Tenor
Die Wahlprüfungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
Die Bundesrepublik Deutschland hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
A.
Die Wahlprüfungsbeschwerde betrifft die Frage der Nachfolge für einen ausgeschiedenen Wahlkreisabgeordneten, dessen Partei in dem betreffenden Land über Überhangmandate verfügt.
I.
Bei der Wahl zum 13. Deutschen Bundestag am 16. Oktober 1994 gewann die CDU in Baden-Württemberg 37 Wahlkreise; im Wahlkreis 187 (Emmendingen-Lahr) errang der Abgeordnete Rainer Haungs das Direktmandat für die CDU. Nach dem Zweitstimmenergebnis waren auf die Landesliste der baden-württembergischen CDU lediglich 35 Sitze entfallen. Die CDU erzielte in diesem Land mithin zwei Überhangmandate.
Am 18. Januar 1996 verstarb der Abgeordnete Haungs. Auf der Grundlage der Regelung des § 48 Abs. 1 Bundeswahlgesetz (in der Fassung der Bekanntmachung vom 23. Juli 1993 – BGBl I S. 1288, berichtigt S. 1594 – BWG) wurde der Abgeordnete Romer über die Landesliste der CDU von Baden-Württemberg als Nachfolger berufen. Er trat die Mandatsnachfolge am 1. Februar 1996 an.
II.
1. Der Beschwerdeführer hat gegen den Erwerb der Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag durch den Abgeordneten Romer fristgerecht Einspruch beim Bundestag eingelegt. Er hat geltend gemacht, § 48 Abs. 1 BWG widerspreche dem Grundsatz der gleichen Wahl insoweit, als er eine Nachfolgeregelung auch für den Fall treffe, daß der Partei des Ausgeschiedenen in dem jeweiligen Bundesland Überhangmandate zugefallen seien. Überhangmandate seien nur insoweit verfassungsrechtlich unbedenklich, als sie eine notwendige Folge des besonderen Charakters und der spezifischen Ziele der personalisierten Verhältniswahl seien. Davon könne keine Rede mehr sein, wenn der Abgeordnete, der das Mandat in seinem Wahlkreis errungen habe, aus dem Deutschen Bundestag ausgeschieden sei. Wenn der Landesverband einer Partei beim Wegfall von Wahlkreisabgeordneten ihre Überhangmandate durch Ersatzleute aus der Landesliste aufrechterhalten könne, verstoße dies auch insoweit gegen den Grundsatz der gleichen Wahl, als dieser Landesverband gegenüber anderen Landesverbänden, für die Überhangmandate nicht angefallen seien, überrepräsentiert sei.
2. Der Deutsche Bundestag hat den Einspruch mit Beschluß vom 27. Juni 1996 – BTDrucks 13/4920 – als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen. Der Abgeordnete Romer habe sein Mandat aufgrund einer zutreffenden Auslegung des § 48 Abs. 1 BWG erhalten. Ob diese Vorschrift verfassungsgemäß sei, prüfe der Bundestag nicht nach, sondern behalte diese Kontrolle in ständiger Entscheidungspraxis dem Bundesverfassungsgericht vor.
Davon abgesehen entspreche § 48 Abs. 1 BWG der Verfassung. Das Bundesverfassungsgericht habe die Verfassungsmäßigkeit der Regelung bestätigt (Hinweis auf BVerfGE 7, 63). Das Gericht habe sich in dieser Entscheidung auch mit der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung von Überhangmandaten beschäftigt und keinen Anlaß gesehen, unter diesem Gesichtspunkt Rückschlüsse auf eine mögliche Verfassungswidrigkeit des § 48 Abs. 1 BWG zu ziehen. Im übrigen führte die vom Beschwerdeführer vertretene Auffassung dazu, daß die Zahl der Mitglieder des Bundestages im Verlauf der Wahlperiode Schwankungen nach dem Zufallsprinzip unterworfen wäre. Für den 13. Deutschen Bundestag belaufe sich die gesetzliche Mitgliederzahl unter Berücksichtigung von Überhangmandaten auf 672 Abgeordnete. Diese Zahl müsse für die gesamte Dauer der Wahlperiode grundsätzlich unverändert bleiben, um so einen stabilisierenden Faktor für politische Entscheidungen zu gewährleisten. Darauf zielten auch die Regelungen des Bundeswahlgesetzes zur Nachfolge auf freigewordene Sitze ab.
III.
Gegen den Beschluß des Deutschen Bundestages hat der Beschwerdeführer fristgerecht Wahlprüfungsbeschwerde eingelegt und 106 – den Anforderungen des § 48 Abs. 2 BVerfGG entsprechende – Beitrittserklärungen Wahlberechtigter vorgelegt. Er wiederholt und vertieft seine bereits im Einspruchsverfahren vor dem Deutschen Bundestag vorgetragenen Gründe:
Bei Bestehen von Überhangmandaten vermöge weder das Ergebnis der Zweitstimmen noch das Ergebnis der Erststimmen den durch § 48 Abs. 1 BWG angeordneten Erwerb der Mitgliedschaft zu rechtfertigen. Gemessen an der Zahl der Zweitstimmen verfüge die Partei, der (mindestens) ein Überhangmandat zugefallen sei, auch nach dem Ausscheiden eines direkt gewählten Abgeordneten über mindestens so viele Sitze wie ihr aufgrund des Zweitstimmenergebnisses zustünden. Mit Blick auf die für den ausgeschiedenen Abgeordneten abgegebenen Erststimmen komme ein Nachrücken erst recht nicht in Betracht, da die Erststimmen ausschließlich für den Ausgeschiedenen als Person abgegeben worden seien. Die Ausnahmevorschrift des § 48 Abs. 2 BWG belege, daß ein Nachrücken nur deshalb stattfinde, weil das Mandat des ausgeschiedenen Abgeordneten zuvor gemäß § 6 Abs. 4 BWG auf die Sitzzahl angerechnet worden sei, die auf die Landesliste seiner Partei entfallen sei. Habe aber – wie stets bei der Entstehung von Überhangmandaten – eine solche Anrechnung nicht stattfinden können, sei bei Ausscheiden des Wahlkreisabgeordneten ein Nachrücken nicht gerechtfertigt.
Dem Bundeswahlgesetz könne auch nicht die gesetzgeberische Intention entnommen werden, die Zahl der Mitglieder des Bundestages über die Wahlperiode hin konstant zu halten. Dagegen spreche schon die Regelung des Mandatsverlusts bei Parteiverbot (§ 46 Abs. 4 Satz 3 BWG) sowie die Bestimmung des § 48 Abs. 1 Satz 3 BWG, wonach ein Platz unbesetzt bleibe, wenn bei Ausscheiden eines Abgeordneten die für die Nachfolge in Betracht kommende Landesliste erschöpft sei.
IV.
Das Bundesverfassungsgericht hat dem Deutschen Bundestag, dem Bundesrat, der Bundesregierung, allen Landesregierungen sowie dem Abgeordneten Romer Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
1. Für die Bundesregierung hat sich das Bundesministerium des Innern geäußert. Es meint, das Bundesverfassungsgericht habe die Verfassungsmäßigkeit des § 48 Abs. 1 BWG für die hier zu entscheidende Rechtsfrage bereits bejaht (Hinweis auf BVerfGE 7, 63 ≪71≫). Davon abgesehen sei die vom Beschwerdeführer geforderte nachträgliche Kompensation entstandener Überhangmandate verfassungsrechtlich nicht geboten. Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl verlange eine solche Regelung nicht. Der Gesetzgeber habe sich im Rahmen des ihm von Art. 38 Abs. 3 GG eröffneten Entscheidungsraums für die personalisierte Verhältniswahl entschieden. In diesem Rahmen seien Überhangmandate verfassungsrechtlich unbedenklich, sofern ihr Entstehen die notwendige Folge des spezifischen Zieles der personalisierten Verhältniswahl sei. Die vom Beschwerdeführer angestrebte (Teil)Kompensation bilde einen ersten Schritt hin zu einem reinen Verhältniswahlrecht und konterkariere damit zumindest teilweise die Grundentscheidung des Gesetzgebers.
2. Dieser Stellungnahme hat sich der Abgeordnete Romer angeschlossen.
V.
1. Überhangmandate fielen bei Wahlen zum Deutschen Bundestag in den Jahren 1949, 1953, 1957, 1961, 1980, 1983, 1987, 1990 und 1994 an (vgl. BVerfGE 95, 335 ≪340≫). Sieht man von der dritten Wahlperiode (Wahljahr 1957) ab, schieden nach jeder dieser Wahlen direkt gewählte Abgeordnete von Parteien aus, zu deren Gunsten in dem jeweiligen Land Überhangmandate angefallen waren. In der ersten Wahlperiode wurden die Nachfolger noch im Wege der Ersatzwahl bestimmt (§ 15 BWG 1949). Nachdem das Prinzip der Listennachfolge grundsätzlich auch auf direkt gewählte Bewerber erstreckt worden war (erstmals § 54 BWG 1953; heute § 48 Abs. 1 BWG), wurden die Nachfolger seit der zweiten Wahlperiode (Wahljahr 1953) auch in diesen Fällen aus den jeweiligen Landeslisten berufen.
2. In einem Wahlprüfungsverfahren wurde diese Rechtspraxis erstmals in dem Verfahren beanstandet, das dem angefochtenen Beschluß vorausgegangen ist. Der Beschwerdeführer hat in einem weiteren, noch beim Deutschen Bundestag anhängigen Wahlprüfungsverfahren den Erwerb der Mitgliedschaft einer Abgeordneten der CDU beanstandet, die nach dem Ausscheiden des im Wahlkreis 302 (Jena-Rudolstadt-Stadtroda) direkt gewählten Abgeordneten mit Wirkung vom 5. November 1997 gemäß § 48 Abs. 1 BWG als Nachfolgerin berufen wurde, obwohl zugunsten der CDU in Thüringen drei Überhangmandate bestehen.
Entscheidungsgründe
B.
Die Wahlprüfungsbeschwerde ist gemäß Art. 41 Abs. 2 und 3 GG in Verbindung mit § 48 Abs. 1 und 2 BVerfGG zulässig. Im Rahmen des Beschwerdeverfahrens, das ein eigenständiges, nicht auf die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Wahl beschränktes Verfahren ist, überprüft das Bundesverfassungsgericht den angegriffenen Beschluß des Deutschen Bundestages in formeller Hinsicht sowie darauf, ob Vorschriften des materiellen Rechts zutreffend angewandt worden sind (vgl. BVerfGE 89, 243 ≪249≫).
Danach hat der Bundestag den Einspruch zu Recht als zulässig angesehen (§ 47 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BWG und § 2 WahlprüfG). Zwar kann dem Bundestag nicht darin gefolgt werden, daß der Einspruch unbegründet sei, weil der Abgeordnete Romer sein Mandat aufgrund einer zutreffenden Auslegung des § 48 Abs. 1 BWG erhalten habe (I.). Doch kann diese Auslegung des § 48 Abs. 1 BWG für die 13. Legislaturperiode noch hingenommen werden, weil sie seit 1953 der ständigen Wahlrechtspraxis zugrunde liegt. Daraus folgt, daß der Erwerb der Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag durch den Abgeordneten Romer im Ergebnis gültig ist (II.).
I.
§ 48 BWG regelt die Nachfolge auf Bundestagssitze, deren gewählte Bewerber das Mandat von vornherein nicht antreten oder deren Inhaber im Verlaufe der Legislaturperiode sterben oder aus dem Bundestag ausscheiden. Absatz 1 des § 48 BWG betrifft die Nachfolge für gewählte Kandidaten einer Partei, die im betreffenden Land auch mit einer Landesliste zur Wahl angetreten war. In diesem Fall wird keine erneute Wahl (Ersatzwahl) vorgenommen; vielmehr sollen Bewerber aus der jeweiligen Landesliste der Partei als Ersatzleute eintreten.
Eine solche Nachfolgeregelung setzt voraus, daß die nachrückenden Listenbewerber schon bei der Wahl als Ersatzleute mitgewählt werden (1). Nach dem Wahlsystem und seiner Ausgestaltung durch das Bundeswahlgesetz (2) erfolgt diese Mitwahl ausschließlich über die Zweitstimme (3). Ein Rückgriff auf Listenplätze ist folglich nicht möglich, wenn der Sitz eines Wahlkreisabgeordneten einer solchen Partei frei wird, die in dem entsprechenden Land über Überhangmandate verfügt (4). Insoweit trifft § 48 BWG keine Nachfolgeregelung. Solange der Gesetzgeber die Wahl von Ersatzleuten nicht anderweitig regelt, können solche Sitze nicht wieder besetzt werden (5).
1. a) Im demokratisch verfaßten Staat des Grundgesetzes können die Abgeordneten ihre Legitimation zur Repräsentation nur aus der Wahl durch das Volk beziehen (vgl. BVerfGE 44, 125 ≪138, 142≫; 47, 253 ≪271 f.≫; 89, 155 ≪171 f.≫). Durch Wahl kann ein Abgeordnetensitz nur aufgrund einer – wie auch immer ermittelten – demokratischen Mehrheit erworben werden. Art. 38 GG läßt dem Wahlgesetzgeber Raum, diese Mehrheit nach den Grundsätzen der Mehrheits- oder Verhältniswahl oder aufgrund deren Verbindung zu ermitteln (vgl. BVerfGE 95, 335 ≪352≫). Dabei verschaffen Verhältnis- und Mehrheitswahl den Abgeordneten und damit dem Parlament demokratische Legitimation in je eigener, voneinander ganz verschiedener Weise (BVerfGE, a.a.O., S. 352). Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG verlangt aber stets, daß die Abgeordneten gewählt werden; eine bloße Parteienwahl schließt die Verfassung aus (vgl. BVerfGE, a.a.O., S. 349).
b) Wie bei der Bestimmung der gewählten Bewerber unmittelbar nach der Wahl, so müssen auch bei einer späteren – ohne Nachwahl angeordneten – Nachfolge die Voraussetzungen einer Wahl gewahrt bleiben (vgl. BVerfGE 3, 45 ≪51≫). Das ist nur der Fall, wenn am Wahltag nicht nur die Abgeordneten, sondern auch deren Ersatzleute “gewählt” werden (vgl. BVerfGE 7, 63 ≪72≫); dementsprechend sieht § 48 Abs. 1 Satz 5 BWG in Verbindung mit § 45 BWG auch vor, daß der Landeswahlleiter die Feststellung, wer als Listennachfolger eintritt, für “gewählte Bewerber” der Landesliste zu treffen hat.
2. Der Wahlgesetzgeber hat sich in Ausführung des Regelungsauftrags des Art. 38 Abs. 3 GG für ein Wahlsystem entschieden, durch das die Abgeordneten nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl gewählt werden (§ 1 Abs. 1 BWG). Dabei wird das personale Element des Wahlsystems mit der Verhältniswahl so verbunden, daß von der regulären Zahl von 656 Abgeordneten 328 Mandatsträger nach Kreiswahlvorschlägen direkt in den Wahlkreisen, die übrigen über die Landeslisten gewählt werden (§ 1 Abs. 2 BWG). Im Regelfall entscheidet allerdings nur die Zweitstimme über die Zahl der einer Partei zustehenden Parlamentssitze; mit ihrer Erststimme bestimmen die Wähler die Inhaber von 328 Sitzen als Personen (a). Hiervon gibt es zwei Ausnahmen, in denen allein die Erststimme die Zuteilung eines Sitzes trägt (b, c).
a) Die Gesamtsitzzahl von 656 Abgeordneten wird im Verhältnis der Summe der Zweitstimmen auf die Listen oder Listenverbindungen der Parteien verteilt, welche die Sperrklausel (§ 6 Abs. 6 BWG) überwunden haben (§§ 7, 6 Abs. 2 Satz 2 bis 5 BWG). In Fällen der Listenverbindung wird die für sie ermittelte Sitzzahl auf die beteiligten Landeslisten nach dem Verhältnis der Zweitstimmen der Partei in den einzelnen Ländern unterverteilt (§ 7 Abs. 3 Satz 1 BWG). Auf diese Weise wird für jede Landesliste die Zahl der Sitze ermittelt, die sie aufgrund des Zweitstimmenergebnisses nach den Regeln der Verhältniswahl erworben hat.
Von dieser Sitzzahl, die auf jede Landesliste aufgrund der Wahl entfällt, wird die Zahl der von der Partei in den Wahlkreisen des betreffenden Landes errungenen Sitze abgerechnet (§ 6 Abs. 4 Satz 1 BWG). Die restlichen Sitze werden aus der Landesliste in der dort festgelegten Reihenfolge besetzt; Bewerber, die in einem Wahlkreis gewählt sind, bleiben auf der Landesliste unberücksichtigt (§ 6 Abs. 4 Satz 2 und 3 BWG).
Die Anrechnung der mit den Erststimmen erworbenen Wahlkreismandate auf das nach dem Verhältnis der Zweitstimmen – auf der Grundlage von 656 Sitzen – berechnete Kontingent einer Landesliste führt dazu, daß die Zweitstimmen für eine Partei grundsätzlich die Anzahl der von ihr erworbenen Parlamentssitze bestimmen. In diesem Regelfall wirkt die Mehrheitswahl eines für eine Partei kandidierenden Wahlkreisabgeordneten nur als personelle Vorentscheidung bei der Gesamtverteilung der Mandate auf die Landeslisten. Der Sitz eines Wahlkreisabgeordneten wird dann von den für die Landesliste seiner Partei abgegebenen Zweitstimmen getragen.
b) Von diesem Regelfall wird abgewichen, wenn eine Partei in einem Land mehr Wahlkreismandate errungen hat als ihr Landeslistensitze zustehen, so daß nicht alle Wahlkreismandate von dem Listenkontingent der Partei abgerechnet werden können und in Höhe der Unterschiedszahl gemäß § 6 Abs. 5 Satz 2 BWG Überhangmandate entstehen. Solche Sitze bleiben als Ergebnis der vorgeschalteten Mehrheitswahl erhalten (vgl. BVerfGE 95, 335 ≪356≫); sie werden nur von der Mehrheit der Erststimmen und nicht auch von dem Erfolg der Zweitstimmen getragen.
c) Auch in einem weiteren Fall kommt ausschließlich der Erststimme Bedeutung für den Erwerb eines Parlamentssitzes zu: Wird ein Wahlkreis von einem Einzelbewerber oder von einem Parteikandidaten ohne Parteiliste oder ohne zu berücksichtigende Liste (§ 6 Abs. 6 BWG) gewonnen, so wird der so gemäß § 5 BWG erworbene Sitz von der Zahl der regulären 656 Sitze abgezogen (§ 6 Abs. 1 Satz 3 BWG), bevor die verbleibende Sitzzahl nach dem von den Parteien erzielten Zweitstimmenergebnis auf ihre Landeslisten verteilt wird; dabei werden die Zweitstimmen der Wähler solcher Wahlkreisgewinner nicht berücksichtigt (§ 6 Abs. 1 Satz 2 BWG).
3. Nach dieser Ausgestaltung des Systems der personalisierten Verhältniswahl und der Nachfolgeregelung des § 48 Abs. 1 BWG werden Ersatzleute nur mit der Zweitstimme aus der Landesliste mitgewählt. Sie sollen nach § 48 Abs. 1 BWG nicht nur Nachfolger für Abgeordnete sein, die ihr Mandat gemäß § 6 Abs. 4 Satz 2 BWG über die Landesliste erhalten haben (a), sondern auch an die Stelle von Wahlkreisabgeordneten treten (b).
a) Scheidet ein Abgeordneter aus dem Bundestag aus, der sein Mandat über die Liste erhalten hatte, so sind für diesen Fall die bei der Wahl zunächst nicht zum Zuge gekommenen Listenbewerber in der Reihenfolge ihrer Listenplätze als Ersatzleute gewählt (vgl. BVerfGE 7, 63 ≪72≫). Die Stimmabgabe zugunsten einer Liste bedeutet zugleich die Zustimmung zu sämtlichen auf der Liste enthaltenen Kandidatenvorschlägen (vgl. BVerfGE 3, 45 ≪50 f.≫; 7, 63 ≪70≫). Damit sind Listenkandidaten, deren nachrangiger Listenplatz zunächst nicht innerhalb des Sitzkontingents lag, das die Partei aufgrund des Zweitstimmenergebnisses erworben hatte, für den Fall des Wegfalls zum Zuge gekommener Bewerber als Ersatzleute gewählt.
b) Fällt ein Wahlkreisabgeordneter weg, so kommt eine Mitwahl der Nachfolger mit der Erststimme (aa, bb) oder mit der Zweitstimme in Betracht. § 48 Abs. 1 BWG geht von letzterem aus (cc).
aa) Das Bundeswahlgesetz sieht nicht vor, daß für den jeweiligen Wahlkreisbewerber Ersatzleute aufgestellt werden, die am Wahltag mit Abgabe der Erststimme mitgewählt werden, um im Falle späteren Wegfalls des erfolgreichen Wahlkreisbewerbers an seine Stelle treten zu können. Eine solche Nachfolgeregelung hatte der Entwurf der Bundesregierung für das Bundeswahlgesetz 1953 zwar beabsichtigt (Entwurf vom 22. Januar 1953/19. Februar 1953, BRDrucks 32/53, S. 21; BTDrucks 1/4090, S. 12), sie wurde aber nicht Gesetz.
bb) Der Gesetzgeber hat mit der Regelung des § 48 Abs. 1 BWG auch nicht die mehrheitswahlrechtliche Mitwahl der Landeslistenbewerber als Ersatzleute für den Wahlkreisvorschlag vorgesehen. Das Wahlverfahren ist nicht so ausgestaltet, daß der Wähler mit seiner für den Wahlkreisbewerber einer Partei abgegebenen Erststimme zugleich alle Bewerber der Landesliste dieser Partei als Ersatzleute mitwählt. Die Landesliste wird gemäß § 4 BWG vielmehr nur mit den Zweitstimmen gewählt, während die Erststimmen den Wählern zur Wahl von Wahlkreisabgeordneten zustehen (vgl. auch § 41 BWG). Folgerichtig ist auch der Stimmzettel so gestaltet, daß mit der Erststimme nur ein ganz bestimmter und namentlich benannter Kandidat, nicht aber zugleich Listenkandidaten der Partei des Wahlkreisbewerbers als Ersatzleute zu wählen sind.
Diese eindeutige Ausgestaltung des Wahlverfahrens läßt schon aus verfassungsrechtlichen Gründen keinen Raum für eine andere Auslegung des § 48 Abs. 1 BWG. Die Listenkandidaten wären nämlich als Ersatzleute mit der Erststimme jedenfalls nicht unmittelbar gewählt; darauf, ob den Wahlrechtsgrundsätzen im übrigen genügt wäre, kommt es nicht an. Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl verlangt, daß für den Wähler die Wirkungen seiner Stimmabgabe erkennbar sind (vgl. BVerfGE 95, 335 ≪350≫). Wenn nach dem Wahlrecht eine Koppelung stattfindet, indem mit der Wahl einer einzelnen Person die Mitwahl weiterer Persönlichkeiten zwangsläufig verbunden wird, muß der Wähler dies wenigstens bei seiner Stimmabgabe kennen können (BVerfGE 3, 45 ≪50≫). Jede Stimme muß bestimmten oder bestimmbaren Wahlbewerbern zugerechnet werden; dies muß dem Wähler vor der Wahl hinreichend erkennbar sein (vgl. BVerfGE 7, 63 ≪68, 71≫). Daran fehlte es, wenn die Regelung des § 48 Abs. 1 BWG dahin verstanden würde, daß der Wähler mit der Abgabe seiner Erststimme für einen Wahlkreisbewerber zugleich die Bewerber der Landesliste der Partei dieses Bewerbers als Ersatzleute wählt.
Davon abgesehen liefe die Mitwahl von Listenkandidaten mit der Erststimme dem Ziel entgegen, das der Gesetzgeber mit der Mehrheitswahl in den Wahlkreisen verfolgt. Es geht ihm darum, eine engere persönliche Bindung des Abgeordneten an seinen Wahlkreis zu sichern und dem Vertrauen der Wähler zu ihrem Repräsentanten eine persönlichkeitsbestimmte Grundlage zu geben (vgl. dazu BVerfGE 95, 335 ≪352 f.≫ m.w.N.). Mit der Mehrheitswahl wird der Abgeordnete als Person und nicht als Exponent einer Partei gewählt (vgl. BVerfGE 95, 335 ≪352≫).
cc) Werden die Ersatzleute für ausgeschiedene Wahlkreisabgeordnete nicht über die Erststimmen aus der Landesliste mitgewählt, so müssen sie wenigstens durch Wahl mit den Zweitstimmen legitimiert sein. Dabei kann das Wahlsystem des Bundeswahlgesetzes darauf zurückgreifen, daß der einem Wahlkreisabgeordneten zugefallene Sitz im Regelfall von dem Ergebnis der Zweitstimmen getragen wird (vgl. oben 2. a) – Umdruck S. 12). Das Zweitstimmenergebnis kann den Sitz auch weiterhin tragen, wenn beim Wegfall des in der Wahl persönlich gewählten Wahlkreisabgeordneten die Anrechnung seines Direktmandats auf die Sitzzahl, die der Landesliste nach dem Zweitstimmenergebnis zusteht, rückgängig gemacht wird. Dabei lebt ein Listensitz, den ein Wahlkreisabgeordneter durch die Anrechnung gemäß § 6 Abs. 4 BWG verdrängt hatte, gleichsam wieder auf, so daß dieser Sitz nun in der Reihenfolge der Plätze der Listenbewerber einem Nachfolger zufallen kann.
Bei einer solchen Nachfolgeregelung hat die Personenwahl – und damit auch das mehrheitswahlrechtliche Element des Wahlsystems – nur solange Geltungskraft wie der persönlich gewählte Wahlkreisabgeordnete seinen Sitz innehat. Mit dessen Ausscheiden verliert der Wähler den mit der Erststimme erzielten Erfolg einer Einflußnahme auf die personelle Besetzung des Bundestages.
Der Gesetzgeber könnte diesen Einfluß der Erststimme über den Wegfall des im Wahlkreis erfolgreichen Kandidaten hinaus erhalten, wenn er in den Wahlkreisen zugleich mit den Kreiswahlvorschlägen jeweils Ersatzkandidaten mitwählen ließe. Er hat sich aber entschieden, die Verhältniswahl nicht so weitgehend mit Elementen der Personenwahl zu verknüpfen. Dies liegt im Rahmen des dem Gesetzgeber gemäß Art. 38 Abs. 3 GG zukommenden Gestaltungsraums. Er allein entscheidet über die zweckmäßigste oder rechtspolitisch erwünschte Lösung (vgl. BVerfGE 6, 84 ≪94≫; 51, 222 ≪237 f.≫; 95, 335 ≪349 f., 356 f., 361 f.≫; 95, 408 ≪420≫). Für die dem Bundesverfassungsgericht obliegende wahl- und verfassungsrechtliche Überprüfung der Mandatszuteilung ist es daher unerheblich, daß das Ziel der personalisierten Verhältniswahl, jedenfalls bei der Hälfte der Abgeordneten eine möglichst enge Bindung zu den Bürgern in den jeweiligen Wahlkreisen zu ermöglichen, nachhaltiger verwirklicht werden könnte, wenn für die Wahlkreisbewerber Ersatzleute in den Wahlkreisen gewählt würden.
4. Verfügt eine Partei in einem Land über mehr Direktmandate als ihr Listensitze zustehen, so wird diese Unterschiedszahl von Sitzen nicht auch von dem Zweitstimmenergebnis getragen (vgl. oben 2. b) – Umdruck S. 13). Solche Überhangmandate haben nicht im Wege der Anrechnung auf das Sitzkontingent der Liste einen Listensitz verdrängt. In diesen Fällen gibt es daher auf der Liste keine Reservesitze, die durch Rückabwicklung der Anrechnung der Direktmandate wieder aufleben könnten, um einen Listenbewerber nachrücken zu lassen. Für solche Fälle hält die Landesliste daher mitgewählte Ersatzleute nicht vor.
5. a) Die Auslegung des § 48 Abs. 1 BWG ergibt danach, daß bei Wegfall eines Wahlkreisabgeordneten Ersatzleute aus der Landesliste nur zur Verfügung stehen, soweit Sitze wieder zu besetzen sind, die die Landesliste in der Wahl zwar erworben hatte, die aber infolge der Anrechnung von Wahlkreismandaten zunächst nicht mit Listenkandidaten besetzt werden konnten. Gegenüber dieser von der Systematik des demokratischen Wahlrechts bestimmten Auslegung kann sich eine nur am Wortlaut ausgerichtete Auslegung des § 48 Abs. 1 BWG nicht durchsetzen; es ist daher unerheblich, daß der Wortlaut dieser Norm auch einen weiteren Anwendungsbereich eröffnen könnte.
b) Entgegen der Auffassung von Bundestag und Bundesministerium des Innern steht diese Auslegung des § 48 Abs. 1 BWG nicht in Widerspruch zu dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Juli 1957 (BVerfGE 7, 63 ff.). In dieser Entscheidung hat der Senat keineswegs die Anwendung von § 48 Abs. 1 BWG auf Fälle der vorliegenden Art gebilligt. In dem damaligen Verfahren stand das Prinzip der Listennachfolge, das dem § 48 Abs. 1 BWG zugrunde liegt, als solches auf dem verfassungsrechtlichen Prüfstand (vgl. BVerfGE 7, 63 ≪71 ff.≫). Die hier zur Entscheidung anstehende Sonderkonstellation der Mandatsnachfolge in “Überhangländern” in den Blick zu nehmen, bestand damals keine Veranlassung. Die Problematik der Überhangmandate wurde in einem ganz anderen Zusammenhang erörtert (vgl. BVerfGE, a.a.O., S. 73 ff.).
c) Will der Gesetzgeber eine Mandatsnachfolge auch auf freigewordene Sitze von Wahlkreisabgeordneten zulassen, deren Partei in dem betreffenden Land gemäß § 6 Abs. 5 Satz 2 BWG erworbene Überhangmandate zustehen, so hat er dies gesetzlich zu regeln. Er kann etwa Ersatzleute für Wahlkreisbewerber mit der Erststimme mitwählen lassen (vgl. oben 3. b) aa) – Umdruck S. 15). Der Gesetzgeber kann damit dem Anliegen Rechnung tragen, auf das der Bundestag im Ausgangsverfahren die Auslegung von § 48 Abs. 1 BWG gestützt hat. Der Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Parlaments mag es dienlich sein, durch eine Nachfolgeregelung die Zahl der Abgeordneten des Parlaments während der Legislaturperiode möglichst konstant zu halten. Für solche Erwägungen ist jedoch in einem Wahlprüfungsverfahren kein Raum, solange es an mitgewählten Ersatzleuten fehlt.
II.
Der eingeschränkte Regelungsgehalt des § 48 Abs. 1 BWG ist bisher nicht erkannt worden. Hierzu mag beigetragen haben, daß eine nur am Wortlaut ausgerichtete Auslegung dieser Norm auch deren weitergehende, der angegriffenen Wahlprüfungsentscheidung zugrundeliegende Anwendung miterfassen kann. Seitdem das Bundeswahlgesetz beim Wegfall von in Wahlkreisen gewählten Abgeordneten nicht mehr eine Ersatzwahl vorsieht (vgl. oben A. V. 1. – Umdruck S. 7) und statt dessen anordnet, daß die Sitze dieser Abgeordneten, wenn sie aus dem Bundestag ausscheiden oder ihr Mandat nicht antreten, aus der Landesliste ihrer Partei zu besetzen sind, haben weder die Wahlrechtspraxis noch die Literatur berücksichtigt, daß diese Regelung nicht auch für die Nachfolge auf Direktmandate von Parteien gilt, die in dem jeweiligen Land über Überhangmandate verfügen.
Mit Ausnahme der dritten Wahlperiode waren seither in allen Legislaturperioden, in denen Überhangmandate angefallen waren, Wahlkreisabgeordnete aus dem Bundestag ausgeschieden, die in Ländern gewählt waren, in denen ihre Partei ein oder mehrere Überhangmandate erzielt hatte. In all diesen Fällen wurden die Nachfolger – wie im Ausgangsverfahren – aus der Liste berufen. Bis zu dem von dem Beschwerdeführer eingeleiteten Wahlprüfungsverfahren war die Gültigkeit der auf diese Weise erworbenen Mitgliedschaft in keinem Fall angefochten worden. Auch die Literatur hat die Anwendbarkeit des § 48 Abs. 1 BWG nicht in Frage gestellt; sie hat das Problem des Ausscheidens von direkt gewählten Abgeordneten in “Überhangländern” noch nicht einmal behandelt. Soweit ersichtlich bejaht lediglich Schreiber – ohne Begründung – ausdrücklich die Anwendbarkeit des § 48 Abs. 1 BWG auch für diesen Fall (vgl. Handbuch des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag, 5. Auflage, § 6 BWG Rn. 12 a.E.; ders. in: Schneider/Zeh [Hrsg.], Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 12 Rn. 92).
Hieraus wird deutlich, daß die jahrzehntelange, rechtlich unumstrittene Auslegung des § 48 Abs. 1 BWG (und zuvor des § 54 BWG 1953) der im Wahlrecht in besonderem Maße gebotenen Rechtsklarheit (vgl. BVerfGE 79, 161 ≪168≫) scheinbar genügte. Der bis dahin der Norm des § 48 Abs. 1 BWG beigemessene Regelungsgehalt erschien als gültiger Bestandteil des Wahlrechts, auf dessen Wirksamkeit Wähler und Wahlbewerber ihre Entscheidungen ebenso gründeten wie der Deutsche Bundestag, Abgeordnete und Fraktionen.
Eine entsprechende Erwartung, daß § 48 Abs. 1 BWG uneingeschränkt die Möglichkeit der Listennachfolge für im Wahlkreis gewählte Abgeordnete eröffne, konnte auch das Wahlverhalten bei der Wahl zum 13. Deutschen Bundestag bestimmen und in der derzeitigen Legislaturperiode Grundlage für personelle und organisatorische Entscheidungen von Abgeordneten, Fraktionen und Bundestag sein.
Die Folgen, die einträten, wenn der bisherigen Handhabung des § 48 Abs. 1 BWG nunmehr kurz vor dem Ablauf der 13. Legislaturperiode der Boden entzogen würde, sind im einzelnen nicht einzuschätzen. Bleibt es bis zum Ende der 13. Legislaturperiode übergangsweise bei der bisherigen Anwendung, so sind die nur noch für wenige Monate eintretenden Folgen demgegenüber absehbar und hinnehmbar. Rückwirkung könnte der Feststellung der Ungültigkeit des Erwerbs der Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag gemäß § 47 Abs. 2 BWG ohnehin nicht zukommen. Die Sitze der beiden ausgeschiedenen Abgeordneten wären daher ohnehin – unabänderlich – über einen Zeitraum von dreizehn und vier Monaten mit Abgeordneten besetzt gewesen, deren Mitgliedschaft ungültig erworben worden ist. Wird dieser Zustand noch bis zum Ende der Legislaturperiode aufrechterhalten, so fällt dies nicht mehr entscheidend ins Gewicht.
III.
Mit Rücksicht darauf, daß der Wahlprüfungsbeschwerde der Erfolg nur im Hinblick auf die oben (II. – Umdruck S. 21) herausgestellten Erwägungen versagt bleibt, ist es billig, gemäß §§ 18, 19 WahlprüfG in Verbindung mit § 34a Abs. 3 BVerfGG die Erstattung der dem Beschwerdeführer erwachsenen notwendigen Auslagen anzuordnen.
Unterschriften
Limbach, Graßhof, Kruis, Kirchhof, Winter, Sommer, Jentsch, Hassemer
Fundstellen
Haufe-Index 1276262 |
BVerfGE, 317 |
NJW 1998, 2892 |
NVwZ 1998, 1060 |
DÖV 1998, 595 |
JA 1999, 190 |
NJ 1998, 364 |
BayVBl. 1998, 654 |
DVBl. 1998, 579 |