Entscheidungsstichwort (Thema)
Anrechnung so genannter verfahrensfremder Untersuchungshaft auf eine Freiheitsstrafe
Tenor
1. Die Strafvollstreckungsbehörde wird angewiesen, bis zur Rechtskraft einer Entscheidung über die Bildung einer Gesamtstrafe in dem Verfahren des Amtsgerichts Breisach – Cs 31 Js 35024/98 – AK 200/99 – vom Vorliegen eines Hindernisses für die Vollstreckung der Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Friedberg vom 12. Oktober 1999 – 43a Ds 106 Js 12317/99 – auszugehen.
2. Damit ist der Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 19. April 2001 – 3 VAs 6/01 – gegenstandslos.
3. Die einstweilige Anordnung tritt spätestens nach sechs Monaten außer Kraft.
Tatbestand
I.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung betrifft die vollstreckungsrechtlichen Folgen der Anrechnung so genannter verfahrensfremder Untersuchungshaft auf eine Freiheitsstrafe.
1. Das Amtsgericht Friedberg verurteilte den Antragsteller am 12. Oktober 1999 wegen Betruges zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten. Seine Berufung wurde vom Landgericht Gießen durch Urteil vom 7. Februar 2000 – 3 Ns 106 Js 12317/99 –, seine Revision vom Oberlandesgericht Frankfurt am Main durch Beschluss vom 23. August 2000 – 2 Ss 163/00 – verworfen. Die abgeurteilte Tat war am 23. Juni 1996 begangen worden.
Der Antragsteller wurde von der Strafvollstreckungsbehörde zum Strafantritt am 18. April 2001 geladen. Seinen hiergegen gerichteten Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach §§ 23 ff. EGGVG wies das Oberlandesgericht Frankfurt am Main durch Beschluss vom 19. April 2001 zurück.
2. Das Amtsgericht Breisach verurteilte den Antragsteller am 28. Juli 1999 – Cs 31 Js 35024/98 – wegen Betruges in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Monaten. Dieses Urteil wurde vom Oberlandesgericht Karlsruhe unter Verwerfung der Revision im Übrigen im Strafausspruch aufgehoben und die Sache insoweit an das Amtsgericht zurückverwiesen. Über den Strafausspruch ist bisher nicht erneut entschieden worden. In diesem Strafverfahren war gegen den Antragsteller vom 15. August 1999 bis zum 25. November 1999 Untersuchungshaft vollzogen worden.
II.
Der Antragsteller macht mit seinem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung geltend, die Untersuchungshaft im Verfahren des Amtsgerichts Breisach sei entsprechend § 51 Abs. 1 StGB auf die noch zu bildende Gesamtstrafe anzurechnen. Danach überschreite die bereits vollzogene Freiheitsentziehung die Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Friedberg. Da der Ausgang des Verfahrens vor dem Amtsgericht Breisach offen sei, drohe ihm bei Antritt der Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Friedberg eine Freiheitsentziehung, die das noch zu bestimmende Gesamtstrafübel möglicherweise überschreite; jedenfalls sei jetzt schon der Zwei-Drittel-Zeitpunkt im Sinne des § 57 Abs. 1 Satz 1 StGB überschritten.
III.
Die hessische Landesregierung hat von einer Stellungnahme abgesehen.
Entscheidungsgründe
IV.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet. Die Kammer ist hierfür zuständig (§ 93d Abs. 2 Satz 1 BVerfGG).
1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht, auch schon vor Einlegung einer Verfassungsbeschwerde, im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, eine – erhobene oder noch zu erhebende – Verfassungsbeschwerde, zu der die einstweilige Anordnung eine vorläufige Regelung trifft, erwiese sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Muss dagegen der Ausgang des Verfassungsbeschwerde-Verfahrens als offen angesehen werden, so sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde später aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde der Erfolg aber versagt bliebe (vgl. BVerfGE 94, 334 ≪347≫).
2. Eine noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde kann derzeit weder von vornherein als unzulässig noch als offensichtlich unbegründet angesehen werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist im Blick auf die Bedeutung des Freiheitsrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG über den eigentlichen Anwendungsbereich des § 51 Abs. 1 StGB hinaus so genannte verfahrensfremde Untersuchungshaft jedenfalls dann auf eine Freiheitsstrafe anzurechnen, wenn zumindest eine potentielle Gesamtstrafenfähigkeit der Strafe, auf die die Untersuchungshaft angerechnet werden soll, besteht (vgl. Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 22. August 1994 – 2 BvR 2352/93 –, NStZ 1994, S. 607 f.; vom 28. September 1998 – 2 BvR 2232/94 –, NStZ 1999, S. 24 f.; vom 15. Dezember 1999 – 2 BvR 1447/99 –, NStZ 2000, S. 277 ff.). Die Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Friedberg kann künftig in einem Urteil des Amtsgerichts Breisach in eine neue Gesamtstrafe einbezogen werden. Diese Strafe bezieht sich auf eine Tat, die vor dem ersten Urteil des Amtsgerichts Breisach begangen worden war. Diese Strafe gilt im Sinne des § 55 StGB auch noch nicht als vollständig vollstreckt; denn die Untersuchungshaft gewinnt den Charakter einer Strafverbüßung erst mit der Rechtskraft des Urteils (vgl. Gribbohm in: Leipziger Kommentar zum StGB, 11. Aufl., § 51 Rn. 58).
Wird – vorläufig – auf die bisher allein rechtskräftige und vollstreckbare dreimonatige Freiheitsstrafe die mehr als drei Monate dauernde Untersuchungshaft des Beschwerdeführers angerechnet, so muss die Freiheitsstrafe als verbüßt gelten. Ein überschießender Teil einer künftigen Gesamtfreiheitsstrafe ist noch nicht rechtskräftig und deshalb nicht vollstreckbar (§ 449 StPO). Aus der Gesamtbetrachtung beider Umstände kann sich im Verfassungsbeschwerde-Verfahren ein vorläufiges Vollstreckungshindernis bis zur Rechtskraft der noch zu bildenden Gesamtstrafe ergeben. Staatliches Strafen ist am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messen (vgl. BVerfGE 92, 277 ≪326≫). Es kann unangemessen sein, die Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Friedberg zu vollstrecken, die durch die – gegebenenfalls – anzurechnende verfahrensfremde Untersuchungshaft bereits abgedeckt ist, während ein eventuell weiter gehender Strafumfang noch unklar ist.
3. Bei dieser Sachlage muss die bei der Entscheidung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG erforderliche Abwägung des öffentlichen Interesses an der Realisierung des staatlichen Strafanspruchs mit dem Interesse des Antragstellers daran, bei Ungewissheit über den Umfang des Gesamtstrafübels vorläufig die Strafe nicht antreten zu müssen, zu Gunsten des Antragstellers ausgehen (vgl. Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 18. November 1994 – 2 BvR 2232/94 – und vom 4. Juni 1997 – 2 BvR 1761/96 –, jeweils veröffentlicht in juris). Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich aber später die Verfassungsbeschwerde als begründet, so entstünde dem Beschwerdeführer durch die Strafvollstreckung ein schwerer, nicht wiedergutzumachender Eingriff in das Freiheitsrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, dem das Grundgesetz besonderen Schutz zubilligt (vgl. BVerfGE 65, 317 ≪322≫). Ergeht dagegen die einstweilige Anordnung, wird die Verfassungsbeschwerde aber später als unbegründet zurückgewiesen, so wiegen die damit verbundenen Nachteile weniger schwer. In diesem Fall kann die kurzzeitige Freiheitsstrafe nur vorübergehend nicht vollstreckt werden; deren Vollstreckung kann gegebenenfalls nachgeholt werden, wenn und soweit die Anrechnung der verfahrensfremden Untersuchungshaft später unterbleiben sollte (§ 51 Abs. 1 Satz 2 StGB) oder das Gesamtstrafübel nicht abdeckt. Unter diesen Umständen ist ein erheblicher Nachteil für die Allgemeinheit bei Erlass der einstweiligen Anordnung nicht zu besorgen (vgl. die Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 18. November 1994 – 2 BvR 2232/94 – und vom 4. Juni 1997 – 2 BvR 1761/96 –, jeweils veröffentlicht in juris).
Die einstweilige Anordnung tritt – unabhängig von der zeitlichen Beschränkung in Ziffer 1. der Entscheidungsformel – gemäß § 32 Abs. 5 Satz 1 BVerfGG spätestens nach sechs Monaten außer Kraft. Sie kann wiederholt werden (§ 32 Abs. 5 Satz 2 BVerfGG).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Limbach, Hassemer, Mellinghoff
Fundstellen
Haufe-Index 585036 |
NStZ 2001, 501 |
NPA 2001, 0 |