Verfahrensgang
OLG Hamburg (Beschluss vom 06.10.2009; Aktenzeichen Ausl 20/09) |
OLG Hamburg (Beschluss vom 14.09.2009; Aktenzeichen Ausl 20/09) |
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Damit erledigt sich zugleich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Tatbestand
Die mit einem Antrag auf einstweilige Anordnung verbundene Verfassungsbeschwerde betrifft die Auslieferung des Beschwerdeführers nach Polen zum Zweck der Strafvollstreckung.
I.
Der Beschwerdeführer, ein polnischer Staatsangehöriger, lebt seit November 2001 in Deutschland und ist mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet. Die Republik Polen ersucht auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls um Auslieferung des Beschwerdeführers. Er ist durch Urteil des Bezirksgerichts Gdansk vom 16. Februar 1998 wegen Vergewaltigung, gemeinschaftlichen Diebstahls und Anstiftung zur Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt worden, von denen noch zwei Jahre und zwei Monate zu verbüßen sind.
1. Nachdem der Beschwerdeführer in Deutschland in Auslieferungshaft genommen wurde, ordnete das Hanseatische Oberlandesgericht mit Beschluss vom 5. August 2009 zunächst deren Fortdauer an. Die gegen die Zulässigkeit der Auslieferung erhobenen Einwendungen stünden der Fortdauer der Auslieferungshaft nicht entgegen. Eine abschließende Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung sei jedoch noch nicht möglich, weil zur Prüfung der Frage, ob der Beschwerdeführer Deutscher im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG sei, erst weitere Bescheinigungen, insbesondere der Registrierschein der Mutter des Beschwerdeführers nach § 15 BVFG, eingesehen werden müssten.
a) Soweit der Beschwerdeführer geltend mache, dass seine Auslieferung nach § 80 Abs. 3 IRG unzulässig sei, weil er Deutscher sei und der Auslieferung nicht zugestimmt habe, greife dieser Einwand nach den bisher vorliegenden Informationen nicht durch. Der Beschwerdeführer besitze ausschließlich die polnische, nicht aber die deutsche Staatsangehörigkeit.
Nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand sei der Beschwerdeführer insbesondere nicht Deutscher im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG. Zwar besäßen nach dieser Vorschrift die Ehegatten und Abkömmlinge vertriebener deutscher Volkszugehöriger die gleiche Rechtsstellung wie die Vertriebenen selbst. Deutscher sei der Ehegatte oder Abkömmling aber nur, wenn er als Ehegatte beziehungsweise Abkömmling des Vertriebenen in Deutschland Aufnahme gefunden habe (BVerfGE 2, 98 ≪100 f.≫). Wegen dieses Zusammenhangs müssten Ehegatten und Abkömmlinge grundsätzlich mit den Volksdeutschen geflohen oder vertrieben und aufgenommen worden sein, zumindest sei ein zeitlicher oder sachlicher Zusammenhang erforderlich (BVerwGE 90, 173 ≪176 f.≫). Gleichgestellt werde dabei eine spätere Übersiedlung aus Gründen der familiären Einheit (BVerwGE 90, 173 ≪177≫). Das sei vorliegend indes nicht der Fall.
Die Übersiedlung des Beschwerdeführers nach Deutschland sei nicht zum Zweck der Zusammenführung mit seiner Mutter und seinen Brüdern, sondern zum Zweck der Heirat erfolgt. Der Beschwerdeführer sei insbesondere nicht durch äußere Umstände daran gehindert gewesen, mit seinen Familienangehörigen in die Bundesrepublik Deutschland zu reisen, um dort Aufnahme zu finden. Im Jahre 1990, als seine Mutter mit seinen Brüdern nach Deutschland übergesiedelt sei, habe er seinen Wehrdienst bereits abgeleistet gehabt. Er habe danach mehrere Jahre auf verschiedenen Arbeitsplätzen in Polen gearbeitet und sei erst im November 2001 in die Bundesrepublik Deutschland übersiedelt, wo er noch im selben Monat seine jetzige Ehefrau geheiratet habe.
b) Soweit der Beschwerdeführer der Ansicht sei, im Rahmen von § 83b Abs. 2 Satz 1 Buchstabe b) IRG komme es in diesem Fall nicht darauf an, ob überwiegende schutzwürdige Interessen des Beschwerdeführers gegen die Auslieferung sprächen, weil der Beschwerdeführer Unionsbürger sei und sich auf den Schutz gegen Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit berufen könne, teile der Senat diese Ansicht nicht. Die vom Beschwerdeführer für unzulässig erachtete Privilegierung eigener Staatsangehöriger durch den deutschen Gesetzgeber finde ihre eindeutige Grundlage in Art. 4 Nr. 6 RbEuHb und stimme mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts überein (BVerfGE 113, 273 ≪298 f.≫).
c) Soweit der Beschwerdeführer – hilfsweise – rüge, die Justizbehörde Hamburg habe als Bewilligungsbehörde zu Unrecht festgestellt, dass keine überwiegenden Interessen an der Strafverfolgung im Inland bestünden, stehe dieser Einwand der Zulässigkeit der Auslieferung ebenfalls nicht entgegen. Es sei nicht Aufgabe des Senats, eine eigene Abwägung der Interessen vorzunehmen. Vielmehr dürfe er die Entscheidung der Bewilligungsbehörde nur darauf überprüfen, ob dieser ein Ermessensfehler unterlaufen sei. Dies sei vorliegend nicht der Fall.
Zwar sei im Rahmen der Prüfung der schutzwürdigen Interessen nach § 83b Abs. 2 Satz 1 Buchstabe b) IRG maßgeblich zu berücksichtigen, ob die Resozialisierungschancen des Verfolgten erhöht würden. Dies habe die Bewilligungsbehörde auch ausdrücklich gemacht, die betreffende Frage aber verneint. Sie habe nicht nur die Dauer des ständigen Aufenthalts des Beschwerdeführers in der Bundesrepublik Deutschland mitberücksichtigt, sondern auch in ihre Erwägungen mit eingestellt, dass der Beschwerdeführer hier verheiratet sei und in Hamburg über einen Arbeitsplatz als Gummiarbeiter verfüge. Die Bedeutung dieser Gesichtspunkte habe die Bewilligungsbehörde in zulässiger Weise relativiert.
2. Mit dem angegriffenen Beschluss vom 14. September 2009 erklärte das Hanseatische Oberlandesgericht die Auslieferung des Beschwerdeführers für zulässig. Es verwies dabei im Wesentlichen auf seine Ausführungen in seinem Beschluss vom 5. August 2009. Nach Vorlage weiterer Bescheinigungen führte es ergänzend aus, dass der Beschwerdeführer die deutsche Staatsangehörigkeit auch nicht nach § 40a Satz 2 StAG als Spätaussiedler oder als Abkömmling einer Spätaussiedlerin im Sinne des § 4 BVFG erworben habe.
Darüber hinaus lehnte es das Hanseatische Oberlandesgericht mangels Klärungsbedarfs ab, dem Europäischen Gerichtshof die Frage vorzulegen, ob ein Unionsbürger wie der Beschwerdeführer, der seit acht Jahren in Deutschland lebe und dort sozialversicherungspflichtig arbeite, in rahmenbeschlusskonformer Auslegung von Art. 4 Nr. 6 RbEuHb einem deutschen Staatsangehörigen gleichzustellen sei, wenn das deutsche Recht eine unterschiedliche Behandlung vorsehe, im Rahmen einer Abwägung aber die Gleichstellung zulasse.
Der Europäische Gerichtshof weise in seinem Urteil vom 17. Juli 2008 darauf hin, dass mit dem fakultativen Ablehnungsgrund in Art. 4 Nr. 6 RbEuHb die vollstreckende Justizbehörde in die Lage versetzt werden solle, der Frage besondere Bedeutung beizumessen, ob die Resozialisierungschancen der gesuchten Person nach Verbüßung der gegen sie verhängten Freiheitsstrafe erhöht werden könnten (Rs. C-66/08, Kozlowski, EuZW 2008, S. 581, Rn. 45). Dies bedeute, dass im Rahmen der Prüfung nach § 83b Abs. 2 Satz 1 Buchstabe b) IRG, ob das schutzwürdige Interesse des Verfolgten an der Strafvollstreckung im Inland überwiege, maßgeblich mit zu berücksichtigen sei, ob die Resozialisierungschancen des Verfolgten durch eine Inlandsvollstreckung erhöht würden (vgl. auch OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16. Dezember 2008 – 1 AK 51/07 –, NStZ-RR 2009, S. 107). Es sei aber nicht Sache des Europäischen Gerichtshofs, die im Rahmen der Prüfung nach § 83b Abs. 2 Satz 1 Buchstabe b) IRG vorzunehmende Abwägung selbst vorzunehmen oder in dem Sinne vorzugeben, dass unter bestimmten Umständen ein nichtdeutscher Verfolgter einem deutschen gleichzustellen sei.
Schließlich bekräftigte das Hanseatische Oberlandesgericht, dass es nicht seine Aufgabe sei, eine eigene Abwägung der Interessen vorzunehmen. Die Entscheidung der Bewilligungsbehörde, ob im Sinne des § 83b Abs. 2 Satz 1 Buchstabe b) IRG das schutzwürdige Interesse des Verfolgten an der Strafvollstreckung im Inland überwiege, sei vom Senat nicht, wie der Beschwerdeführer meine, vollumfänglich zu prüfen. Es handele sich bei § 83b Abs. 2 Satz 1 Buchstabe b) IRG um eine sogenannte Koppelungsvorschrift, bei welcher der Begriff des überwiegenden schutzwürdigen Interesses auf der Tatbestandsseite mit der Ermessensregelung auf der Rechtsfolgenseite gekoppelt sei. Da für die Ausfüllung des genannten Begriffs auf der Tatbestandsseite dieselben Kriterien wie für die Beurteilung der Ermessensentscheidung auf der Rechtsfolgenseite maßgeblich seien, sei die Regelung – abgesehen von möglichen Unterschieden in der dogmatischen Begründung – im Ergebnis als eine einheitliche Ermächtigung zur Ermessensausübung anzusehen, in die der unbestimmte Begriff des überwiegenden schutzwürdigen Interesses hineinrage und damit maßgeblich Inhalt und Grenzen der Ermessensausübung bestimme (vgl. unter anderem Beschluss des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 – Gms-OGB 3/70 –, NJW 1972, S. 1411; Böhm, Die Kozlowski-Entscheidung des EuGH und ihre Auswirkung auf das deutsche Auslieferungsrecht – Kein „Strafvollstreckungstourismus” innerhalb Europas, NJW 2008, S. 3183 ≪3185≫).
3. Der Beschwerdeführer erhob Anhörungsrüge und Gegenvorstellung. Das Hanseatische Oberlandesgericht ordnete daraufhin zunächst mit Beschluss vom 30. September 2009 den Aufschub der Auslieferung an.
Mit dem ebenfalls angegriffenen Beschluss vom 6. Oktober 2009 wies das Hanseatische Oberlandesgericht die Anhörungsrüge und die Gegenvorstellung zurück. Den für eine Deutscheneigenschaft des Beschwerdeführers erforderlichen Kausalzusammenhang zwischen der Eigenschaft des Beschwerdeführers als Abkömmling einer aufgenommenen vertriebenen Volksdeutschen und seiner eigenen Aufnahme sehe der Senat weiterhin nicht. Der Senat halte hiernach zur Feststellung des subjektiven Motivs des Beschwerdeführers für die Übersiedelung nach Deutschland weder weitere Aufklärungsmaßnahmen für notwendig noch verspreche er sich einen Aufklärungsgewinn von der vom Beschwerdeführer beantragten Beweiserhebung.
Entscheidungsgründe
II.
Der Beschwerdeführer sieht sich durch den Beschluss vom 14. September 2009 in seinen Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten aus Art. 16 Abs. 2, Art. 19 Abs. 4, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 und Art. 103 Abs. 1 GG und durch den Beschluss vom 6. Oktober 2009 in seinen Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten aus Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.
a) Der Schutzbereich von Art. 16 Abs. 2 GG sei eröffnet, weil er Deutscher im Sinne von Art. 116 GG sei. Bei einer Auslieferung müsse zweifelsfrei geklärt sein, dass der Verfolgte Nichtdeutscher sei (BVerfGE 17, 224 ≪227≫). Dies sei vorliegend nicht der Fall. Das Hanseatische Oberlandesgericht räume selbst ein, dass die Zweifel an der Kausalität der Aufnahme in Deutschland mit der Eigenschaft als Abkömmling einer Statusdeutschen, seiner Mutter, nicht ausgeräumt worden seien. Es hätte deshalb die Ausländerakten beiziehen müssen.
b) Die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG sei verletzt, weil das Hanseatische Oberlandesgericht die Vorab-Bewilligung der Justizbehörde Hamburg in beiden angegriffenen Beschlüssen nur auf Ermessensfehler überprüft und die vollständige Überprüfung des unbestimmten Rechtsbegriffs „überwiegende schutzwürdige Interessen an der Vollstreckung im Inland” nach § 79 Abs. 2 Satz 3 IRG verweigert habe. Die individuellen Belange des Verfolgten sollten nach dem Willen des Bundesverfassungsgerichts und des Gesetzgebers in Erfüllung der Pflicht aus Art. 19 Abs. 4 GG im Verfahren vor dem Oberlandesgericht vollständig und umfassend überprüft werden können (vgl. BVerfGE 113, 273; BTDrucks 16/1024, S. 12).
c) Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG sei im Wesentlichen dadurch verletzt, dass das Hanseatische Oberlandesgericht dem Europäischen Gerichtshof trotz einer nach Art. 35 EUV in Verbindung mit § 1 Abs. 2 EuGH-Gesetz bestehenden Vorlagepflicht nicht die entscheidungserhebliche Frage vorgelegt habe, ob bei Unionsbürgern in rahmenbeschlusskonformer Auslegung von § 83b Abs. 2 Satz 1 Buchstabe b) IRG die Auslieferung zur Strafvollstreckung zwingend abzulehnen sei, wenn diese Bürger ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hätten. Der Beschwerdeführer verweist insoweit auf den Vorlagebeschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 14. Februar 2008 (– 3 Ausl 69/07 –, juris), in dem genau diese Frage für klärungsbedürftig gehalten wurde, sowie die Schlussanträge des Generalanwalts Bot in der Rs. C-123/08 (Schlussanträge vom 24. März 2009, Wolzenburg, noch nicht in der amtlichen Sammlung).
d) Im Hinblick auf die gerügte Gehörsverletzung führt der Beschwerdeführer aus, dass das Hanseatische Oberlandesgericht den Beschwerdeführer, seine Mutter und seine Ehefrau für die Frage der Kausalität seiner Einreise nach Deutschland und der Aufnahme als Abkömmling einer Vertriebenen hätte persönlich anhören müssen. Das Verfahrensrecht sehe vor, dass das Gericht die Beweisaufnahme zur Erforschung der Wahrheit von Amts wegen auf alle entscheidungserheblichen Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken habe (§ 77 Abs. 1 IRG, § 244 Abs. 2 StPO).
III.
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Annahmegründe nach § 93a Abs. 2 BVerfGG sind nicht vorhanden. Weder hat die Verfassungsbeschwerde grundsätzliche Bedeutung noch ist ihre Annahme – mangels hinreichender Aussicht auf Erfolg – zur Durchsetzung der als verletzt gerügten Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte angezeigt (vgl. BVerfGE 90, 22 ≪25 f.≫). Denn die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet.
1. Der angegriffene Beschluss des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 14. September 2009 verletzt den Beschwerdeführer nicht in seinem Grundrecht aus Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG.
a) Zwar ist das Oberlandesgericht in einem Auslieferungsverfahren im Hinblick auf das Grundrecht aus Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG verpflichtet, den Sachverhalt so weit aufzuklären, dass die Eigenschaft des Auszuliefernden als Nichtdeutscher eindeutig feststeht (vgl. BVerfGE 8, 81 ≪84≫; 15, 249 ≪253≫; 17, 224 ≪227≫; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Juni 1990 – 2 BvR 116/90 –, NJW 1990, S. 2193).
b) Der angegriffene Beschluss vom 14. September 2009 genügt diesen Anforderungen jedoch. Das Hanseatische Oberlandesgericht hat den möglichen Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch den Beschwerdeführer unter allen möglichen Gesichtspunkten geprüft und seine Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung mit Rücksicht auf die Frage, ob der Beschwerdeführer die deutsche Staatsangehörigkeit nach § 40a Satz 2 StAG erworben hat, zunächst zurückgestellt und sich weitere Bescheinigungen vorlegen lassen. Es hat zudem nach Würdigung der umfassenden Äußerungen des Beschwerdeführers und des gesamten Verfahrenslaufs die Überzeugung gewonnen, dass der Beschwerdeführer kein Deutscher im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG ist, weil seine Übersiedelung nach Deutschland im November 2001 nicht zum Zweck der Familienzusammenführung erfolgt ist. Ob und inwieweit die von dem Beschwerdeführer beantragte Beiziehung der Ausländerakten diese Überzeugung erschüttern könnte, wird von ihm nicht vorgetragen und ist auch sonst nicht ersichtlich.
2. Die angegriffenen Beschlüsse des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 14. September 2009 und 6. Oktober 2009 lassen ferner keine grundsätzliche Verkennung der Bedeutung und Tragweite von Art. 19 Abs. 4 GG erkennen. Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass das Oberlandesgericht den unbestimmten Rechtsbegriff der schutzwürdigen Interessen des Verfolgten nicht vollumfänglich geprüft hat.
a) Art. 19 Abs. 4 GG enthält ein Grundrecht auf effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt (vgl. BVerfGE 67, 43 ≪58≫; 96, 27 ≪39≫; 104, 220 ≪231≫; 113, 273 ≪310≫; stRspr). Zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes gehört, dass dem Richter eine hinreichende Prüfungsbefugnis hinsichtlich der tatsächlichen und rechtlichen Seite eines Streitfalls zukommt, damit er einer Rechtsverletzung abhelfen kann. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes schließt allerdings nicht aus, dass je nach Art der zu prüfenden Maßnahme wegen der Einräumung von Gestaltungs-, Ermessens- und Beurteilungsspielräumen eine unterschiedliche Kontrolldichte zustande kommt (vgl. BVerfGE 61, 82 ≪111≫; 84, 34 ≪53 ff.≫).
b) Den sich aus diesem Maßstab ergebenden verfassungsrechtlichen Anforderungen werden die angegriffenen Beschlüsse gerecht. Dabei ist zu beachten, dass ihnen die Auslegung und Anwendung von § 83b Abs. 2 Satz 1 Buchstabe b) IRG, mithin einfachen Rechts, zugrunde liegt. Die Auslegung einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind der Nachprüfung des Bundesverfassungsgerichts so lange entzogen, als nicht Fehler sichtbar werden, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des Gebots des effektiven Rechtsschutzes beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind (vgl. BVerfGE 18, 85 ≪92 f.≫).
Anhaltspunkte für solche Fehler liegen nicht vor. Das Oberlandesgericht ist vertretbar davon ausgegangen, dass § 83b Abs. 2 Satz 1 Buchstabe b) IRG im Ergebnis als eine einheitliche Ermächtigung zur Ermessensausübung anzusehen ist, in die der unbestimmte Begriff des überwiegenden schutzwürdigen Interesses hineinragt und damit maßgeblich Inhalt und Grenzen der Ermessensausübung bestimmt. Es hat sich dabei maßgeblich auf einen § 83b Abs. 2 Satz 1 Buchstabe b) IRG betreffenden Beitrag im Schrifttum gestützt, der vor dem Hintergrund des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 17. Juli 2008 argumentiert, dass die Annahme eines überwiegenden schutzwürdigen Interesses des Verfolgten keinen Raum für eine Ermessensabwägung ermögliche (Böhm, a.a.O., S. 3185). Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil über den Europäischen Haftbefehl zudem keine Aussagen über den Umfang der nach Art. 19 Abs. 4 GG erforderlichen gerichtlichen Überprüfung getroffen, sondern nur festgelegt, dass die Abwägungsentscheidung im Rahmen der Bewilligung überhaupt gerichtlich überprüft werden müsse (vgl. BVerfGE 113, 273 ≪314≫).
3. Der angegriffene Beschluss vom 14. September 2009 entzieht den Beschwerdeführer auch nicht entgegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG seinem gesetzlichen Richter.
a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der Europäische Gerichtshof gesetzlicher Richter im Sinne von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Unterlässt es ein deutsches Gericht, ein Vorabentscheidungsverfahren an den Europäischen Gerichtshof zu stellen, obwohl es dazu verpflichtet ist, werden die Rechtsschutzsuchenden des Ausgangsverfahrens ihrem gesetzlichen Richter entzogen (BVerfGE 73, 339 ≪366 ff.≫; 75, 223 ≪233 ff.≫; 82, 159 ≪192 ff.≫). Dabei macht es keinen Unterschied, ob die Vorlagepflicht an den Europäischen Gerichtshof sich unmittelbar aus dem Gemeinschafts- oder Unionsrecht ergibt (Art. 234 Abs. 3 EGV) oder sie innerstaatlich niedergelegt wurde (Art. 35 EUV i.V.m. § 1 Abs. 2 EuGH-Gesetz; vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 13. August 2009 – 2 BvR 471/09 –, juris, Rn. 16). Allerdings stellt nicht jede Verletzung der Vorlagepflicht an den Europäischen Gerichtshof einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar. Das Bundesverfassungsgericht beanstandet die Auslegung und Anwendung von Zuständigkeitsnormen nur, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen oder offensichtlich unhaltbar sind (vgl. BVerfGE 82, 159 ≪194≫). So behält der Fachrichter bei der Auslegung und Anwendung von Gemeinschafts- und Unionsrecht einen Spielraum eigener Einschätzung und Beurteilung, der demjenigen bei der Handhabung einfachrechtlicher Bestimmungen der deutschen Rechtsordnung entspricht. Das Bundesverfassungsgericht, das nur über die Einhaltung der Grenzen dieses Spielraums wacht, wird seinerseits nicht zum „obersten Vorlagenkontrollgericht” (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 9. November 1987 – 2 BvR 808/82 –, NJW 1988, S. 1456 ≪1457≫).
Im Rahmen dieser Willkürkontrolle haben sich in der Rechtsprechung Fallgruppen herausgebildet, in denen die Vorlagepflichtverletzung zu einer Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter führt. Die Vorlagepflicht nach Art. 234 EGV beziehungsweise Art. 35 EUV in Verbindung mit § 1 Abs. 2 EuGH-Gesetz wird danach insbesondere in den Fällen unhaltbar gehandhabt, in denen das letztinstanzliche Hauptsachegericht in seiner Entscheidung bewusst von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht und gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vorlegt (Fallgruppe des bewussten Abweichens ohne Vorlagebereitschaft). Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschafts- und Unionsrechts einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs noch nicht vor oder hat eine vorliegende Rechtsprechung die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht nur als entfernte Möglichkeit, wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nur dann verletzt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat (Fallgruppe der Unvollständigkeit der Rechtsprechung). Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschafts- und Unionsrechts gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen sind (vgl. BVerfGE 82, 159 ≪194 ff.≫).
In diesem Zusammenhang ist auch zu prüfen, ob sich das Gericht hinsichtlich des europäischen Rechts ausreichend kundig gemacht hat (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 9. Januar 2001 – 1 BvR 1036/99 –, NJW 2001, S. 1267 ≪1268≫). Zudem hat das Gericht die Gründe anzugeben, die dem Bundesverfassungsgericht eine Kontrolle am Maßstab des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ermöglichen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 6. Dezember 2006 – 1 BvR 2085/03 –, NVwZ 2007, S. 197 ≪198≫).
b) Gemessen an diesem Maßstab verstößt der angegriffene Beschluss vom 14. September 2009 nicht gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.
Das Hanseatische Oberlandesgericht ist nicht bewusst von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes abgewichen. Im Zeitpunkt des Erlasses dieses Beschlusses lag keine Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu der Frage vor, ob eine nationale Vorschrift wie § 83b Abs. 2 Satz 1 Buchstabe b) IRG gemeinschafts- und unionsrechtskonform so auszulegen ist, dass die Auslieferung eines Unionsbürgers zur Strafvollstreckung abgelehnt werden muss, wenn dieser seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat.
Die dahingehende Vorlagefrage des Oberlandesgerichts Stuttgart (Beschluss vom 14. Februar 2008, a.a.O., Rn. 54 ff.) wurde vom Europäischen Gerichtshof in seinem Urteil vom 17. Juli 2008 mangels Entscheidungserheblichkeit nicht beantwortet (a.a.O., Rn. 56). Der Beschwerdeführer weist zwar zutreffend darauf hin, dass Generalanwalt Bot in seinen Schlussanträgen vom 24. März 2009 angenommen hat, dass Art. 12 EGV einer nationalen Regelung entgegenstehen könne, die vorsehe, dass die Übergabe eigener Staatsangehöriger in Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abzulehnen sei, während die Übergabe von Angehörigen anderer Mitgliedstaaten nur abgelehnt werden könne, wenn sie im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung seien (a.a.O., Rn. 159). Die Schlussanträge der Generalanwälte des Europäischen Gerichtshofs stellen jedoch lediglich unverbindliche, den Europäischen Gerichtshof bei der Erfüllung seiner Aufgabe nach Art. 220 EGV unterstützende Rechtsgutachten dar (vgl. etwa Karpenstein/Langner, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/EGV, Bd. III, Art. 222 EGV, Rn. 12 ff. ≪August 2003≫).
Das Hanseatische Oberlandesgericht hätte auch nicht wegen Unvollständigkeit der Rechtsprechung eine Vorabentscheidung herbeiführen müssen. Es hat sich hinsichtlich des europäischen Rechts ausreichend kundig gemacht und seine Gründe angegeben. Unter Verweis auf den Beschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 16. Dezember 2008 (a.a.O.) hat das Oberlandesgericht das Urteil vom 17. Juli 2008 des Europäischen Gerichtshofs (a.a.O., Rn. 45) in vertretbarer Weise dahingehend ausgelegt, dass im Rahmen der Prüfung nach § 83b Abs. 2 Satz 1 Buchstabe b) IRG, ob das schutzwürdige Interesse des Verfolgten an der Strafvollstreckung im Inland überwiege, maßgeblich zu berücksichtigen sei, ob die Resozialisierungschancen des Verfolgten durch eine Inlandsvollstreckung erhöht würden. Dabei hat es – ebenfalls in vertretbarer Weise – angenommen, dass neben der Resozialisierung weitere persönliche Umstände in die anzustellende Ermessensausübung einfließen könnten.
In der rechtswissenschaftlichen Literatur ist die Frage der Vereinbarkeit des § 83b Abs. 2 Satz 1 Buchstabe b) IRG mit Art. 12, Art. 17 ff. EGV wenig diskutiert worden. Es wird vertreten, dass das in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in den Vordergrund gerückte Kriterium der Resozialisierung auch ohne Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot eine unterschiedliche Behandlung von eigenen Staatsangehörigen und Unionsbürgern durch den nationalen Gesetzgeber rechtfertigen könne (so Böhm, a.a.O., S. 3184; Inhofer, in: Graf/Volk, Beck'scher Onlinekommentar, § 83b IRG, Rn. 3 ≪15. Juni 2009≫; vgl. in diesem Sinne inzwischen auch ausdrücklich EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2009, Rs. C-123/08, Wolzenburg, juris, Rn. 67 ff.). Die von dem Oberlandesgericht Stuttgart und Generalanwalt Bot vertretene Gegenauffassung erscheint ebenfalls vertretbar, ist der Ansicht des Hanseatischen Oberlandesgerichts aber nicht eindeutig vorzuziehen.
4. Schließlich verletzen die angegriffenen Beschlüsse des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 14. September 2009 und vom 6. Oktober 2009 nicht den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör. Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass das Oberlandesgericht weder den Beschwerdeführer selbst noch seine Ehefrau und Mutter zur Frage der Kausalität seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland und der Aufnahme als Abkömmling einer Vertriebenen persönlich angehört hat.
a) Dem Anspruch auf rechtliches Gehör entspricht die Pflicht des Gerichts, Anträge und Ausführungen der Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen (vgl. BVerfGE 18, 380 ≪383≫). Aus Art. 103 Abs. 1 GG ergibt sich jedoch grundsätzlich kein Anspruch auf persönliche Anhörung. Es ist Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, in welcher Weise das rechtliche Gehör gewährt werden soll (vgl. BVerfGE 60, 175 ≪210 f.≫ m.w.N.). Soweit das Gesetz keine verbindliche Entscheidung trifft, liegt die Form der Anhörung grundsätzlich im Ermessen des Gerichts (vgl. BVerfGE 89, 381 ≪391≫; stRspr).
b) Ob eine analoge Anwendung des § 78, § 77 Abs. 1 IRG in Verbindung mit § 244 Abs. 2 StPO für das Verfahren der Auslieferung an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union geboten sein könnte, muss vorliegend nicht entschieden werden. Denn die Verletzung verfahrensrechtlicher Vorschriften verstößt nicht schon als solche gegen Art. 103 Abs. 1 GG, es sei denn, das Gericht hat bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften die Bedeutung und Tragweite des Anspruchs auf rechtliches Gehör verkannt (vgl. BVerfGE 18, 85 ≪92 f., 96≫; 74, 228 ≪233≫). Anhaltspunkte für eine solche Verkennung sind jedoch nicht gegeben. Der Beschwerdeführer war nicht gehindert, sich vor Erlass der angegriffenen Beschlüsse umfassend schriftlich zu äußern. Soweit das Hanseatische Oberlandesgericht die persönliche Vernehmung des Beschwerdeführers sowie seiner Ehefrau und Mutter nach eingehender Würdigung der schriftlichen Äußerungen des Beschwerdeführers und des gesamten Verfahrensablaufs mit der Begründung abgelehnt hat, dass davon kein weiterer Aufklärungsgewinn zu erwarten sei, stellt dies eine verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende Auslegung des einfachen Rechts dar.
5. Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Broß, Di Fabio, Landau
Fundstellen