesen.
III.
1. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hat von einer Stellungnahme abgesehen.
2. Die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft hat dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.
Entscheidungsgründe
B.
Hinsichtlich des Beschwerdeführers zu 1. sind die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 BVerfGG erfüllt. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen – insbesondere hinsichtlich der Anforderungen an den Tatverdacht bei Erlass eines Durchsuchungsbeschlusses – bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG; vgl. BVerfGE 44, 353 ≪371 f.≫; 59, 95 ≪97≫; 115, 166 ≪197 f.≫), und die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers zu 1. aus Art. 13 Abs. 1 und 2 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu 1. ist offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
I.
Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer zu 1. in seinem Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 und 2 GG.
1. Art. 13 Abs. 1 GG garantiert die Unverletzlichkeit der Wohnung. Damit wird dem Einzelnen zur freien Entfaltung der Persönlichkeit ein elementarer Lebensraum gewährleistet. In seinen Wohnräumen hat er das Recht, in Ruhe gelassen zu werden. In diese grundrechtlich geschützte Lebenssphäre greift eine Durchsuchung schwerwiegend ein (vgl. BVerfGE 42, 212 ≪219 f.≫; 59, 95 ≪97≫; 96, 27 ≪40≫; 103, 142 ≪150 f.≫). Das Gewicht des Eingriffs verlangt als Durchsuchungsvoraussetzung Verdachtsgründe, die über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen. Ein Verstoß gegen diese Anforderungen liegt vor, wenn sich sachlich zureichende plausible Gründe für eine Durchsuchung nicht mehr finden lassen (vgl. BVerfGE 44, 353 ≪371 f.≫; 59, 95 ≪97≫; 115, 166 ≪197 f.≫). Eine Durchsuchung darf nicht der Ermittlung von Tatsachen dienen, die zur Begründung des Verdachts erforderlich sind; denn sie setzt einen Verdacht bereits voraus (vgl. BVerfGK 8, 332 ≪336≫; 11, 88 ≪92≫).
2. Diesen Anforderungen werden die angegriffenen Beschlüsse nicht gerecht. Die Annahme eines ausreichenden Tatverdachts gegen den Beschwerdeführer zu 1. in dem Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts und der Beschwerdeentscheidung des Landgerichts ist von Verfassungs wegen nicht haltbar.
a) Die in dem „Antrag auf Wohnungsdurchsuchung und Sicherstellung des PCs” vom 21. Mai 2010 aufgeführten Umstände, auf die sich der Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts München vom 10. Juni 2010 stützt, reichen nicht aus, um einen ausreichenden Tatverdacht gegen den Beschwerdeführer zu 1. zu begründen.
aa) Soweit darauf abgestellt wird, der Täter habe Kenntnisse über das Geburtsdatum und die Telefonnummer des Verstorbenen haben müssen, steht einem hierauf gegründeten Tatverdacht gegen den Beschwerdeführer zu 1. bereits entgegen, dass die Telefonnummer des Verstorbenen öffentlich zugänglich war, weil sie im Telefonbuch stand, und dass die Kenntnis des Beschwerdeführers zu 1. vom Geburtsdatum des Verstorbenen, das noch dazu im Rahmen der Zeitungsbestellungen hinsichtlich des Geburtsjahres fehlerhaft angegeben wurde, lediglich vermutet wurde. Hinzu kommt, dass am Tag der Tatbegehung in zwei lokalen Zeitungen eine Todesanzeige erschien. In derartigen Anzeigen ist regelmäßig das Geburtsdatum des Verstorbenen aufgeführt. Eine Überprüfung des Inhalts der Todesanzeigen daraufhin, ob dadurch auch das Geburtsdatum öffentlich zugänglich war, ist nicht erkennbar.
bb) Soweit auf die räumliche Nähe der Wohnung des Beschwerdeführers zu 1. zum Anwesen des Verstorbenen abgestellt wird, kann aus dieser allein ebenfalls nicht ohne weiteres auf die Begehung der vorgeworfenen Taten durch den Beschwerdeführer zu 1. geschlossen werden. Warum gerade der Beschwerdeführer zu 1. und nicht eine sonstige dritte Person die Zeitungen aus dem Briefkasten des Verstorbenen entnommen haben soll, ist nicht nachvollziehbar. Die Annahme des Tatverdachts gegen den Beschwerdeführer zu 1. beruht auch insoweit lediglich auf Vermutungen, die den schwerwiegenden Eingriff einer Durchsuchung in die grundrechtlich geschützte persönliche Lebenssphäre nicht zu rechtfertigen vermögen.
b) Auch der Beschluss des Landgerichts München I vom 10. Januar 2011, mit dem die Beschwerde gegen den amtsgerichtlichen Durchsuchungsbeschluss verworfen wurde, reicht zur Begründung eines hinreichenden Tatverdachts gegen den Beschwerdeführer zu 1. nicht aus. Dabei kann offenbleiben, ob das Landgericht Defizite in der Begründung des zugrundeliegenden Tatverdachts durch Einholung einer weiteren Stellungnahme des ermittelnden Polizeibeamten – freilich bezogen auf die Sach- und Rechtslage zur Zeit des Erlasses des Durchsuchungsbeschlusses – nachbessern durfte (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 20. April 2004 – 2 BvR 2043/03, 2 BvR 2104/03 –, juris, Rn. 5) oder ob es seine Entscheidung von vornherein nur auf Gründe stützen durfte, die bereits dem Ermittlungsrichter bekannt waren, da nur auf diesem Wege der Funktion des Richtervorbehalts gemäß Art. 13 Abs. 2 GG Rechnung getragen werden kann (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 10. September 2010 – 2 BvR 2561/08 –, NJW 2011, S. 291 ≪292≫).
Denn weder der in der Stellungnahme der Polizeiinspektion Bad Wiessee vom 25. Dezember 2010, auf die das Landgericht München Bezug genommen hat, angeführte Rückschluss von den bestellten Zeitungen und Zeitschriften sowie der geschädigten Stiftung auf den Intellekt des Täters noch der Hinweis darauf, dass der Verstorbene hin und wieder in Behandlung des Beschwerdeführers zu 3. gewesen sein und daher ein engeres Verhältnis zwischen beiden Personen bestanden haben soll, führen zu einer ausreichenden Verdichtung des Verdachts gerade gegen den Beschwerdeführer zu 1. Zu Recht wird in der Stellungnahme von bloßen „Vermutungen” gesprochen, die den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Anordnung einer Durchsuchung nicht genügen.
II.
Die Entscheidung über die Aufhebung und Zurückverweisung beruht auf § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG.
III.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
C.
Soweit die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen wurde, wird von einer Begründung nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Gerhardt, Hermanns, Müller
Fundstellen
StRR 2013, 216 |
StV 2013, 609 |