Entscheidungsstichwort (Thema)
Duales System des Kinder- und Familienlastenausgleichs
Verfahrensgang
SG Köln (Entscheidung vom 09.03.1998; Aktenzeichen S 23 Kg 7/95) |
Tenor
Die Vorlage ist unzulässig.
Tatbestand
A.
Die Vorlage des Sozialgerichts betrifft die Frage, ob § 10 Abs. 2 und 3 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) in der Fassung des Elften Gesetzes zur Änderung des BKGG vom 27. Juni 1985 (BGBl I S. 1251) und des Ersten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms vom 21. Dezember 1993 (BGBl I S. 2353) für das Jahr 1995 mit Art. 3 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG vereinbar ist.
I.
1. Durch das Haushaltsbegleitgesetz 1983 wurde das so genannte duale System des Kinder- und Familienlastenausgleichs wieder eingeführt. Neben einem Kindergeld wurden Kinderfreibeträge bei der Einkommensteuer gewährt. Die Höhe des Kindergeldes war in § 10 BKGG festgelegt, der Kinderfreibetrag ergab sich aus § 32 EStG. Die genannten Regelungen haben, soweit hier einschlägig, den folgenden Wortlaut:
§ 10 BKGG
(1) Das Kindergeld beträgt für das 1. Kind 70 Deutsche Mark, für das 2. Kind 130 Deutsche Mark, für das 3. Kind 220 Deutsche Mark und für das 4. und jedes weitere Kind je 240 Deutsche Mark monatlich. Bei der Anwendung des Satzes 1 gelten Kinder, Geschwister und Pflegekinder eines Berechtigten, dem auch Kindergeld nach § 1 Abs. 2 zusteht oder ohne Anwendung des § 8 Abs. 1 zustehen würde, als 2. oder weiteres Kind, wenn sie zuvor bei den Eltern des Berechtigten berücksichtigt wurden.
(2) Das Kindergeld für das 2. und jedes weitere Kind wird nach dem in Satz 4 genannten Maßstab stufenweise bis auf den Sockelbetrag von
- 70 Deutsche Mark für das 2. Kind,
- 140 Deutsche Mark für jedes weitere Kind
gemindert, wenn das Jahreseinkommen des Berechtigten und seines nicht dauernd von ihm getrennt lebenden Ehegatten den für ihn maßgeblichen Freibetrag um wenigstens 480 Deutsche Mark übersteigt. Für die Minderung des nach § 8 Abs. 2 bemessenen Kindergeldes verringert sich der Sockelbetrag des Satzes 1 um den Betrag der bei der Bemessung nach § 8 Abs. 2 berücksichtigten anderen Leistung. Der Freibetrag setzt sich zusammen aus
- 26.200 Deutsche Mark für Berechtigte, die verheiratet sind und von ihrem Ehegatten nicht dauern getrennt leben,
- 19.000 Deutsche Mark für sonstige Berechtigte,
sowie 9.200 Deutsche Mark für jedes Kind, für das dem Berechtigten Kindergeld zusteht oder ohne Anwendung des § 8 Abs. 1 zustehen würde. Für je 480 Deutsche Mark, um die das Jahreseinkommen den Freibetrag übersteigt, wird das Kindergeld um 20 Deutsche Mark monatlich gemindert; kommt die Minderung des für mehrere Kinder zu zahlenden Kindergeldes in Betracht, wird sie beim Gesamtkindergeld vorgenommen.
(3) Der Sockelbetrag für das 3. und jedes weitere Kind wird auf 70 Deutsche Mark festgesetzt, wenn das Jahreseinkommen des Berechtigten und seines nicht dauernd von ihm getrennt lebenden Ehegatten den für ihn nach diesem Absatz maßgeblichen Freibetrag übersteigt. Der Freibetrag beträgt
- 100.000 Deutsche Mark für Berechtigte, die verheiratet sind und von ihrem Ehegatten nicht dauernd getrennt leben,
- 75.000 Deutsche Mark für sonstige Berechtigte,
sowie 9.200 Deutsche Mark für das 4. und jedes weitere Kind, für das dem Berechtigten Kindergeld zusteht oder ohne Anwendung des § 8 Abs. 1 zustehen würde.
§ 32 Abs. 6
Ein Kinderfreibetrag von 2.052 Deutsche Mark wird für jedes zu berücksichtigende Kind des Steuerpflichtigen vom Einkommen abgezogen. Bei Ehegatten … wird ein Kinderfreibetrag von 4.104 Deutsche Mark abgezogen, … .
2. Mit dem Gesetz zur Familienförderung vom 22. Dezember 1999 (BGBl I S. 2552) wurde die Steuerfreistellung des Existenzminimums eines Kindes für nicht bestandskräftige Entscheidungen aus den Jahren 1983 bis 1995 neu geregelt. In das Einkommensteuergesetz wurde § 53 neu eingefügt. Die Vorschrift lautet:
Sondervorschrift zur Steuerfreistellung des Existenzminimums eines Kindes in den Veranlagungszeiträumen 1983 bis 1985
In den Veranlagungszeiträumen 1983 bis 1995 sind in Fällen, in denen die Einkommensteuer noch nicht formell bestandskräftig oder hinsichtlich der Höhe der Kinderfreibeträge vorläufig festgesetzt ist, für jedes bei der Festsetzung berücksichtigte Kind folgende Beträge als Existenzminimum des Kindes steuerfrei zu belassen:
…
… das dem Steuerpflichtigen im jeweiligen Veranlagungszeitraum zustehende Kindergeld (ist) mit dem auf das bisherige zu versteuernde Einkommen des Steuerpflichtigen in demselben Veranlagungszeitraum anzuwendenden Grenzsteuersatz in einen Freibetrag umzurechnen; …. Erreicht die Summe aus dem bei der bisherigen Einkommensteuerfestsetzung abgezogenen Kinderfreibetrag und dem … berechneten Freibetrag nicht den … maßgeblichen Betrag, ist der Unterschiedsbetrag vom bisherigen zu versteuernden Einkommen abzuziehen und die Einkommensteuer neu festzusetzen. …
In das Bundeskindergeldgesetz wurde § 21 BKGG eingefügt, der folgenden Wortlaut hat:
Sondervorschrift zur Steuerfreistellung des Existenzminimums eines Kindes in den Veranlagungszeiträumen 1983 bis 1985 durch Kindergeld
In Fällen, in denen die Entscheidung über die Höhe des Kindergeldanspruchs für Monate in dem Zeitraum zwischen dem 1. Januar 1983 und dem 31. Dezember 1995 noch nicht bestandskräftig geworden ist, kommt eine von den §§ 10 und 11 … abweichende Bewilligung von Kindergeld nur in Betracht, wenn die Einkommensteuer formell bestandskräftig und hinsichtlich der Höhe der Kinderfreibeträge nicht vorläufig festgesetzt sowie das Existenzminimum des Kindes nicht unter der Maßgabe des § 53 des Einkommensteuergesetzes steuerfrei belassen worden ist. … die Familienkasse (hat) den vom Finanzamt ermittelten Unterschiedesbetrag zwischen der festgesetzten Einkommensteuer und der Einkommensteuer, die nach § 53 Satz 6 des Einkommensteuergesetzes festzusetzen gewesen wäre, wenn die Voraussetzungen nach § 53 Satz 1 und 2 des Einkommensteuergesetzes vorgelegen hätten, als zusätzliches Kindergeld zu zahlen.
II.
1. Der Kläger des Ausgangsverfahrens hat drei Kinder. Er bezog 1995 Kindergeld in Höhe der Sockelbeträge von 70 DM je Kind, da sein Einkommen den Freibetrag von 100.000 DM überstieg. Ohne die Minderung betrüge das Kindergeld für das erste Kind ebenfalls 70 DM, für das zweite Kind dagegen 130 DM und für das dritte Kind (welches einige Monate zu berücksichtigen war) 220 DM.
2. Mit seiner gegen den Kindergeldbescheid erhobenen Klage beim Sozialgericht begehrt der Kläger die Zahlung des Kindergeldes in ungekürzter Höhe. Das Sozialgericht hat das Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG ausgesetzt und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu der Frage eingeholt, ob der Sockelbetrag für das 2. Kind in § 10 Abs. 2 BKGG in der Fassung des Elften Änderungsgesetzes und der Sockelbetrag für das 3. Kind in § 10 Abs. 3 BKGG in der Fassung des Ersten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms im Jahr 1995 mit dem Grundgesetz vereinbar waren.
Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die genannten Vorschriften seien entscheidungserheblich, weil die darin genannten Voraussetzungen für eine Minderung des Kindergeldes beim Kläger vorlägen. Sie seien jedoch mit Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG unvereinbar. Der Staat müsse dem Steuerpflichtigen sein Einkommen insoweit steuerfrei belassen, als es zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein benötigt werde. Das folge aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG). Art. 6 Abs. 1 GG gebiete es zudem, bei der Besteuerung einer Familie das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei zu lassen. Kindesunterhalt dürfe dabei auch deshalb nicht unberücksichtigt bleiben, weil sonst Steuerpflichtige mit Kindern gegenüber kinderlosen Steuerpflichtigen unter Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG benachteiligt würden. Dem Kindergeld komme insoweit eine steuerliche Entlastungsfunktion zu. Rechne man das gekürzte Kindergeld in einen fiktiven Kinderfreibetrag um, so ergebe sich zusammen mit dem für das Jahr 1995 maßgeblichen Kinderfreibetrag eine Summe, die den durchschnittlichen jährlichen Sozialhilfebedarf nicht erreiche und damit unter dem Existenzminimum liege.
Entscheidungsgründe
B.
Die Vorlage ist unzulässig.
Eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG ist nur zulässig, wenn es für die im Ausgangsverfahren zu treffende Entscheidung auf die Gültigkeit der zur Prüfung gestellten Vorschrift ankommt und das vorlegende Gericht von deren Verfassungswidrigkeit überzeugt ist. Denn das Verfahren der konkreten Normenkontrolle ist allein dann gerechtfertigt, wenn die Entscheidung der verfassungsrechtlichen Frage zur abschließenden Beurteilung des Falles unerlässlich ist (vgl. BVerfGE 78, 201 ≪203 f.≫; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 13. Dezember 1993, 1 BvL 12/92, SozVers 1994, S. 110).
Die Entscheidungserheblichkeit der zur Prüfung gestellten Norm muss noch im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gegeben sein (vgl. BVerfGE 51, 161 ≪163 f.≫; 82, 156 ≪158≫; 85, 191 ≪203≫). Dies gilt auch im Hinblick auf Gesetzesänderungen während des Vorlageverfahrens, insbesondere wenn die Änderungen rückwirkend in Kraft getreten sind. Das vorlegende Gericht muss in einem solchen Fall die geänderte Fassung ausdrücklich zum Gegenstand der Vorlage machen. Zwischenzeitliche, entscheidungserhebliche Gesetzesänderungen, mit denen sich das vorlegende Gericht nicht auseinander gesetzt hat, sind nur dann durch das Bundesverfassungsgericht von Amts wegen in die Prüfung einzubeziehen, wenn die Begründung des Vorlagebeschlusses gleichermaßen für die neue Gesetzesfassung zutrifft, wenn also der sachliche Gehalt der vom Gericht zur Prüfung vorgelegten Vorschriften wesentlich erhalten geblieben ist (vgl. BVerfGE 67, 256 ≪273≫; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 13. Dezember 1993, 1 BvL 12/92, SozVers 1994, S. 110).
Nach diesen Maßstäben hätte das vorlegende Gericht die rückwirkenden Sondervorschriften zur Steuerfreistellung des Existenzminimums eines Kindes für den hier maßgeblichen Veranlagungszeitraum im Gesetz zur Familienförderung nachträglich zum Gegenstand der Vorlage machen müssen. Die zur Prüfung gestellten Normen sind nicht mehr entscheidungserheblich. Die Neuregelung ist eigens geschaffen worden, um eine Steuerfreistellung des Existenzminimums eines Kindes herbeizuführen. Die Verbesserungen gegenüber der Rechtslage, von der der Vorlagebeschluss ausgeht, sind mit den rückwirkenden Steuerfreistellungen in Höhe von 6.168 DM pro Kind und Jahr statt ursprünglich 4.104 DM so nachhaltig, dass das Bundesverfassungsgericht die geänderte Norm nicht von Amts wegen in die verfassungsrechtliche Prüfung einbeziehen kann. Das Sozialgericht ist auf diesen Gesichtspunkt hingewiesen worden, hat eine Überprüfung seines Beschlusses aber nicht vorgenommen. Eine solche erneute Überprüfung war nicht schon deswegen entbehrlich, weil der nunmehr geltende Kinderfreibetrag nach der im Vorlagebeschluss dargelegten Auffassung des vorlegenden Gerichts ebenfalls nicht dem Existenzminimum des Kindes entspricht; denn der Gesetzgeber hat mit seiner Neuregelung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10. November 1998 (BVerfGE 99, 246 ≪262 ff.≫) Rechnung getragen, in der die Berechnungsmethoden für das steuerfrei zu belassende Existenzminimum in bindender Weise (§ 31 Abs. 1 BVerfGG) festgelegt werden. Inwieweit die zur Prüfung vorgelegte Norm mit dem vom Bundesverfassungsgericht gesetzten Maßstab nicht im Einklang stehen soll, bedarf einer eingehenden Begründung.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Kühling, Jaeger, Hömig
Fundstellen