Verfahrensgang
OVG für das Land NRW (Beschluss vom 29.06.2004; Aktenzeichen 20 B 1057/04) |
Tenor
Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 29. Juni 2004 – 20 B 1057/04 – verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes; er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Damit erledigt sich zugleich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
- Das Land Nordrhein-Westfalen hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren und für das Verfahren betreffend den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu ersetzen.
Gründe
Die Beschwerdeführerin ist Importeurin von Mischfuttermitteln für Nutztiere; sie wendet sich gegen die Verpflichtung, die genaue Zusammensetzung dieser Futtermittel auf den von ihr vertriebenen Produkten anzugeben.
I.
1. Mischfuttermittel wurden bisher mit einer Etikettierung in den Verkehr gebracht, auf der die darin enthaltenen Ausgangserzeugnisse in absteigender Reihenfolge ihres Gewichtsanteils ohne konkrete Angabe des genauen Prozentsatzes angegeben werden. Im Dezember 2003 wurde die Futtermittelverordnung in § 13 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 dahin geändert, dass bei Mischfuttermitteln für Nutztiere die Angaben über die Zusammensetzung die enthaltenen Einzelfuttermittel in vom Hundert in der absteigenden Reihenfolge ihrer Gewichtsanteile enthalten müssen (vgl. BGBl 2003 I S. 2499; so genannte obligatorische offene Deklaration). Andernfalls dürfen die Produkte nicht in den Verkehr gebracht werden; ein Verstoß dagegen ist bußgeldbewehrt. Die Änderung der Verordnung dient der Umsetzung der Richtlinie 2002/2/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2002 (ABlEG Nr. L 63/23). Die maßgebliche Regelung der Richtlinie ist Gegenstand mehrerer Vorlageverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (Rechtssachen C-453/03, C-11/04, C-12/04 und C-194/04); im Zusammenhang damit ist im Vereinigten Königreich, in Frankreich, Italien und in den Niederlanden der Vollzug der nationalen Durchführungsvorschriften vorläufig ausgesetzt worden.
2. Die Verpflichtung zur offenen Deklaration führt dazu, dass die genaue Zusammensetzung der Mischfuttermittel auch Konkurrenten der Beschwerdeführerin bekannt wird und das Produkt-Know-how sowie ein etwaiger Marktvorteil verloren gehen. Um den Vollzug der ab dem 1. Juli 2004 geltenden Rechtsänderung abzuwenden, beantragte die Beschwerdeführerin daher den Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel, vorläufig zu dulden, dass die Beschwerdeführerin Mischfuttermittel ohne die vorgeschriebene offene Deklaration in den Verkehr bringt. Das Verwaltungsgericht hat dem Antrag wegen erheblicher Zweifel an der Gültigkeit der Richtlinie 2002/2/EG entsprochen.
Dagegen hat das Oberverwaltungsgericht in dem angegriffenen Beschluss auf die Beschwerde des betroffenen Landes den Antrag abgelehnt und zur Begründung ausgeführt, dass es zwar Anlass zu Bedenken und zu Fragen hinsichtlich der Gültigkeit der maßgeblichen Richtlinienregelung gebe. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs könne das nationale Verwaltungsgericht aber zur Abwehr von Verletzungen durch Gemeinschaftsrecht vorläufigen Rechtsschutz nur gewähren, wenn es erhebliche Zweifel an der Gültigkeit des entsprechenden Gemeinschaftsrechtsakts habe, die Gültigkeitsfrage, sofern noch nicht geschehen, dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt werde, die vorläufige Rechtsschutzentscheidung dringlich sei und das Interesse der Gemeinschaft an der Durchführung des Gemeinschaftsrechts angemessen berücksichtigt werde (unter Hinweis auf EuGH, DVBl 1996, S. 247). Diese Voraussetzungen seien hier nicht erfüllt.
3. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Die Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts seien mit den Anforderungen an einen effektiven Rechtsschutz nicht vereinbar. Auch hätte das Gericht das Verfahren aussetzen und dem Europäischen Gerichtshof die Frage vorlegen müssen, ob die von diesem aufgestellten Voraussetzungen für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes durch die nationalen Gerichte im Ausgangsverfahren gegeben waren. Zudem beantragt die Beschwerdeführerin den Erlass einer einstweiligen Anordnung.
4. Zu der Verfassungsbeschwerde hat die Regierung des Landes Nordrhein-Westfalen Stellung genommen. Nach ihrer Auffassung können die Verfassungsbeschwerde und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung keinen Erfolg haben.
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung von Rechten im Sinne des § 90 Abs. 1 BVerfGG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 BVerfGG für eine stattgebende Kammerentscheidung sind gegeben. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde insoweit maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden. Der angegriffene Beschluss des Oberverwaltungsgerichts kann danach verfassungsrechtlich keinen Bestand haben.
a) Unbegründet ist allerdings die Rüge, das Oberverwaltungsgericht habe der Beschwerdeführerin dadurch den gesetzlichen Richter entzogen, dass es den Europäischen Gerichtshof nicht im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens angerufen hat. Zwar ist auch der Europäische Gerichtshof gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Der Anspruch auf den gesetzlichen Richter kann deshalb verletzt sein, wenn ein nationales Gericht seiner Pflicht zur Anrufung des Europäischen Gerichtshofs im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nicht nachkommt (vgl. BVerfGE 73, 339 ≪366 ff.≫; 82, 159 ≪194 ff.≫; s. auch BVerfG, 2. Kammer des Ersten Senats, EuGRZ 2001, S. 150 ≪152≫). Es ist jedoch nichts dafür ersichtlich, dass das Oberverwaltungsgericht diese Pflicht hier verletzt hat. Von einer weiteren Begründung wird insoweit gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
b) Begründet ist dagegen die Rüge, das Oberverwaltungsgericht habe mit seiner Entscheidung gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verstoßen.
aa) Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistet nicht nur das formelle Recht, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes. Wirksamer Rechtsschutz bedeutet auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Daraus folgt, dass gerichtlicher Rechtsschutz namentlich in Eilverfahren so weit wie möglich der Schaffung solcher vollendeter Tatsachen zuvorzukommen hat, die dann, wenn sich eine Maßnahme bei endgültiger richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Daraus ergeben sich für die Gerichte Anforderungen an die Auslegung und Anwendung der jeweiligen Gesetzesbestimmungen über den Eilrechtsschutz. So sind etwa die Verwaltungsgerichte bei der Auslegung und Anwendung des § 123 VwGO gehalten, vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn sonst dem Antragsteller eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, es sei denn, dass ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen (vgl. BVerfGE 93, 1 ≪13 f.≫ m.w.N.).
bb) Diesen Maßstäben wird der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts nicht in vollem Umfang gerecht.
Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist allerdings, dass das Oberverwaltungsgericht angenommen hat, zur Abwehr von Rechtsverletzungen durch Gemeinschaftsrecht vorläufigen Rechtsschutz in Bezug auf die Vollziehung des der Umsetzung des Gemeinschaftsrechts dienenden nationalen Rechts nur gewähren zu können, wenn es aufgrund der vom Antragsteller vorgetragenen sachlichen und rechtlichen Gegebenheiten erhebliche Zweifel an der Gültigkeit des entsprechenden Gemeinschaftsrechtsakts hat, die Gültigkeitsfrage, sofern dies noch nicht geschehen ist, dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt wird, die vorläufige Rechtsschutzentscheidung dringlich ist und das Interesse der Gemeinschaft an der Durchführung des Gemeinschaftsrechts angemessen berücksichtigt wird. Dieser Maßstab knüpft an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs an (vgl. EUGHE I 1995, S. 3761 ≪3791≫ = DVBl 1996, S. 247 ≪248≫) und begegnet als solcher – ungeachtet des Umstandes, dass es hier um Zweifel an der Gültigkeit nicht einer Gemeinschaftsverordnung, sondern einer Gemeinschaftsrichtlinie geht – keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Dass nicht jeder Zweifel für den Erlass einer einstweiligen Anordnung durch das nationale Gericht eines Mitgliedstaats der Gemeinschaft ausreicht, vielmehr nur erhebliche Zweifel ein vorübergehendes Eingreifen dieses Gerichts rechtfertigen können, entspricht den besonders strengen Anforderungen, die auch im innerstaatlichen Bereich für die Aussetzung des Vollzugs von Gesetzen durch das Bundesverfassungsgericht gelten (vgl. dazu BVerfGE 82, 310 ≪313≫; 104, 51 ≪55 f.≫).
Mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht in Einklang zu bringen ist jedoch, dass das Oberverwaltungsgericht das Vorliegen erheblicher Zweifel an der Vereinbarkeit der maßgeblichen Richtlinienregelung mit höherrangigem EG-Recht verneint hat, ohne inhaltlich darauf einzugehen, dass der englische High Court of Justice – Queen's Bench Division (Administrative Court) – mit Beschluss vom 23. Oktober 2003, der französische Conseil d'État mit Beschluss vom 29. Oktober 2003, der italienische Consiglio di Stato mit Beschlüssen vom 11. November 2003 und die niederländische Rechtbank's Gravenhage mit Beschluss vom 22. April 2004 solche Zweifel bejaht und deshalb den Vollzug des nationalen Umsetzungsakts für den Zuständigkeitsbereich dieser Gerichte einstweilen ausgesetzt haben.
Dass diese Entscheidungen das Oberverwaltungsgericht rechtlich nicht binden, worauf dieses im angegriffenen Beschluss abgestellt hat, ändert nichts daran, dass zu den vom Antragsteller vorgetragenen und vom Oberverwaltungsgericht selbst für erheblich erachteten sachlichen und rechtlichen Gegebenheiten hier auch die Beschlüsse der genannten Gerichte gehört haben, nachdem die Beschwerdeführerin auf sie – ebenso wie das Verwaltungsgericht – im Ausgangsverfahren hingewiesen hatte. Gerade wenn es um die Gültigkeit von Gemeinschaftsrecht geht, ist die dazu vertretene Auffassung von Gerichten anderer Mitgliedstaaten der Gemeinschaft auch für die Gerichte der Bundesrepublik Deutschland bedeutsam. Erhebliche Zweifel an der gemeinschaftsrechtlichen Gültigkeit einer Gemeinschaftsrichtlinie lassen sich nicht ausschließen, wenn die erheblichen Zweifel der anderen Gerichte und die solche Zweifel begründenden Erwägungen dieser Gerichte nicht aufgenommen werden und infolgedessen eine Auseinandersetzung mit ihnen unterbleibt. Deshalb hätte das Oberverwaltungsgericht auf diese Entscheidungen eingehen und sie inhaltlich würdigen müssen, ehe es eigene erhebliche Zweifel an der Gültigkeit der Änderungsrichtlinie 2002/2/EG verneint.
Mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht zu vereinbaren ist weiter, dass die genannten Entscheidungen der Gerichte anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft bei der vom Oberverwaltungsgericht vorgenommenen Abwägung zwischen dem Aussetzungsinteresse der Beschwerdeführerin und dem Interesse der Gemeinschaft an der Umsetzung der in der Änderungsrichtlinie 2002/2/EG getroffenen Neuregelung nur formal berücksichtigt worden sind. Auch dort fehlt eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Gründen, welche die anderen Gerichte zu erheblichen Zweifeln an der Gemeinschaftsrechtskonformität der Richtlinienregelung haben kommen lassen. Das wird dem Aussetzungsinteresse der Beschwerdeführerin nicht hinreichend gerecht, weil in die Abwägung nicht alle Belange mit dem ihnen zukommenden Gewicht eingestellt worden sind.
cc) Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts beruht auf der Verletzung des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG. Es ist nicht auszuschließen, dass das Gericht bei einer vertieften Auseinandersetzung mit den Gründen, welche die genannten Gerichte anderer Mitgliedstaaten der Gemeinschaft zum Erlass vorläufiger Maßnahmen bewogen haben, ebenfalls erhebliche Zweifel an der gemeinschaftsrechtlichen Gültigkeit der erwähnten Richtlinienregelung bekommen und auch die genannte Interessenabwägung mit einem für die Beschwerdeführerin günstigeren Ergebnis vorgenommen sowie in Konsequenz dessen den Vollzug der Umsetzung dieser Regelung für die Beschwerdeführerin einstweilen ausgesetzt hätte. Der Beschluss ist deshalb aufzuheben und die Sache an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG).
III.
Mit dieser Entscheidung erledigt sich zugleich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
IV.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).
Unterschriften
Jaeger, Hömig, Bryde
Fundstellen
Haufe-Index 1208374 |
StoffR 2004, 243 |