Das Urteil des Landgerichts München I vom 22. September 1992 – 18 Ns 115 Js 4426/91 und 18 Ns 111 Js 4784/91 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes, soweit der Beschwerdeführer wegen des Vergehens einer Verunglimpfung des Staates gemäß § 90a Absatz 1 Nummer 1 des Strafgesetzbuchs verurteilt worden ist. Es wird insoweit aufgehoben. Im Umfang der Aufhebung ist der Beschluß des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 19. Januar 1993 – 4 St RR 1/93 – gegenstandslos. Die Sache wird insoweit an das Landgericht München I zurückverwiesen.
Im übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine strafgerichtliche Verurteilung wegen Verunglimpfung des Staates (§ 90a StGB) und wegen Durchführung einer nicht angemeldeten Versammlung (§ 26 Nr. 2 VersG).
1. Am 26. September 1991 veranstalteten mehrere Gruppierungen zum Gedenken an den am 26. September 1980 erfolgten Sprengstoffanschlag auf dem Oktoberfest in München, bei dem 13 Menschen getötet und über 200 Personen zum Teil schwer verletzt worden waren, eine “Mahn- und Schutzwache” vor dem Haupteingang des Oktoberfestgeländes. Anläßlich dieser Veranstaltung wurde ein Flugblatt verteilt, für das unter anderen der Beschwerdeführer verantwortlich im Sinne des Pressegesetzes auftrat.
Das zweiseitige Flugblatt enthielt unter der Überschrift 26. September 1980 – faschistischer Anschlag auf das Oktoberfest Vergessen? Niemals! folgenden Text:
Am 26. September jährt sich zum elften Mal der Tag des neonazistischen Bombenanschlags auf das Oktoberfest. 13 Menschen verloren dabei ihr Leben. Über 200 wurden zum Teil schwer verletzt, viele von ihnen fristen seither ihr Leben als Krüppel.
Die Hintergründe: Kurz vor der Bundestagswahl – mit dem Kanzlerkandidaten F.…J.… Strauß – sollte durch Verbreitung von Angst und Schrecken der starke Mann herbeigebombt werden, einer der Deutschland wieder zu dem machen sollte, was Hitler auf seine Fahnen geschrieben hatte: “Ruhe und Ordnung” nach innen, Großdeutschland nach außen.
Die Blutspuren waren von den Wasserwerfern noch nicht weggespült, da gab Franz Josef Strauß die Parole aus, bei den Tätern handle es sich um Linke aus der DDR. Eine “Panne”, die Strauß nicht ins Konzept paßte: Der blutdurchtränkte Ausweis Gundolf Köhlers, eines Mitglieds der neonazistischen Wehrsportgruppe Hoffmann wurde gefunden. Was tut die bayerische Staatsregierung, was tut das Bundeskriminalamt? Man setzt eine Einzeltätertheorie in die Welt: Gundolf Köhler war ein Verrückter, er hat die Bombe allein fabriziert und geworfen. Politischer Hintergrund: Keiner…
Die Untersuchungen werden abgebrochen,
– obwohl eine Fülle von Zeugenaussagen gegen die Einzeltäterschaft Köhlers sprechen,
– obwohl die Selbstbezichtigung eines Mitglieds der Wehrsportgruppe Hoffmann vorlag.
Die Täter wurden nie gefaßt. Sie laufen noch heute frei herum, weil Bundesanwaltschaft und -kriminalamt unter eifriger Hilfestellung von Strauß und seiner CSU die Ermittlungen bereits nach zwei Jahren endgültig einstellten.
Heute, ein Jahr nach der sogenannten “Wiedervereinigung”, sprich Einverleibung der DDR, ist Großdeutschland durch die offizielle Regierungspolitik bereits Realität. Die Liste mörderischer Anschläge unter dem Zeichen deutschen Großmachtgebärdens wird täglich länger.
– Da ermorden rechtsradikale Skins den Mosambikaner Jorge Gomondai. Dazu erklärt der Sprecher der sächsischen Landesregierung Dr. Michael Kinze (CDU): “Die Regierung des Freistaates wird sich bemühen, gesunde, attraktive Alternativen für die Freizeitgestaltung zu finden”.
– Wo Großdeutschland seine Soldaten in der ganzen Welt für “Ruhe und Ordnung” schießen lassen will, da ist es nichts besonderes mehr, wenn ein Bundeswehrsoldat hier in München zwei wehrlose türkische Jugendliche von hinten niederschießt.
– Wo ganze Länder zur Bereicherung einer Minderheit ausgeblutet und ihres Selbstbestimmungsrechtes beraubt werden, da ist der Knüppel auf den Flüchtling nur die letzte Station: Keine Woche vergeht ohne Überfall auf ein Asylbewerberheim.
Die Staatsorgane betrachten das Schlagen und Morden mit verschränkten Armen. Polizisten erklären offen “die Skins machen für uns Arbeit, wenn sie am Bahnhof die Roma abräumen” (SZ 16.5.91). Und wenn sie sich prügeln (wie z.B. am 9.9.91 bei dem Überfall auf eine Polizeiwache zur Befreiung eines Neonazis), trägt dies Züge von rivalisierenden Banden. Politiker gießen tagtäglich Öl ins Feuer, einzig und allein, um die Mordstimmung weiter anzuheizen – wie zuletzt mit dem Vorschlag, Asylbewerber in die Wiesn-Zelte zu stecken.
Den Mordanschlag der Faschisten vergessen?
In einem Land, das keinen einzigen Nazirichter für seine Bluturteile zur Rechenschaft zog, dessen Gerichte die übergroße Mehrzahl der Schreibtischmörder und KZ-Schergen bis auf den heutigen Tag unbehelligt ließ, das Kasernen nach Nazigenerälen benannte?
In einem Land, in dem inzwischen z.B. der SS-Arzt Harrer die DDR von Nazigegnern säubert?
In einem Land, in dem die schlimmsten Verbrecher der Menschheit, die deutschen Kriegsverbrecher, ihren in der DDR enteigneten Fabrikbesitz wieder in Beschlag nehmen und damit geradezu belohnt werden?
In einem Land, dessen Staatsorgane die Vertuschung des faschistischen Anschlags auf das Oktoberfest betrieben, dessen Staatsorgane Faschisten an “Führers Geburtstag” demonstrieren und vor Gegendemonstrationen schützen läßt, sie so zu weiteren Bluttaten ermutigt?
Wie können wir in einem solchen Land vergessen, in einer Zeit, in der die Regierung selbst auf ihre Fahnen geschrieben und durchgesetzt hat, wofür der Wehrsportgruppenchef Karl Heinz Hoffmann seine Leute trainierte: ein aggressives Großdeutschland im Herzen Europas. Vergessen? Niemals!
Es folgt ein Aufruf zur Beteiligung an der “Mahn- und Schutzwache”.
2. Der Beschwerdeführer wurde daraufhin vom Amtsgericht wegen Verunglimpfung des Staates zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu je 20 DM verurteilt. Mit weiterem Urteil des Amtsgerichts wurde gegen ihn wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz eine Geldstrafe von 80 Tagessätzen zu je 20 DM festgesetzt. Nach Verbindung der beiden Strafverfahren im Berufungsrechtszug änderte das Landgericht auf die Berufung der Staatsanwaltschaft die Urteile des Amtsgerichts im Strafausspruch und erkannte auf eine Gesamtgeldstrafe von 100 Tagessätzen zu je 20 DM. Die Berufungen des Beschwerdeführers gegen die Urteile des Amtsgerichts verwarf es als unbegründet.
Zur Begründung der Verurteilung nach § 90a StGB führte das Landgericht aus: Die im Flugblatt aufgestellten Behauptungen seien Beschimpfungen im Sinne von § 90a Abs. 1 Nr. 1 StGB. Der Inhalt des Flugblatts sei nicht durch das Grundrecht der Meinungsfreiheit gedeckt. Nach dem maßgeblichen objektiven Inhalt werde die Bundesrepublik Deutschland mit einem faschistischen Staat gleichgesetzt, dessen Regierung “ein aggressives Großdeutschland im Herzen Europas” auf ihre Fahnen geschrieben habe. Es werde die Behauptung aufgestellt, die Staatsorgane der Bundesrepublik Deutschland bedienten sich neonazistischer Anschläge für ihre Ziele. Dies ergebe sich eindeutig aus dem Text des Flugblattes, in dem behauptet werde, “die Staatsorgane betrachten das Schlagen und Morden mit verschränkten Armen… Politiker gießen täglich Öl ins Feuer, einzig und allein, um die Mordstimmung weiter einzuheizen”. Die Behauptung, “die Staatsorgane hätten die Aufklärung der Hintergründe und Täter des Bombenanschlages auf das Oktoberfest verhindert”, beinhalte die Behauptung, daß das furchtbare Ergebnis des Bombenanschlages eigentlich genehm gekommen sei, damit endlich wieder politische Ziele verfolgt werden könnten, die bereits Hitler verfolgt habe. Verstärkt werde diese Behauptung durch folgende weitere Textpassage: “Die Hintergründe: Kurz vor der Bundestagswahl sollte durch Verbreitung von Angst und Schrecken der starke Mann herbeigebombt werden, einer, der Deutschland wieder zu dem machen sollte, was Hitler auf seine Fahnen geschrieben hatte: ‘Ruhe und Ordnung’ nach innen, Großdeutschland nach außen.” Darüber hinaus würden die Bundesrepublik Deutschland und der Freistaat Bayern weiterhin mit einem faschistischen Staat gleichgesetzt, wenn in dem Flugblatt die Behauptung aufgestellt werde, “in einem Land, in dem die schlimmsten Verbrecher der Menschheit, die deutschen Kriegsverbrecher, ihren in der DDR enteigneten Fabrikbesitz wieder in Beschlag nehmen und damit geradezu belohnt werden.” In dem Flugblatt würden mit den Begriffen “Großdeutschland” ohne weitere Differenzierung sowohl die außenpolitischen Zielsetzungen Adolf Hitlers und der neonazistischen “Wehrsportgruppe Hoffmann” als auch die Bundesrepublik Deutschland in ihrer derzeitigen Gestalt als Resultat der Politik der derzeitigen Bundesregierung verwendet. Nach den im Flugblatt genannten Kriterien sei die Verwendung gleichlautender Oberbegriffe so zu verstehen, daß behauptet werde, die Bundesrepublik Deutschland sei in ihrem derzeitigen Erscheinungsbild faktisch nur eine Fortführung des Dritten Reiches, zwar unter einer neuen politischen Führung, jedoch unter Beibehaltung der alten geistig-ideologischen Prinzipien. Eine derartige Gleichstellung der Bundesrepublik Deutschland und des Freistaats Bayern als Träger der hinsichtlich des Attentats vom 26. September 1980 durchgeführten Strafverfolgungsmaßnahmen mit einem faschistischen Unrechtsstaat bedeute eine Herabwürdigung der Eigenschaften beider Staaten als freiheitlich-repräsentative Demokratien und überschreite damit die Grenzen harter politischer Kritik. Es handele sich nicht lediglich um taktlose oder zynische Entgleisungen.
Die vom Beschwerdeführer gegen dieses Urteil eingelegte Revision wurde mit Beschluß des Bayerischen Obersten Landesgerichts als unbegründet verworfen.
3. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 5 und 8 GG. Zur Begründung trägt er im wesentlichen vor:
Das Landgericht habe gegen Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG verstoßen, weil es der Verurteilung ein Verständnis des Flugblattes zugrunde gelegt habe, das nicht zutreffend sei. Amtsgericht und Landgericht hätten eine eigene verschärfte Auslegung hinsichtlich einzelner Formulierungen gewählt und dem Flugblatt durch einseitige Interpretation einen völlig überzogenen Inhalt untergeschoben. Das Flugblatt enthalte mehrere pointiert und scharf formulierte wertende Einschätzungen, die das Landgericht zu Unrecht als Tatsachenbehauptung und Verstoß gegen § 90a StGB gewertet habe. Die Annahme, die Bundesrepublik Deutschland und der Freistaat Bayern würden mit einem Unrechtssystem wie dem NS-Staat gleichgesetzt, finde in dem Flugblatt keine Stütze. Im Flugblatt seien lediglich die Handhabung der Ermittlungen im Rahmen des Attentats im Jahre 1980 sowie die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1992, insbesondere im Hinblick auf den Krieg auf dem Balkan, angegriffen und kritisiert worden. Der Begriff des Beschimpfens umfasse nicht jede herabsetzende Äußerung, sondern nur durch Form oder Inhalt besonders verletzende Äußerungen der Mißachtung. Bei der erforderlichen – vom Landgericht unterlassenen – Abwägung sei zu berücksichtigen, daß das Flugblatt einen Beitrag zu mehreren die Öffentlichkeit seit Jahren stark berührenden Themen, nämlich die kontrovers geführte öffentliche Auseinandersetzung über Fragen der Ermittlungen im Hinblick auf das Oktoberfest-Attentat und über die Frage der Intervention oder Mitschuld der Außenpolitik an den Verhältnissen im ehemaligen Jugoslawien, geleistet habe. Bei solchen Fragen sei auch Kritik in überspitzter und polemischer Form hinzunehmen. Insoweit gelte die Vermutung für die Zulässigkeit der freien Rede.
Hinsichtlich der Verurteilung wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz habe das Landgericht den Unterschied zwischen einer nicht anmeldepflichtigen Spontanversammlung und einer Eilversammlung verkannt.
4. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Das Landgericht habe die Aussagen des Flugblatts korrekt interpretiert. Es sei zwar zu berücksichtigen, daß die Äußerungen Fragen betroffen hätten, die die Öffentlichkeit wesentlich berührten und damit die Vermutung der freien Rede genössen. Es liege jedoch eine nicht zulässige Schmähung des Staates und seiner Organe vor.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Jedoch kann das Bundesverfassungsgericht den Rügen des Beschwerdeführers nicht in vollem Umfang nachgehen.
Soweit der Beschwerdeführer einen Verstoß gegen Art. 8 GG rügt, erfüllt die Verfassungsbeschwerde nicht die Begründungsanforderungen, die sich aus § 92 BVerfGG ergeben. Er hat die angegriffenen Entscheidungen nicht fristgerecht vorgelegt und auch die Begründungen, die die Verurteilung nach § 26 Nr. 2 VersG tragen, nicht so wiedergegeben, daß die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung geprüft werden könnte. Dasselbe gilt für die Rüge, Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG sei verletzt, soweit sie sich auf die Entscheidungen des Amtsgerichts und des Bayerischen Obersten Landesgerichts bezieht. Der Beschwerdeführer hat auch insoweit weder die Entscheidungen fristgerecht vorgelegt noch ihren Inhalt dargestellt.
Die Rüge, das Urteil des Landgerichts verstoße gegen Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, ist dagegen zulässigerweise erhoben worden. Die Urteilsgründe, die die Verurteilung nach § 90a Abs. 1 Nr. 1 StGB tragen, sind in der Verfassungsbeschwerde wörtlich wiedergegeben worden und lassen einen Verstoß gegen das Grundrecht der Meinungsfreiheit als möglich erscheinen.
1. Soweit die Verfassungsbeschwerde zulässig ist, nimmt die Kammer sie zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c BVerfGG). Die für die Entscheidung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen der Reichweite von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG bei der strafrechtlichen Beurteilung von Meinungsäußerungen im allgemeinen sowie im Bereich von § 90a StGB im besonderen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (vgl. allgemein zuletzt BVerfGE 93, 266 ≪292 ff.≫; zu § 90a StGB BVerfGE 47, 198 ≪232 f.≫).
2. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Die Entscheidung des Landgerichts verstößt gegen Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.
a) Die Äußerungen in dem Flugblatt, derentwegen der Beschwerdeführer verurteilt worden ist, nehmen am Schutz der Meinungsfreiheit teil. Das Flugblatt enthält überwiegend Meinungen zum Vorgehen des Staates gegen Neonazis und zu den Zielen der deutschen Politik nach der Wiedervereinigung. Meinungen fallen stets in den Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, ohne daß es dabei auf Begründetheit oder Richtigkeit ankäme. Sie verlieren diesen Schutz auch dann nicht, wenn sie scharf und überzogen geäußert werden (vgl. BVerfGE 61, 1 ≪7≫; 85, 1 ≪14 f.≫; 90, 241 ≪247≫). Soweit in dem Flugblatt Tatsachenbehauptungen enthalten sind, dienen sie ersichtlich zur Stützung der Werturteile und stehen wegen dieses Zusammenhangs ebenfalls unter dem Schutz der Meinungsfreiheit (vgl. BVerfGE 61, 1 ≪8≫; 90, 241 ≪247≫).
b) Das Landgericht hat die Anforderungen, die das Grundgesetz an Eingriffe in die Meinungsfreiheit richtet, nicht hinreichend beachtet. Zwar bestehen gegen die Vorschrift des § 90a Abs. 1 Nr. 1 StGB, auf die das Landgericht die Verurteilung des Beschwerdeführers gestützt hat, keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. BVerfGE 47, 198 ≪232 f.≫; 75, 329 ≪341≫; 92, 1 ≪12≫). Doch hat das Landgericht bei Auslegung und Anwendung dieser Vorschrift das Grundrecht der Meinungsfreiheit nicht ausreichend berücksichtigt.
aa) Auslegung und Anwendung strafrechtlicher Vorschriften sind Sache der Strafgerichte. Geht es um Äußerungen, die vom Schutz der Meinungsfreiheit umfaßt werden, haben sie dabei aber dem eingeschränkten Grundrecht Rechnung zu tragen, damit dessen wertsetzende Bedeutung auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt (vgl. BVerfGE 7, 198 ≪208 f.≫; stRspr). Dazu gehört zum einen eine zutreffende Erfassung des Sinns der umstrittenen Äußerung. Insbesondere dürfen die Gerichte ihr keine Bedeutung beilegen, die sie objektiv nicht hat, und im Fall der Mehrdeutigkeit nicht von der zur Verurteilung führenden Deutung ausgehen, ehe sie andere Deutungsmöglichkeiten mit tragfähigen Gründen ausgeschlossen haben (vgl. zuletzt zusammenfassend BVerfGE 93, 266 ≪295 ff.≫). Zum anderen gehört dazu eine im Rahmen der Tatbestandsmerkmale der Strafvorschrift vorzunehmende fallbezogene Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit auf der einen und dem Rechtsgut, in dessen Interesse sie eingeschränkt ist, auf der anderen Seite (vgl. zuletzt zusammenfassend BVerfGE 93, 266 ≪293 ff.≫). Handelt es sich bei der gesetzlichen Beschränkung der Meinungsfreiheit um eine Staatsschutznorm, ist besonders sorgfältig zwischen einer – wie verfehlt auch immer erscheinenden – Polemik und einer Beschimpfung oder böswilligen Verächtlichmachung zu unterscheiden, weil Art. 5 Abs. 1 GG gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen ist und darin unverändert seine Bedeutung findet (vgl. BVerfGE 93, 266 ≪293≫).
bb) In beiden Hinsichten begegnet die angegriffene Entscheidung verfassungsrechtlichen Bedenken.
(1) Das Landgericht sieht die Verunglimpfung des Staates im Sinn von § 90a Abs. 1 Nr. 1 StGB darin, daß in dem Flugblatt die Bundesrepublik Deutschland und der Freistaat Bayern als Träger der Strafverfolgungsmaßnahmen aus Anlaß des Oktoberfest-Anschlags mit einem faschistischen Staat gleichgesetzt würden. Eine derartige Gleichsetzung bedeute eine Herabwürdigung der Eigenschaften beider Staaten als freiheitlich-repräsentativer Demokratien. Dieses Verständnis des Flugblatts wird den Anforderungen, die Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an die Deutung von Äußerungen stellt, nicht gerecht.
Zwar läßt es sich von Verfassungs wegen nicht beanstanden, daß in der Gleichsetzung der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihr angehörenden Landes mit einem faschistischen Staat eine Beschimpfung im Sinn von § 90a Abs. 1 Nr. 1 StGB gesehen wird. Das Landgericht hat aber nicht ausreichend dargelegt, daß das Flugblatt diesen Sinn tatsächlich hat. Eine ausdrückliche Gleichsetzung enthält der Text des Flugblatts nicht. Sie ist vielmehr das Ergebnis der Textinterpretation durch das Landgericht. Ob der Text auch andere, nicht die Tatbestandsmerkmale von § 90a Abs. 1 Nr. 1 StGB erfüllende Deutungen zuließe, hat es nicht erwogen. Dazu hätte aber Anlaß bestanden, weil sich seine Deutung nicht zwingend und alternativlos aus dem Text des Flugblatts ergibt.
Das Flugblatt zerfällt erkennbar in drei thematisch verschiedene Teile. Unter der für seine Zielrichtung maßgeblichen Überschrift “Vergessen? Niemals!” geißelt es zunächst die nach Auffassung der Verantwortlichen ungenügende Aufklärung des Oktoberfest-Anschlags von 1980, hinter dem die schon von Hitler angestrebten Ziele von Ruhe und Ordnung im Inneren und Großdeutschland nach außen gestanden hätten. Dabei ist bezüglich der Einstellung der Ermittlungen nach zwei Jahren von einer nicht näher beschriebenen “Hilfestellung von Strauß und seiner CSU” die Rede. Sodann wendet sich das Flugblatt der politischen Lage nach der Wiedervereinigung zu, in deren Folge “Großdeutschland” durch die Regierungspolitik zur Realität geworden sei. Es folgt die Aussage, daß im Zuge dieser Entwicklung die “Liste mörderischer Anschläge” länger werde. Die Staatsorgane betrachteten dies “mit verschränkten Armen”. Politiker gössen Öl ins Feuer um die “Mordstimmung” anzuheizen. Im letzten Teil wird ausgeführt, daß in der Bundesrepublik nicht entschieden gegen ehemalige Nationalsozialisten vorgegangen worden sei und nach der Wiedervereinigung Kriegsverbrecher ihren in der Deutschen Demokratischen Republik enteigneten Besitz wiedererlangten. Der Text kehrt dann zum Oktoberfest-Anschlag zurück, der von den deutschen Staatsorganen vertuscht werde, während Demonstrationen von Faschisten erlaubt und vor Gegendemonstrationen geschützt würden. Daraus wird im letzten Satz das Fazit gezogen, daß in einem solchen Land, in dem die Regierung “ein aggressives Großdeutschland im Herzen Europas” auf ihre Fahnen geschrieben habe, der Anschlag nicht vergessen werden dürfe.
Angesichts dieser Textgestaltung kann dem Flugblatt auch der Vorwurf einer Blindheit oder Nachsichtigkeit der deutschen Staatsorgane gegenüber neonazistischen Bestrebungen, ja, möglicherweise sogar – wie das Landgericht annimmt – einer Ausnutzung neonazistischer Gewalttaten für politische Zwecke gesehen werden, ohne daß darin zugleich die Behauptung einer Billigung solcher Taten und Bestrebungen oder gar eine Gleichsetzung der Bundesrepublik Deutschland oder des Freistaats Bayern mit faschistischen Staaten liegen müßte. Dasselbe gilt für die Charakterisierung der deutschen Politik im Gefolge der Wiedervereinigung als aggressiver Großmachtpolitik. Auch diese Äußerung läßt sich als kritische Bewertung deutscher Politikziele verstehen, die gerade wegen ihrer im Flugblatt ausdrücklich behaupteten Gleichgerichtetheit mit den Zielen der als “neonazistisch” bezeichneten Wehrsportgruppe Hoffmann Kritik verdienten, ohne daß damit die Bundesrepublik insgesamt einem faschistischen Staat gleichgestellt würde. Dabei kommt es für die Deutung der Äußerung nicht darauf an, ob derartige Vorwürfe berechtigt wären oder nicht. Ausschlaggebend ist vielmehr nur, ob auch dann, wenn dieser Auslegung der Vorzug gebührte, der Tatbestand von § 90a Abs. 1 Nr. 1 StGB als erfüllt gelten könnte.
Die Notwendigkeit, eine derartige Deutungsalternative in Erwägung zu ziehen, besteht um so mehr, als die Gründe, die das Landgericht für seine Deutung anführt, einer Nachprüfung nicht durchweg standhalten. In der vom Landgericht in Anführungszeichen gesetzten, in der zitierten Form im Flugblatt aber nicht vorhandenen Aussage, “Die Staatsorgane hätten die Aufklärung der Hintergründe und Täter des Bombenanschlages auf das Oktoberfest behindert”, liegt nicht zwingend, wie das Landgericht meint, die Behauptung, das Attentat sei den Staatsorganen deswegen genehm gekommen, damit sie wieder politische Ziele verfolgen konnten, die bereits Hitler verfolgt habe. Die zur Stützung dieser Annahme herangezogene Passage über “Die Hintergründe” im ersten Teil des Flugblatts läßt sich dafür nicht verwerten, weil sie sich nicht auf die Staatsorgane oder Politiker der Bundesrepublik, sondern auf die “Bombenleger” bezieht. Ebensowenig ergibt sich aus der in dem Flugblatt enthaltenen Aussage, Kriegsverbrecher würden durch Rückgabe ihres in der Deutschen Demokratischen Republik enteigneten Besitzes belohnt, etwas für die Gleichsetzung der Bundesrepublik oder Bayerns mit einem faschistischen Staat. Schließlich folgt auch aus dem Umstand, daß der Begriff “Großdeutschland” in dem Flugblatt sowohl für die Ziele Hitlers und der Wehrsportgruppe Hoffmann als auch der Bundesregierung verwendet wird, nicht notwendig, daß die Bundesrepublik in ihrem derzeitigen Erscheinungsbild nur als “Fortführung des Dritten Reiches” gesehen werde, wie das Landgericht annimmt.
(2) Die verfassungsrechtlich gebotene Abwägung zwischen der Schwere der Beeinträchtigung der Meinungsfreiheit durch die Verurteilung einerseits und dem Grad der Beeinträchtigung des von § 90a StGB geschützten Rechtsguts durch die Äußerung andererseits, die das Landgericht im Rahmen der Auslegung und Anwendung der Tatbestandsmerkmale von § 90a Abs. 1 Nr. 1 StGB auch dann hätte vornehmen müssen, wenn seine Deutung der Äußerung und ihre Subsumtion unter diese Vorschrift zutreffend wären, ist gänzlich unterblieben.
Eine derartige Abwägung war – entgegen der Auffassung des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz – auch nicht etwa unter dem Gesichtspunkt der Schmähkritik entbehrlich. Hierbei bedarf es keiner Entscheidung, ob die vom Bundesverfassungsgericht für die Annahme der Schmähung einer Person entwickelten Grundsätze auf den Bereich des durch § 90a Abs. 1 Nr. 1 StGB geschützten Rechtsguts übertragbar sind. Denn eine Schmähung, die regelmäßig im Rahmen der Güterabwägung zu einem Zurücktreten des Rechts auf Meinungsfreiheit führt, ist weder vom Landgericht hinreichend begründet worden noch sind die Voraussetzungen, unter denen nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Meinungsäußerung als Schmähkritik anzusehen ist (vgl. zuletzt BVerfGE 93, 266 ≪294≫), ersichtlich. Hiernach darf im Interesse der Meinungsfreiheit der Begriff der Schmähkritik nicht weit ausgelegt werden (vgl. BVerfGE 82, 272 ≪284≫; 93, 266 ≪294≫). Demgemäß macht auch eine überzogene oder gar ausfällige Kritik eine Äußerung für sich genommen noch nicht zur Schmähung. Hinzutreten muß vielmehr, daß bei der Äußerung nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht. Sie muß jenseits auch polemischer und überspitzter Kritik in der persönlichen Herabsetzung bestehen, so daß Schmähkritik bei Äußerungen in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage nur ausnahmsweise vorliegen und im übrigen eher auf die sogenannte Privatfehde beschränkt bleiben wird (vgl. BVerfGE 93, 266 ≪294≫).
Diese Voraussetzungen liegen nach den Feststellungen des Landgerichts nicht vor. Dem Beschwerdeführer ging es – wie auch das Staatsministerium einräumt – um eine politische Auseinandersetzung in die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Fragen, nämlich die Ermittlungstätigkeit nach dem Bombenanschlag von 1980, die Einstellung der Polizei und der Politiker gegenüber ausländerfeindlichen Gewalttaten, die Rückgabe von enteignetem Fabrikbesitz sowie die außenpolitische Einstellung und das Auftreten der Bundesrepublik Deutschland nach der Wiedervereinigung. Angesichts dessen könnte von einer Schmähkritik nur dann gesprochen werden, wenn in den der strafrechtlichen Verurteilung zugrunde gelegten Äußerungen auch unter Berücksichtigung ihres Kontextes die Sachauseinandersetzung von der Diffamierung des Staates völlig in den Hintergrund gedrängt worden wäre. Daran bestehen aber gerade deswegen Zweifel, weil die teilweise scharf und überspitzt formulierten Äußerungen zu diesen Themen ersichtlich dazu dienten, die Schlußfolgerung aus der kritisierten politischen Situation zu belegen.
3. Das Urteil beruht auf der Verkennung der Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Es ist nicht auszuschließen, daß das Landgericht bei Berücksichtigung der grundrechtlichen Anforderungen zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.
4. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.