Entscheidungsstichwort (Thema)
Üble Nachrede in einem Strafverfahren
Beteiligte
Rechtsanwalt Theodor Götze |
Verfahrensgang
Tenor
Das Urteil des Amtsgerichts Eggenfelden vom 30. September 1993 – Bs 2/93 – und der Beschluss des Landgerichts Landshut vom 8. Dezember 1993 – Ps 1/93 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Recht auf ein faires Verfahren. Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht zurückverwiesen.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerde-Verfahren zu erstatten.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Verurteilung wegen übler Nachrede gemäß § 186 StGB für Verteidigungsvorbringen in einem anderen Strafverfahren.
I.
1. a) Der Beschwerdeführer war im Jahr 1992 vor dem Amtsgericht Eggenfelden wegen Beleidigung und Körperverletzung angeklagt. In der Hauptverhandlung erklärte er zu den Hintergründen der Tat, er habe mit dem Opfer der Straftaten, der späteren Privatklägerin, in einem eheähnlichen Verhältnis gelebt und mit ihr ein Lokal betrieben, obwohl sie ihm erzählt habe, sie sei drogenabhängig und habe zur Finanzierung ihrer Sucht Pornofilme gedreht. Außerdem habe sie jeder Kunde des Lokals, der Sekt spendiert habe, „betätscheln” dürfen.
b) Wegen dieser Äußerungen verklagte ihn seine frühere Lebensgefährtin vor dem Landgericht Landshut auf Widerruf. Das Landgericht verurteilte den Beschwerdeführer zum Widerruf der Behauptungen, die Privatklägerin sei drogensüchtig gewesen und habe zur Finanzierung ihrer Sucht Pornofilme gedreht. Hinsichtlich der Äußerung, sie habe sich „betätscheln” lassen, wurde die Klage wegen fehlenden Rechtsschutzinteresses zurückgewiesen.
Auf die Berufung des Beschwerdeführers wurde das landgerichtliche Urteil aufgehoben; der Widerruf der ehrkränkenden Äußerungen könne nicht beansprucht werden, „weil diese Äußerungen im Rahmen der Rechtsverteidigung des Beklagten als Angeklagtem in einem Strafverfahren” gefallen seien. Das Oberlandesgericht stützte seine Auffassung – insoweit dem Landgericht folgend – auf die ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wonach ehrkränkenden Äußerungen, die der Rechtsverteidigung in einem schwebenden gerichtlichen Verfahren dienten, grundsätzlich nicht mit gesonderten Ehrenschutzklagen abgewehrt werden könnten, soweit ihre Unhaltbarkeit nicht auf der Hand liege und die Äußerungen noch irgendeinen inneren Zusammenhang mit der Verteidigung aufwiesen (Hinweis u. a. auf BGH, NJW 1977, S. 1681 ff. und NJW 1986, S. 2502 f.). Diese Voraussetzungen seien vorliegend – wegen der Bedeutung der Äußerungen für die Strafzumessung – „gerade noch” zu bejahen. Die Rechtsauffassung des Bundesgerichtshofs sei im Übrigen verfassungsrechtlich sanktioniert (Hinweis auf den Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Juni 1990 – 2 BvR 674/88 –, NJW 1991, S. 29 und BVerfGE 74, 257 ff.).
2. a) Nachdem das Oberlandesgericht das landgerichtliche Urteil aufgehoben hatte und das Strafverfahren, in dem es zu den Äußerungen gekommen war, gemäß § 153 a StPO eingestellt worden war, erhob die frühere Lebensgefährtin des Beschwerdeführers wegen der Äußerungen Privatklage zum Amtsgericht Eggenfelden. Mit Urteil vom 30. September 1993 verurteilte das Amtsgericht den Beschwerdeführer wegen übler Nachrede nach § 186 StGB zu einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen zu 60 DM. Die Äußerungen seien nicht erweislich wahr. Der Angeklagte könne sich nicht auf § 193 StGB berufen, weil er weder sorgfältig über die Wahrheit der geäußerten Tatsachen Erkundigungen eingeholt noch Beweise für die Richtigkeit seiner Äußerungen vorgelegt habe. Auf die von dem Beschwerdeführer vorgebrachten Zweifel an der Vereinbarkeit seiner Verurteilung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen ging das Urteil nicht ein.
b) Die Berufung des Beschwerdeführers wurde durch Beschluss des Landgerichts Landshut vom 8. Dezember 1993 gemäß § 313 Abs. 2 Satz 2 StPO als unzulässig verworfen. Die Berufung sei offensichtlich unbegründet. An der Auslegung des § 193 StGB durch das Amtsgericht sei nichts auszusetzen. Auch ein Angeklagter dürfe keine unrichtigen Behauptungen aufstellen, wenn diese zu einer Ehrverletzung eines Dritten führen könnten. Dieser müsse zumindest darauf hinweisen, dass er für sein Vorbringen keine ausreichenden Beweise habe, denn insofern treffe ihn eine gewisse Informationspflicht. Im Übrigen ging das Landgericht auf die von dem Beschwerdeführer vorgetragenen verfassungsrechtlichen Bedenken nicht ein.
II.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seines Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG). Es entspreche einer inzwischen gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts, dass es in einem Zivil-, aber auch in einem Strafverfahren gestattet sein müsse, ohne Hinblick auf etwaige Unterlassungsklagen oder strafrechtliche Verfolgungen wegen Beleidigung oder übler Nachrede seine Sicht der Dinge ungehindert darzustellen, weil ansonsten das Funktionieren einer geordneten Rechtspflege in Frage gestellt sei. Unter Verkennung dieser verfassungsrechtlichen Maßstäbe hätten beide Gerichte nicht hinreichend geprüft, ob sein Verhalten als Wahrnehmung berechtigter Interessen gemäß § 193 StGB gerechtfertigt gewesen sei.
III.
Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hatte Gelegenheit zur Stellungnahme. Es hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet, da die Strafgerichte eine verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende Abwägung zwischen der Beeinträchtigung, die der persönlichen Ehre der Privatklägerin drohe, und dem Recht des Beschwerdeführers auf Verteidigung vorgenommen hätten und deshalb die Anwendung und Auslegung des § 193 StGB verfassungsrechtlichen Bedenken nicht unterliege. Im Übrigen handele es sich bei den Angaben des Beschwerdeführers um Tatsachenbehauptungen, bei denen der Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht eröffnet sei.
Entscheidungsgründe
IV.
Die Verfassungsbeschwerde wird zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung von Grundrechten des Beschwerdeführers angezeigt ist (vgl. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).
Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c BVerfGG); die für die Entscheidung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden.
Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet.
Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 GG in Verbindung mit seinem Recht auf ein faires Verfahren.
1. Art. 5 Abs. 1 GG gewährleistet jedem das Recht, seine Meinung frei zu äußern, wobei es sich bei Werturteilen stets um geschützte Meinungsäußerungen handelt. Dies gilt auch für den Prozess (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 11. April 1991 – 2 BvR 963/90 –, NJW 1991, S. 2074 ≪2075≫). Die Mitteilung von Tatsachen ist grundrechtlich geschützt, weil und soweit sie Voraussetzung der Bildung von Meinungen ist, welche Art. 5 Abs. 1 GG in seiner Gesamtheit gewährleistet (vgl. BVerfGE 61, 1 ≪8≫; 65, 1 ≪41≫; 85, 23 ≪31≫). Der Begriff der Meinung in Art. 5 Abs. 1 GG ist danach grundsätzlich weit zu verstehen. Sofern eine Äußerung durch die Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder Meinens geprägt ist, fällt sie deshalb in den Schutzbereich des Grundrechts. Dies muss auch dann gelten, wenn sich diese Elemente, wie häufig, mit Elementen einer Tatsachenmitteilung oder -behauptung verbinden oder vermischen, jedenfalls dann, wenn beide sich nicht trennen lassen und der tatsächliche Gehalt in den Hintergrund tritt. Würde das tatsächliche Element als ausschlaggebend angesehen, so könnte der grundrechtliche Schutz der Meinungsfreiheit wesentlich verkürzt werden (vgl. BVerfGE 61, 1 ≪9≫; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 11. April 1991 – 2 BvR 963/90 –, NJW 1991, S. 2074 ≪2075≫).
Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit gilt allerdings nicht vorbehaltlos. Es findet in Art. 5 Abs. 2 GG u. a. eine Schranke in den allgemeinen Gesetzen, zu denen auch die ehrschützenden Bestimmungen der §§ 185 ff. StGB gehören. Die Auslegung und Anwendung der Strafgesetze ist grundsätzlich Sache der Strafgerichte. Dabei haben sie jedoch Art. 5 Abs. 1 GG zu beachten, damit dessen wertsetzende Bedeutung auch auf der Ebene der Rechtsanwendung gewahrt bleibt (vgl. BVerfGE 7, 198 ≪208 f.≫; 93, 266 ≪292≫).
Die Ausstrahlungswirkung des Grundrechts verlangt bei der Anwendung der strafrechtlichen Norm regelmäßig eine Gewichtung der Beeinträchtigung, die der persönlichen Ehre als Element des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG von der umstrittenen Äußerung auf der einen und der Meinungsfreiheit von einer Verurteilung auf der anderen Seite droht (vgl. BVerfGE 93, 266 ≪292 f.≫; 97, 391 ≪403≫; 99, 185 ≪196≫). Dabei sind alle wesentlichen Umstände zu berücksichtigen (vgl. BVerfGE 99, 185 ≪196≫). Das Ergebnis der Abwägung ist verfassungsrechtlich nicht vorgegeben. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts steht es aber mit dem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 GG nicht in Einklang, wenn das Fachgericht fälschlich Umstände annimmt, die dazu führen, dass eine Abwägung von vornherein unterbleibt (vgl. BVerfGE 93, 266 ≪294≫). Zu den wesentlichen Abwägungsgesichtspunkten gehört auch die Funktion, in welcher der sich Äußernde seine ehrkränkende Behauptung aufgestellt hat. Handelt es sich bei der Äußerung um eine Stellungnahme in einem gerichtlichen Verfahren, die der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung dient, so sind bei der Anwendung des § 193 StGB auch die Auswirkungen des Rechtsstaatsprinzips zu berücksichtigen (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 11. April 1991 – 2 BvR 963/90 –, NJW 1991, S. 2074 ≪2075≫).
Allerdings setzt das Verhältnismäßigkeitsprinzip auch der Zulässigkeit solcher Äußerungen Grenzen, die in einem gerichtlichen Verfahren gemacht werden. Missbräuchliche Einlassungen, die in keinem inneren Zusammenhang zur Verteidigung stehen oder offenbar unhaltbar sind, sind nicht gemäß § 193 StGB gerechtfertigt (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 11. April 1991 – 2 BvR 963/90 –, NJW 1991, S. 2074 ≪2075≫); auch bei Formalbeleidigungen geht der Persönlichkeitsschutz regelmäßig der Meinungsfreiheit vor (BVerfGE 93, 266 ≪293 f.≫; 99, 185 ≪196≫).
2. Zu den wesentlichen Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens in Verbindung mit dem allgemeinen Freiheitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG) zählt das Recht auf ein faires Verfahren. Als ein unverzichtbares Element der Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens und daran anknüpfender Verfahren gewährleistet es dem Betroffenen, prozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten mit der erforderlichen Sachkunde selbst wahrnehmen und Übergriffe der rechtsstaatlich begrenzten Rechtsausübung staatlicher Stellen oder anderer Verfahrensbeteiligter angemessen abwehren zu können (vgl. BVerfGE 38, 105 ≪111≫; 63, 45 ≪60 f.≫). Der Beschuldigte darf im Rechtsstaat des Grundgesetzes nicht Objekt des Verfahrens sein; ihm muss vielmehr die Möglichkeit gegeben werden, zur Wahrnehmung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Strafverfahrens Einfluss zu nehmen (BVerfGE 63, 380 ≪390 f.≫; 65, 171 ≪174 f.≫; 66, 313 ≪318≫).
Dieser verfassungsrechtlich verbürgte Anspruch umfasst nicht nur das Recht des Beschuldigten, sich im Strafverfahren von einem Rechtsanwalt als gewähltem Verteidiger seines Vertrauens verteidigen zu lassen, er garantiert auch, sich im Rahmen der von der Strafprozessordnung aufgestellten Regeln effektiv selbst zu verteidigen. Eine effektive Verteidigung ist aber nur gewährleistet, wenn der Angeklagte, ohne Strafverfolgung befürchten zu müssen, seine Verteidigung in einer Weise einrichten kann, die nach seiner von gutem Glauben bestimmten Sicht geeignet ist, sich im Strafverfahren gegen den staatlichen Schuld- oder Strafausspruch mit Erfolg zur Wehr zu setzen. Aus der rechtsstaatlichen Funktion des zivilprozessualen Verfahrens hat das Bundesverfassungsgericht die Folgerung gezogen, dass ein Rechtsuchender im Zivilprozess vor Rechtsnachteilen bewahrt sein muss, wenn er in unmittelbarer Verteidigung seiner Rechtspositionen nicht leichtfertig Behauptungen in Bezug auf rechtsbegründende oder rechtsvernichtende Tatsachen oder die Eignung eines Beweismittels, insbesondere die Glaubwürdigkeit eines Zeugen, aufstellt. Ihm muss es – ohne die Gefahr strafrechtlicher Konsequenzen – möglich sein, in einem rechtsstaatlichen Verfahren jene Handlungen vorzunehmen, die nach seiner von gutem Glauben bestimmten Sicht geeignet sind, sich im Prozess zu behaupten (vgl. Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Juni 1990 – 2 BvR 674/88 –, NJW 1991, S. 29 und vom 11. April 1991 – 2 BvR 963/90 –, NJW 1991, S. 2074 ≪2075≫). Denn die Gefahr einer Strafverfolgung wirkt mittelbar auf die Wahrnehmung des Rechts zurück. Der strafrechtliche Ehrenschutz darf jedenfalls nicht dazu zwingen, eine rechtserhebliche Tatsachenbehauptung in einem Prozess aus Furcht vor Bestrafung nach § 186 StGB zu unterlassen, weil nicht vorauszusehen ist, ob die behauptete Tatsache bewiesen werden kann. Deshalb darf die in einem Zivilprozess vorgetragene Behauptung einer ehrverletzenden Tatsache, die nicht der Stimmungsmache gegen einen anderen Prozessbeteiligten dient, sondern aus der Sicht der Partei als rechts-, einwendungs- oder einredebegründender Umstand prozesserheblich sein kann, nicht schon deshalb strafrechtlich geahndet werden, weil sich später nicht aufklären lässt, ob die Behauptung wahr ist (vgl. Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Juni 1990 – 2 BvR 674/88 –, NJW 1991, S. 29 und vom 11. April 1991 – 2 BvR 963/90 –, NJW 1991, S. 2074 ≪2075≫).
Insbesondere das Persönlichkeitsrecht Dritter fordert freilich, dass eine ehrverletzende Tatsachenbehauptung in der konkreten Prozesssituation zur Verteidigung geeignet und erforderlich und in Bezug auf die in Frage stehenden Rechtsgüter angemessen sein muss. Die Art und Weise der Einlassung des Beschuldigten muss auf die Ehre des Betroffenen Rücksicht nehmen, wobei die Anforderungen an Meinungsäußerungen im Sinne des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG wiederum nicht überspannt werden dürfen (vgl. Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Juni 1990 – 2 BvR 674/88 –, NJW 1991, S. 29 und vom 11. April 1991 – 2 BvR 963/90 –, NJW 1991, S. 2074 ≪2075≫).
3. Diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben tragen die angegriffenen Entscheidungen nicht hinreichend Rechnung.
a) Das Amtsgericht hat dem einer Straftat nach § 186 StGB für schuldig erachteten Beschwerdeführer die Berufung auf den Rechtfertigungsgrund des § 193 StGB versagt, weil er für seine schwer wiegenden Tatsachenbehauptungen weder Beweis geführt noch in der Hauptverhandlung darauf hingewiesen hat, dass er für seine Behauptungen keine ausreichenden Beweise habe.
Eine solche Sichtweise lässt nicht nur die in der strafrechtlichen Literatur und Rechtsprechung wohl herrschende Meinung außer Acht, nach der lediglich leichtfertig aufgestellte unwahre Tatsachenbehauptungen ehrenrühriger Art zum Ausschluss des § 193 StGB führen (vgl. Tröndle/Fischer, StGB, 49. Aufl., § 193 Rn. 13; HansOLG Hamburg, MDR 1980, S. 953). Sie verkennt auch die aus dem Grundrecht der Meinungsfreiheit in Verbindung mit dem Anspruch auf ein faires Verfahren folgenden Anforderungen bei der Auslegung des Rechtfertigungsgrundes der Wahrnehmung berechtigter Interessen grundsätzlich, wenn sie die von Verfassungs wegen gebotene Abwägung zwischen dem grund- und strafrechtlichen Ehrenschutz auf der einen und der durch Art. 5 Abs. 1 GG gewährleisteten Meinungsfreiheit auf der anderen Seite unterlässt und dadurch die Verteidigungsmöglichkeiten eines Angeklagten in übermäßiger Weise einschränkt. Ein Angeklagter kann in dem gegen ihn gerichteten Strafverfahren jederzeit Fragen stellen (§ 240 Abs. 2 StPO), Stellungnahmen oder Erklärungen abgeben (§§ 257, 258 StPO), Anträge stellen (vgl. § 244 StPO) und sich so gegen die erhobenen Vorwürfe auf der Tatbestands-, Rechtswidrigkeits- und Schuldebene ebenso wie im Hinblick auf einen möglichen Strafausspruch umfassend verteidigen. Er darf sich dazu auch ehrverletzender Äußerungen bedienen, soweit der innere Zusammenhang gewahrt ist und die Unhaltbarkeit der Äußerung weder auf der Hand liegt noch sich ihre Mitteilung als missbräuchlich darstellt. Ob das auch gilt, wenn die Behauptung der ehrenrührigen Tatsache wider besseres Wissen erfolgt, braucht hier nicht entschieden zu werden; jedenfalls dann, wenn ein Angeklagter sich in gutem Glauben äußert bzw. das Gericht nicht die Überzeugung zu gewinnen vermag, die Tatsachenbehauptung sei wider besseres Wissen erfolgt, kann die Wahrnehmung von Verteidigungsinteressen nicht von der Erfüllung von Ermittlungs- und Darlegungspflichten abhängig gemacht werden. Müsste ein Angeklagter zugleich mit seinem Verteidigungsvorbringen eingestehen, dass ihm hierfür – aus welchem Grund auch immer – keine ausreichenden Beweise zur Verfügung stehen, könnte von einer effektiven Verteidigung, wie sie Voraussetzung für die Durchführung eines fairen rechtsstaatlichen Strafverfahrens ist, nicht die Rede sein.
b) Die Äußerungen des Beschwerdeführers im Rahmen seiner Angaben zur Sache in dem Körperverletzungs- und Beleidigungsverfahren fallen in den Schutzbereich des Grundrechts der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG).
Für sich genommen stellen die Äußerungen des Beschwerdeführers, deretwegen er aus § 186 StGB verurteilt worden ist, zwar zunächst Tatsachenäußerungen dar, die nur begrenzten Schutz durch das Grundrecht der Meinungsfreiheit erfahren können. Der Sinngehalt der Verteidigungsausführungen des Beschwerdeführers erschöpft sich jedoch nicht in einer Schilderung von tatsächlichen Umständen, sondern enthält – vor allem auch in der Zusammenschau – eine Meinung des Beschwerdeführers über die Person der Privatklägerin, die als Werturteil auf die Überzeugungsbildung des Gerichts in dem ursprünglich gegen ihn gerichteten Strafverfahren, etwa im Rahmen der Strafzumessung, Einfluss nehmen sollte. In den Angaben des Beschwerdeführers verbinden sich danach Elemente des Wertens mit Elementen der Tatsachenmitteilung, sodass sie von dem weit zu verstehenden Begriff der Meinung in Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG erfasst sind.
c) Bei der Versagung des Rechtfertigungsgrundes der Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193 StGB) tragen die angegriffenen Entscheidungen der Wertentscheidung des Art. 5 Abs. 1 GG und dem Recht auf ein faires Verfahren nicht hinreichend Rechnung. Zwar hat der Beschwerdeführer schwer wiegende Behauptungen und Meinungen über die Privatklägerin geäußert. Feststellungen dahingehend, dass die Behauptungen aus der Luft gegriffen waren, finden sich in den angegriffenen Entscheidungen jedoch nicht. Die Äußerungen konnten nach Inhalt und Form den Bezug zu dem Körperverletzungs- und Beleidigungsprozess wahren und bei einer Gesamtbetrachtung nicht missbräuchlich, sondern der Rechtsgüterlage angemessen sein. Die Gerichte haben nicht im Einzelnen festgestellt, dass die Äußerung des Beschwerdeführers unverhältnismäßig sei (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 11. April 1991 – 2 BvR 963/90 –, NJW 1991, S. 2074 ≪2076≫).
d) Das Landgericht bestätigt die Verurteilung des Beschwerdeführers, wobei der Angeklagte auch nach seiner Ansicht keine unrichtigen Behauptungen im Strafverfahren aufstellen dürfe, wenn dieses zu einer Ehrverletzung eines Dritten führen könnte. Ebenso wie das Amtsgericht schließt es eine Rechtfertigung gemäß § 193 StGB aus, weil der Beschwerdeführer im Rahmen seiner Verteidigung nicht – wie es erforderlich gewesen wäre – darauf hingewiesen habe, dass ihm keine ausreichenden Beweise zur Verfügung stünden.
Damit leidet die Entscheidung des Landgerichts an denselben verfassungsrechtlichen Mängeln wie das Urteil des Amtsgerichts. Auch das Landgericht bedenkt nicht, dass es mit seiner Auslegung des § 193 StGB die Verteidigungsmöglichkeiten eines Angeklagten in einer mit den Grundsätzen des fairen Verfahrens nicht mehr zu vereinbarenden Weise einschränkt. Dabei geht es im Ergebnis noch einen Schritt weiter als das Amtsgericht, dem die Einlassung des Beschwerdeführers noch nicht bekannt war, er habe Kenntnis von den ehrenrührigen Tatsachen von der Privatklägerin selbst bzw. durch eigene Wahrnehmungen erlangt. Wenn das Landgericht dieses Vorbringen für unbeachtlich hält, weil dadurch die Äußerungen nicht erweislich wahr würden, verkennt es nicht nur, dass auch die Angaben eines Angeklagten in einem Strafverfahren – wenn auch nicht als förmliches Beweismittel, so jedenfalls doch als materielle Erkenntnisquelle – zur Wahrheitsfindung beitragen können und deshalb das Gericht auf dem Weg zu einer Entscheidung gehalten ist, diese in seine Entscheidungsfindung einzubeziehen und sie im Zusammenhang mit dem übrigen Beweisergebnis auch auf ihre Glaubhaftigkeit zu untersuchen.
Dass dies geschehen sei, lässt die Entscheidung des Landgerichts nicht erkennen. Die Ansicht des Landgerichts dehnt darüber hinaus die vom Amtsgericht festgestellte Erkundigungs- und Beweismittelbeschaffungspflicht weiter aus, wenn sie eigene Wahrnehmungen oder Mitteilungen von Personen über sie betreffende Umstände nicht genügen lässt, sondern weiter gehende Nachforschungen verlangt. Dies schränkt die Äußerungsmöglichkeiten eines Angeklagten, der sich unwiderlegt auf eigene Wahrnehmungen und andere für ihn zuverlässige Quellen stützen kann, übermäßig ein, Tatsachen zu seiner Verteidigung vorzubringen, und wird damit dem Grundsatz des fairen Verfahrens und dem Recht auf eine effektive Verteidigung nicht gerecht.
e) Die angegriffenen Entscheidungen, die auf dem aufgezeigten Verfassungsverstoß beruhen, sind aufzuheben, die Sache ist an das Amtsgericht zurückzuverweisen.
4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Limbach, Hassemer, Di Fabio
Fundstellen
Haufe-Index 565310 |
NJW 2000, 3196 |
MittRKKöln 2000, 322 |
NPA 2000 |
StV 2000, 416 |
JAR 2001, 30 |