Verfahrensgang

OLG Nürnberg (Beschluss vom 08.04.2003; Aktenzeichen Ws 1336/02)

 

Tenor

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

 

Gründe

1. Der Beschwerdeführer befindet sich nach Verbüßung einer Freiheitsstrafe im Vollzug der – erstmals gegen ihn angeordneten – Sicherungsverwahrung. Am 30. April 2002 waren zehn Jahre der Sicherungsverwahrung vollzogen.

Am 31. Januar 1998 trat das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 in Kraft (BGBl I S. 160 ff.). Hierdurch strich der Gesetzgeber ersatzlos die in § 67d Abs. 1 und 3 StGB a.F. nach einer Höchstfrist von zehn Jahren vorgesehene zwingende Erledigung der erstmalig angeordneten Sicherungsverwahrung; zum intertemporalen Recht fügte er die Vorschrift des Art. 1a Abs. 3 EGStGB ein, die eine uneingeschränkte Anwendung der Neuregelung auf alle angeordneten und noch nicht erledigten Fälle der Sicherungsverwahrung vorschreibt. Auf der Grundlage dieser Neuregelung lehnten es Strafvollstreckungskammer und – im Beschwerdeverfahren – Oberlandesgericht ab, den Beschwerdeführer aus der Sicherungsverwahrung zu entlassen, da noch die Gefahr bestehe, dass er infolge seines Hanges erhebliche Straftaten begehen werde, durch welche die Opfer seelisch und körperlich schwer geschädigt würden.

Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen die Entscheidungen, mit denen seine Entlassung aus der Sicherungsverwahrung nach Ablauf von zehn Jahren abgelehnt worden ist. Er hält die gesetzliche Regelung, auf die die Gerichte diese Entscheidungen gestützt haben, für verfassungswidrig. Zugleich begehrt er im Wege der einstweiligen Anordnung seine Entlassung aus dem Maßregelvollzug.

2. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig, aber nicht begründet.

a) Nach § 32 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Auch in einem Verfahren über eine Verfassungsbeschwerde kann eine einstweilige Anordnung erlassen werden (vgl. BVerfGE 66, 39 ≪56≫; stRspr). Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben. Etwas anderes gilt nur, wenn sich die Verfassungsbeschwerde von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet erweist. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerde-Verfahrens muss das Bundesverfassungsgericht dagegen die Folgen abwägen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 87, 334 ≪338≫; 89, 109 ≪110 f.≫; stRspr).

b) Nach dem Vorbringen des Beschwerdeführers stellt sich die verfassungsrechtlich noch nicht geklärte Frage der Geltung des Rückwirkungsverbots des Art. 103 Abs. 2 GG für Maßregeln der Besserung und Sicherung und damit der Reichweite des Vertrauensschutzes von in der Sicherungsverwahrung Untergebrachten, deren Entlassung aus der Sicherungsverwahrung nach Ablauf von zehn Jahren nunmehr von einer positiven Kriminalprognose abhängt.

Da die Verfassungsbeschwerde nicht von vornherein unzulässig ist, ist eine Folgenabwägung durchzuführen. Diese führt zur Unbegründetheit des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Ergeht die einstweilige Anordnung nicht, erweist sich später die Verfassungsbeschwerde jedoch als begründet, so kann die Maßregel in der Zwischenzeit vollstreckt werden. Dabei handelt es sich zwar um einen erheblichen, grundsätzlich nicht wieder gutzumachenden Eingriff in das Recht auf Freiheit der Person (vgl. BVerfGE 15, 223 ≪226≫; 18, 146 ≪147≫; 22, 178 ≪180≫; 84, 341 ≪344≫). Ergeht die einstweilige Anordnung, wird die Verfassungsbeschwerde aber später als unbegründet zurückgewiesen, so wiegen die damit verbundenen Nachteile hier jedoch schwerer. Nach den verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Ausführungen im fachgerichtlichen Verfahren besteht beim Beschwerdeführer noch die Gefahr, dass er infolge seines Hanges erhebliche Straftaten – insbesondere Vergewaltigungen – begehen werde. Im Hinblick auf diese konkrete Gefahr wäre mit dem Erlass einer einstweiligen Anordnung ein erheblicher Nachteil für das Wohl der Allgemeinheit zu besorgen, der im Streitfall das Interesse des Beschwerdeführers überwiegt (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Dezember 1998 – 2 BvR 2033/98 –, NStZ 1999, S. 156 f.; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Dezember 2001 – 2 BvR 1768/01 –; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Oktober 2002 – 2 BvR 664/02 –).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Unterschriften

Hassemer, Osterloh, Mellinghoff

 

Fundstellen

Haufe-Index 952228

www.judicialis.de 2003

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