Verfahrensgang
LAG Köln (Urteil vom 06.05.2009; Aktenzeichen 9 Sa 1/09) |
ArbG Köln (Urteil vom 20.08.2008; Aktenzeichen 3 Ca 4640/07) |
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Höhe einer unverfallbaren Anwartschaft auf betriebliche Altersversorgung.
I.
Der Beschwerdeführer wurde im Juli 1952 geboren. Zwischen ihm und seiner Arbeitgeberin bestand vom 1. November 1982 bis zum 31. Dezember 2007 ein Arbeitsverhältnis. Dafür galt die Versorgungsordnung vom 1. Januar 1979. Sie lautet auszugsweise:
… |
§ 1 Art der Firmenrenten |
Nach Aufnahme in das Versorgungswerk und nach Erfüllung der jeweiligen Anspruchsvoraussetzungen werden als Versorgungsleistungen gewährt: |
a) |
Altersrenten an Betriebsangehörige, die nach Erreichen der Altersgrenze in den Ruhestand treten. |
… |
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§ 4 Altersrenten |
(1) |
Altersrente wird den Mitarbeitern gewährt, die die Altersgrenze erreicht haben und aus den Diensten des Unternehmens ausgeschieden sind. Altersgrenze ist bei Männern und Frauen das vollendete 65. Lebensjahr. |
(2) |
Mitarbeiter, die vor Erreichen der Altersgrenze und durch Vorlage des Rentenbescheides eines Sozialversicherungsträgers nachweisen, daß sie Altersruhegeld aus der gesetzlichen Rentenversicherung … beziehen, haben Anspruch auf vorgezogene Altersrente. … |
§ 6 Höhe der Firmenrente |
(1) |
Als Altersrente, vorgezogene Altersrente … erhält der Mitarbeiter … |
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für die ersten 10 anrechenbaren Dienstjahre |
pro Jahr 0,15 % |
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vom 11. bis 15. anrechenbaren Dienstjahr |
pro Jahr 0,25 % |
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vom 16. bis 20. anrechenbaren Dienstjahr |
pro Jahr 0,30 % |
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vom 21. bis 25. anrechenbaren Dienstjahr |
pro Jahr 0,35 % |
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vom 25. bis 30. anrechenbaren Dienstjahr |
pro Jahr 0,40 % |
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höchstens jedoch 8 % des ruhegeldfähigen Einkommens bis zur jeweiligen Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung nach 30 anrechenbaren Dienstjahren. |
… |
§ 11 Unverfallbare Anwartschaften bei vorzeitigem Ausscheiden |
(1) |
Auch vor Eintritt des Versorgungsfalles ausgeschiedene Mitarbeiter erhalten ihre Anwartschaften auf Versorgungsleistungen, sofern sie bei ihrem Ausscheiden mindestens das 35. Lebensjahr vollendet haben und die Versorgungszusage für sie mindestens 10 Jahre bestanden hat. |
… |
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(3) |
Die Höhe der Versorgungsleistungen wird aus der Leistung ermittelt, die den Mitarbeitern bzw. ihren Hinterbliebenen im Versorgungsfalle zustände, wenn die Mitarbeiter nicht vorzeitig ausgeschieden wären. Von dieser Leistung wird der Teil als Rente gezahlt, der dem Verhältnis der Dauer der tatsächlichen Betriebszugehörigkeit zu der Zeit von Beginn der Betriebszugehörigkeit bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres entspricht. … |
Über das Vermögen der Arbeitgeberin wurde am 1. September 2005 das Insolvenzverfahren eröffnet. Nach dem erstellten Insolvenzplan stehen der Pensions-Sicherungs-Verein für 65,3206 % der unverfallbaren Anwartschaften auf betriebliche Altersversorgung und die weiterhin bestehende Arbeitgeberin für den Rest ein. Der Pensions-Sicherungs-Verein errechnete für den Beschwerdeführer eine Anwartschaft in Höhe von monatlich 229,54 EUR. Bei der Berechnung hat der Pensions-Sicherungs-Verein die bei einem bis zur Vollendung des 65. Lebensjahrs fortbestehenden Arbeitsverhältnis erreichbare betriebliche Altersversorgung zeitratierlich gekürzt. 65,3206 % von der so ermittelten unverfallbaren Anwartschaft ergeben den genannten Betrag.
Der Beschwerdeführer ist damit nicht einverstanden. Er ist der Meinung, die zeitratierliche Kürzung sei europarechtswidrig, weil altersdiskriminierend. Denn die zeitratierliche Kürzung benachteilige im vorliegenden Fall Beschäftigte, die ihre Betriebszugehörigkeit in jüngeren Jahren erbracht haben, gegenüber Beschäftigten, die dieselbe Betriebszugehörigkeit in älteren Jahren erbracht haben, weil das Versorgungssystem eine anrechenbare Betriebszugehörigkeit auf 30 Jahre begrenze. Diese Benachteiligung könne vermieden werden, wenn die Betriebszugehörigkeit bis zur Insolvenzeröffnung ins Verhältnis gesetzt werde zu einer möglichen 30jährigen Betriebszugehörigkeit und nicht zu einer möglichen Betriebszugehörigkeit bis zur Vollendung seines 65. Lebensjahres (in seinem Fall 38 Jahre). Dann beliefe sich seine vom Pensions-Sicherungs-Verein zu zahlende betriebliche Altersversorgung auf monatlich 296,34 EUR. Der Beschwerdeführer hat deswegen gegen den Pensions-Sicherungs-Verein Klage auf Feststellung einer höheren Anwartschaft erhoben.
Das Arbeitsgericht und das Landesarbeitsgericht haben die Klage abgewiesen. Das Bundesarbeitsgericht hat die Revision zurückgewiesen. Die zulässige Klage sei unbegründet. Die gesetzlichen Regelungen für eine Berechnung von unverfallbaren Anwartschaften (§ 7 Abs. 2 Sätze 3, 4 BetrAVG in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG) seien wirksam und anwendbar. Diese wären gegenüber dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz vorrangig. Sie bewirkten auch keine unzulässige Benachteiligung wegen des Alters. Es könne dahinstehen, ob die Richtlinie 2000/78/EG des Rats vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung einer Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. L 303, S. 16, im Folgenden: RL 2000/78/EG) anwendbar sei. Denn der Anwendungsbereich des Unionsrechts sei über Art. 8 der Richtlinie 2008/94/EG des Europäischen Parlaments und des Rats vom 22. Oktober 2008 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers (ABl. L 283, S. 36, im Folgenden: RL 2008/94/EG) in Verbindung mit Art. 51 Abs. 1 Satz 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. C 303, S. 1, im Folgenden: EU-GRCharta) eröffnet. Deswegen seien die streitgegenständlichen gesetzlichen Regelungen an Art. 21 EU-GRCharta zu messen, der durch Art. 1, Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 RL 2000/78/EG konkretisiert werde. Danach scheide eine unmittelbare Diskriminierung aus, weil eine zeitratierliche Berechnung nach § 7 Abs. 2 Sätze 3, 4 BetrAVG in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG nicht an das Alter anknüpfe. Die damit verbundene mittelbare Diskriminierung wegen Alters sei zulässig. Denn die Verweisung in § 7 Abs. 2 Satz 3 BetrAVG auf § 2 Abs. 1 BetrAVG verfolge das Ziel, Berechnungsmethoden für unverfallbare Anwartschaften wegen Insolvenzeröffnung mit denen für unverfallbare Anwartschaften wegen vorzeitiger Beendigung anzugleichen. Dies sei schon deshalb im Allgemeininteresse liegend, legitim, angemessen und erforderlich, weil eine andere Regelung zu Wertungswidersprüchen führen würde. Auch die mit einer zeitratierlichen Berechnung nach § 2 Abs. 1 BetrAVG verbundene mittelbare Diskriminierung sei gerechtfertigt. Sie diene einer Verbreitung der betrieblichen Altersversorgung und damit einem sozialpolitischen Ziel von Allgemeininteresse. Eine zeitratierliche Berechnung sichere dem Beschäftigten Anwartschaften entsprechend dem von ihm erbrachten Anteil der für die Vollrente als Gegenleistung vorausgesetzten Leistung in Gestalt der Betriebstreue bis zum Erreichen einer festen Altersgrenze. Eine zeitratierliche Berechnung sei zudem erforderlich, da keine andere Gestaltung einer Berechnung unverfallbarer Anwartschaften möglich sei. Schließlich werde durch eine zeitratierliche Berechnung das Verbot einer Altersdiskriminierung nicht ausgehöhlt, denn Versorgungsregelungen dürften nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz nicht altersdiskriminierend sein. Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union sei entbehrlich, da ein „acte éclairé” vorliege. Ein Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz sei nicht gegeben.
Entscheidungsgründe
II.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Rechts auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Die Gerichte hätten dem Gerichtshof der Europäischen Union folgende Fragen zur Beantwortung vorlegen müssen:
1. Ist § 2 Abs. 2 Satz 2 AGG, welche die Anwendung des EU-rechtlichen Diskrimierungsschutzes im Betriebsrentenrecht nach den Anwendungsgrundsätzen des BAG, wonach auch im Hinblick auf die Diskriminierungsmerkmale des Art. 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union das Betriebsrentengesetz gegenüber dem AGG Vorrang hat, wegen Verstoßes gegen Art. 21 EU-GRCharta in Verbindung mit Art. 2 Richtlinie 2000/78/EG und Art. 6 der Richtlinie 2000/78/EG sowie des 25. Erwägungsgrundes der Richtlinie 2000/78/EG unwirksam?
2. Ist Art. 6 Unterabsatz 2 der Richtlinie 2000/78/EG und 25. Erwägungsgrundes der Richtlinie 2000/78/EG dahingehend auszulegen, dass das Allgemeininteresse kein legitimes Ziel im Sinne der Vorschrift ist?
Ist Art. 6 Unterabsatz 2 der Richtlinie 2000/78/EG dahingehend auszulegen, dass für Regelungen zur betrieblichen Altersversorgung – da Art. 6 Abs. 2 lex specialis ist – Art. 6 Unterabsatz 1 daneben keine Anwendung findet.
Wenn nein:
Ist Art. 6 Untersatz 1 der Richtlinie 2000/78/EG dahingehend auszulegen, dass das Allgemeininteresse kein legitimes Ziel im Sinne dieser Vorschrift ist?
3. Ist das Gemeinschaftsrecht und insbesondere Art. 6 der Richtlinie 2000/78/EG dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung (hier: § 7 Abs. 2 S. 3 BetrAVG i.V.m. § 2 Abs. 1 S. 1 BetrAVG), die einen nachträglichen Abzug in Form einer zeitratierlichen Berechnung der bis zum Insolvenzeintritt erworbenen Betriebsrentenanwartschaft deshalb zulässt, weil der Arbeitnehmer nicht das Rentenalter erreicht hat, obwohl er weitere Betriebszugehörigkeitszeiten durchläuft, entgegenstehen?
4. Fallen Regelungen in § 7 Abs. 2 S. 3 BetrAVG i.V.m. § 2 Abs. 1 S. 1 BetrAVG unter den Anwendungsbereich des Art. 8 der Richtlinie 80/987/EWG?
Wenn ja: Ist das Gemeinschaftsrecht und insbesondere Art. 8 der Richtlinie 80/987/EWG dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung (hier: § 7 Abs. 2 S. 3 BetrAVG i.V.m. § 2 Abs. 1 S. 1 BetrAVG), die einen Abzug bis zum Insolvenzeintritt erworbenen Betriebsrentenanwartschaft deshalb zulässt, weil der Arbeitnehmer nicht das Rentenalter erreicht hat, entgegenstehen?
Diese Fragen seien entscheidungserheblich und daher dem Gerichtshof der Europäischen Union vorzulegen. Das Bundesarbeitsgericht weiche ohne diese Vorlage bewusst von Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union ab. Es gehe europarechtswidrig davon aus, dass das Betriebsrentengesetz dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz vorgehe. Auch verkenne es das Vorliegen einer unmittelbaren Diskriminierung. Die anstatt dessen rechtsfehlerhaft angenommene mittelbare Diskriminierung sei nicht durch die vom Bundesarbeitsgericht genannten Ziele gerechtfertigt, denn der 25. Erwägungsgrund und Art. 6 RL 2000/78/EG verlange ein sozialpolitisches Ziel und damit mehr als ein legitimes Ziel im Allgemeininteresse, das dem Bundesarbeitsgericht genüge. Zudem verwechsle das Bundesarbeitsgericht Mittel mit Zielen. Ungeachtet dessen sei eine zeitratierliche Berechnung zum Erreichen eines vermeintlichen Ziels weder erforderlich noch angemessen, weil eine zeitratierliche Berechnung ausschließlich die Betriebstreue honoriere und den Entgeltcharakter einer betrieblichen Altersversorgung außer Acht lasse. Es liege allein im Interesse der Arbeitgeber, Beschäftigte mit einer betrieblichen Altersversorgung an sich zu binden. Dies könne nicht hingenommen werden – schon gar nicht im Fall einer Insolvenz, für die Beschäftigte nicht verantwortlich seien. Außerdem sei die zeitratierliche Berechnung überholt; aktuelle Betriebsrentensysteme unterschieden sich von denen zu der Zeit, als die zeitratierliche Berechnung normiert worden sei.
Jedenfalls habe das Bundesarbeitsgericht dem Gerichtshof der Europäischen Union die aufgeworfenen Fragen zur Fortentwicklung des Rechts vorlegen müssen. Denn diese seien noch nicht durch die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union geklärt.
III.
Gründe für eine Annahme der Verfassungsbeschwerde im Sinne von § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor.
1. Grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung kommt der Verfassungsbeschwerde nicht zu (§ 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG). Sie wirft keine Fragen auf, die sich nicht ohne Weiteres aus dem Grundgesetz beantworten lassen oder die noch nicht durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung geklärt sind.
2. Eine Annahme der Verfassungsbeschwerde ist außerdem nicht zur Durchsetzung von in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechten des Beschwerdeführers angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), da sie keinen Erfolg hat.
Das Recht auf den gesetzlichen Richter ist nicht verletzt (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG).
a) Der Gerichtshof der Europäischen Union ist gesetzlicher Richter im Sinne von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Das nationale Gericht ist unter den Voraussetzungen des Art. 267 Abs. 3 AEUV von Amts wegen gehalten, den Gerichtshof der Europäischen Union anzurufen (vgl. BVerfGE 82, 159 ≪192 f.≫; siehe auch BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 19. Juli 2011 – 1 BvR 1916/09 –, ZUM 2011, S. 825 ≪833≫ = NJW 2011, S. 3428 ≪3433≫, Rn. 96; stRspr).
Ein nationales letztinstanzliches Gericht muss der Vorlagepflicht nachkommen, wenn sich in einem Verfahren eine Frage des Unionsrechts stellt, die entscheidungserheblich ist und nicht bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof der Europäischen Union war (acte éclairé) und wenn die richtige Anwendung des Unionsrechts nicht derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt (acte clair) (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 – C-283/81 „C.I.L.F.I.T.” –, Slg. 1982, S. 3415, Rn. 21). Ob eine europarechtliche Frage für den Ausgangsrechtsstreit entscheidungserheblich ist, beurteilt allein das nationale Gericht (vgl. BVerfGE 82, 159 ≪194≫; EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982, a.a.O., Rn. 10; ders., Urteil vom 27. Juni 1991 – C-348/89 „Mecanarte” –, Slg. 1991, S. I-3277, Rn. 47).
Das Bundesverfassungsgericht überprüft, ob die Gerichte die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV beachtet haben. Sie verletzen die Vorlagepflicht und damit auch das Recht der Parteien aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, wenn ihr Umgang mit der Vorlagepflicht bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht vertretbar ist, also nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist. Es kommt damit im Rahmen des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht auf die Vertretbarkeit der fachgerichtlichen Auslegung des für den Streitfall maßgeblichen materiellen Unionsrechts an, sondern auf die Vertretbarkeit der Handhabung der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV (vgl. BVerfGE 82, 159 ≪194 f.≫; 126, 286 ≪315≫; 128, 157 ≪187 f.≫; ähnlich bereits BVerfGK 14, 148 ≪156≫; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 19. Juli 2011 – 1 BvR 1916/09 –, a.a.O., Rn. 98; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 10. November 2010 – 1 BvR 2065/10 –, ZUM 2011, S. 236 ≪238≫, Rn. 23; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 7. Juni 2011 – 1 BvR 2109/09 –, juris, Rn. 21; wiederholt im Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Oktober 2011 – 2 BvR 1969/09 –, juris, Rn. 27).
Die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV wird insbesondere in den Fällen offensichtlich unhaltbar gehandhabt, in denen ein letztinstanzliches Hauptsachegericht eine Vorlage trotz der – seiner Auffassung nach bestehenden – Entscheidungserheblichkeit der unionsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hegt (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht), oder in denen das letztinstanzliche Hauptsachegericht in seiner Entscheidung bewusst von der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht und gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vorlegt (bewusstes Abweichen ohne Vorlagebereitschaft). Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union noch nicht vor oder hat eine vorliegende Rechtsprechung die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht nur als entfernte Möglichkeit, so wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nur dann verletzt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat (stRspr, vgl. BVerfGE 126, 286 ≪316 f.≫; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 19. Juli 2011 – 1 BvR 1916/09 –, a.a.O., Rn. 98). Es kommt also darauf an, ob das letztinstanzliche Hauptsachegericht vertretbar von einem „acte éclairé” oder von einem „acte clair” ausgegangen ist.
b) Nach diesen Maßstäben ist das Recht auf den gesetzlichen Richter vorliegend nicht verletzt.
aa) Weder das Arbeitsgericht noch das Landesarbeitsgericht waren zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union verpflichtet, weil sie kein letztinstanzliches Gericht sind (Art. 267 Abs. 3 AEUV).
bb) Das Bundesarbeitsgericht ist als letztinstanzliches Gericht grundsätzlich vorlagepflichtig, wenn die übrigen Voraussetzungen dafür nach Art. 267 Abs. 3 AEUV vorliegen. Aus verfassungsrechtlicher Sicht bestehen jedoch keine Bedenken dagegen, dass es kein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 3 AEUV eingeleitet hat – wenn auch seine Begründung nicht in jeder Hinsicht überzeugt.
(1) Das Bundesarbeitsgericht hat seine Vorlagepflicht nicht grundsätzlich verkannt, denn es hat diese ausführlich geprüft.
(2) Das Bundesarbeitsgericht ist in seiner Entscheidung nicht bewusst von der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union abgewichen. Es hat die zum Zeitpunkt seiner Entscheidung ergangene Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union im Wesentlichen zugrunde gelegt und darunter subsumiert. Eine andere, aber vertretbare Subsumtion unter die europarechtlichen Grundsätze als diejenige, die der Beschwerdeführer für richtig hält, ist kein bewusstes Abweichen.
(3) Das Bundesarbeitsgericht hat in vertretbarer Weise von einer Vorlage wegen Unvollständigkeit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union abgesehen. Entgegen der Auffassung des Bundesarbeitsgerichts handelt es sich allerdings nicht um einen „acte éclairé”. Dieser ist nur gegeben, wenn eine Vorlagefrage bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof der Europäischen Union war (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 30. August 2010 – 1 BvR 1631/08 –, Rn. 56). Das ist hier nicht geschehen. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat bislang nicht über die vom Beschwerdeführer aufgeworfenen Fragen entschieden.
(4) Die Vorlagepflicht entfällt jedoch auch, wenn eine Frage nicht entscheidungserheblich ist.
(a) Entgegen der Annahme des Beschwerdeführers kommt es nicht darauf an, ob der Anwendungsbereich der Richtlinie 2000/78/EG über deren Art. 3 Abs. 3 ausgeschlossen ist. Denn das Bundesarbeitsgericht hat die Vorgaben der Richtlinie 2000/78/EG als Konkretisierung des Art. 21 Abs. 1 EU-GRCharta geprüft, dessen Anwendungsbereich es vertretbar nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 EU-GRCharta über Art. 8 RL 2008/94/EG als eröffnet ansah.
(b) Auf eine Rechtfertigung nach Art. 6 RL 2000/78/EG kommt es auch nicht an, da das Bundesarbeitsgericht vertretbar von einer zulässigen mittelbaren Ungleichbehandlung wegen des Alters ausgeht (Art. 2 Abs. 2 Buchstabe b lit. i RL 2000/78/EG; vgl. EuGH, Urteil vom 5. März 2009 – C-388/07 Age Concern England –, juris, Rn. 66). Deswegen sind anders als in dem Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 24. Oktober 2011 – 1 BvR 1103/11 – (EuGRZ 2011, S. 713 ≪715≫) die Argumente der Schlussanträge des Generalanwalts in der Rechtssache Prigge – C-477/09 – vom 19. Mai 2011 nicht von Bedeutung, die sich mit der Rechtfertigung einer unmittelbaren Diskriminierung nach Art. 6 RL 2000/78/EG befassen.
(c) Weiterhin ist es nicht entscheidungserheblich, ob Antidiskriminierungsrecht auf das Betriebsrentengesetz (BetrAVG) anzuwenden ist, ob also § 2 Abs. 2 Satz 2 AGG unionrechtskonform ist. Denn das Bundesarbeitsgericht hat die mittelbare Altersdiskriminierung in § 7 Abs. 2 Sätze 3, 4 BetrAVG in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG an den unionsrechtlichen Rechtfertigungsanforderungen gemessen – wenn auch über den Umweg des Art. 21 EU-GRCharta in Verbindung mit Art. 8 RL 2008/94/EG. Die Klage hätte deshalb auch bei Anwendung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes keinen Erfolg, weil für das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz dieselben Maßstäbe gelten wie jene, die das Bundesarbeitsgericht in vertretbarer Weise zum europarechtlichen Verbot der mittelbaren Altersdiskriminierung zur Anwendung gebracht hat (Art. 2 Abs. 2 Buchstabe b lit. i RL 2000/78/EG, § 3 Abs. 2 AGG).
(d) Es kommt ferner nicht darauf an, ob eine mit § 2 Abs. 1 BetrAVG einhergehende Altersdiskriminierung europarechtskonform wäre, denn diese Norm ist als solche hier nicht anwendbar, sondern nur in Verbindung mit § 7 Abs. 2 Sätze 3, 4 BetrAVG.
(e) Es ist auch nicht ersichtlich, warum das Bundesarbeitsgericht die Frage hätte vorlegen müssen, ob § 7 Abs. 2 Sätze 3, 4 BetrAVG in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG mit Art. 8 RL 2008/94/EG vereinbar sind. Diese Regelungen verfolgen genau wie Art. 8 der Richtlinie 2008/94/EG das Ziel, Anwartschaften auf betriebliche Altersversorgung vor einer Insolvenz der Arbeitgeber zu schützen (vgl. Rolfs, in: Blomeyer/Rolfs/Otto, Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung, 5. Auflage, 2010, § 7 BetrAVG Rn. 4). Die pauschale Behauptung des Beschwerdeführers, dies sei unzureichend, begründet eine Vorlagepflicht nicht.
(5) Die Vorlagepflicht entfällt ferner, wenn die richtige Auslegung des Unionsrechts zur Beantwortung einer entscheidungserheblichen Vorlagefrage derart offenkundig ist, dass keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel an der Entscheidung der Frage bleibt („acte clair”; dazu BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 30. August 2010 – 1 BvR 1631/08 –, Rn. 57).
Dies ist hier der Fall. Denn es bestehen keine vernünftigen Zweifel daran, dass die vom Bundesarbeitsgericht vertretbar angenommene mittelbare Altersdiskriminierung durch eine zeitratierliche Berechnung nach § 7 Abs. 2 Sätze 3, 4 BetrAVG in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG mit den europarechtlichen Vorgaben aus Art. 2 Abs. 2 Buchstabe b lit. i RL 2000/78/EG vereinbar ist. Die angegriffenen Regelungen dienen dem Schutz von Betriebsrentenanwartschaften vor einem Zahlungsausfall (Steinmeyer, in: Erfurter Kommentar, 12. Auflage, 2012, § 7 BetrAVG Rn. 1, 36; Rolfs, in: Blomeyer/Rolfs/Otto, Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung, 5. Auflage, 2010, § 7 Rn. 4, 6; Höfer, Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung, Kommentar, Band I, 12. Ergänzungslieferung, Oktober 2011, § 7 Rn. 4297), also einem rechtmäßigen sozialpolitischen Ziel. Das Mittel einer zeitratierlichen Berechnung zur Ermittlung des Wertes einer Anwartschaft ist sachgerecht (vgl. BVerfGE 98, 365 ≪398≫; Rolfs, NZA 2008, S. 553 ≪555≫); insofern ist es vertretbar, dies auch als erforderlich und angemessen zur Zielerreichung zu werten. Dafür spricht insbesondere, dass die zeitratierliche Berechnung die Betriebstreue honoriert, während der Schutz unverfallbarer Anwartschaften vor Zahlungsunfähigkeit dem Entgeltcharakter einer Betriebsrente Rechnung trägt (vgl. BVerfGE 65, 196 ≪212≫).
Deswegen ist die unterbliebene Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Das Recht auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ist nicht verletzt.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Kirchhof, Schluckebier, Baer
Fundstellen