Entscheidungsstichwort (Thema)
Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches OLG (Beschluss vom 23.11.2006; Aktenzeichen 2 Ws 274/06) |
LG Kiel (Beschluss vom 27.09.2006; Aktenzeichen 545 Js 13642/86 V72) |
LG Kiel (Beschluss vom 02.08.2006; Aktenzeichen 545 Js 13642/86) |
Schleswig-Holsteinisches OLG (Beschluss vom 12.05.2006; Aktenzeichen 2 Ws 111/06) |
LG Kiel (Beschluss vom 22.03.2006; Aktenzeichen VI KLs 24/90) |
Tenor
Die Vollstreckung der Strafe aus dem Urteil des Landgerichts Kiel vom 7. Mai 1991 – VI KLs (24/90) – 545 Js 13642/86 – wird bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, einstweilen ausgesetzt.
Gründe
Mit der Verfassungsbeschwerde greift der Antragsteller den Widerruf der Bewilligung eines Strafausstandes wegen Vollzugsuntauglichkeit nach § 455 Abs. 1 und 2 StPO an. Mit der einstweiligen Anordnung wendet sich der Antragsteller gegen die sofortige Ladung zum Strafantritt und seine Verbringung in die Justizvollzugsanstalt Kiel am 28. November 2006.
I.
1. Das Landgericht Kiel verurteilte den Antragsteller am 7. Mai 1991 wegen Meineids, Betrugs in 12 Fällen, Urkundenfälschung und falscher Verdächtigung jeweils in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten. Das Urteil ist noch am selben Tag rechtskräftig geworden.
2. Am 13. August 1991 erhielt der Antragsteller die Ladung zum Strafantritt zugestellt. Vom 13. Oktober 1988 bis 19. Juli 1989 und vom 22. Januar 1991 bis 7. März 1991 hatte der Antragsteller in der Sache Untersuchungshaft verbüßt.
3. Mit Schreiben vom 19. August 1991 beantragte der Antragsteller, Strafausstand wegen Vollzugsuntauglichkeit zu gewähren. Nach Verbüßung der Untersuchungshaft fühle er sich von der Staatsanwaltschaft ständig verfolgt, weshalb er sich in psychiatrischer Behandlung befinde. Bereits während der Untersuchungshaft hätten bei ihm starke Suizidtendenzen bestanden.
4. Mit Schreiben vom 12. Dezember 1991 diagnostizierte eine Ärztin des Gesundheitsamtes der Landeshauptstadt Kiel eine „abnorme Persönlichkeitsentwicklung mit depressiver Verstimmung, Suizidalität sowie Verdacht auf angstneurotische Entwicklung verbunden mit Panikattacken”. Die Ärztin hielt den Antragsteller derzeit nicht für haftfähig.
5. Am 4. August 1993 gab die Staatsanwaltschaft bei der Klinik für Psychiatrie, Kiel, ein nervenärztliches Gutachten in Auftrag. Der Direktor der Klinik diagnostizierte am 21. Februar 1994, dass der Antragsteller „unter einer angstneurotischen Störung mit Panikattacken sowie zumindest latenter Suizidalität” leide. Des Weiteren sei eine paranoide Entwicklung feststellbar. Der Antragsteller sei daher „haftunfähig”.
6. In der Folgezeit wurde der Antragsteller wiederholt auf seine Vollzugstauglichkeit ärztlich begutachtet. In dem letzten psychiatrischen Gutachten vom 4. Juli 2003 diagnostizierte Dr. med. H., Oberarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, eine depressive Störung mit Angst- und paranoiden Symptomen. Das Störungsbild sei mit der Gefahr von suizidalen Krisen verbunden. Die Wahrscheinlichkeit für suizidale Krisen mit suizidalen Handlungen erhöhe sich, sobald der Antragsteller seine Haftstrafe tatsächlich antreten müsse. Mit gewisser Wahrscheinlichkeit sei zu erwarten, dass der Antragsteller bereits bei der Androhung einer Inhaftierung oder Ladung zum Strafantritt suizidal dekompensieren könnte. Die psychiatrischen Störungen schienen über viele Jahre unverändert fortzubestehen, obwohl gewisse psychiatrisch-psychotherapeutische Maßnahmen ergriffen worden seien. Insoweit sei nicht mit einer schnellen Besserung der diagnostizierten Störung zu rechnen.
7. Mit Schreiben vom 27. September 2005 widerrief die Staatsanwaltschaft den unbefristeten Strafaufschub mit sofortiger Wirkung, da die bloße Gefahr eines Suizids vor Strafantritt keine Vollzugsuntauglichkeit im Sinne des § 455 Abs. 2 StPO begründe. Eine deswegen anzunehmende Lebensgefahr gehe nämlich von dem Verurteilten selbst aus und komme deshalb im Allgemeinen als Grund für einen Strafaufschub nicht in Betracht; ihr könne vielmehr in der Anstalt regelmäßig durch geeignete Maßnahmen nach § 88 StVollzG begegnet werden.
8. Mit Schriftsatz vom 23. Februar 2006 beantragte der Antragsteller, die Unzulässigkeit der Vollstreckung der restlichen Freiheitsstrafe festzustellen. Den Antrag wies das Landgericht Kiel mit Beschluss vom 22. März 2006 gemäß §§ 462 a Abs. 2, 458 Abs. 1 StPO als unbegründet zurück, da Einwendungen gegen die Zulässigkeit der Strafvollstreckung im Sinne des § 458 Abs. 1 StPO nicht bestünden. Der Zulässigkeit der Strafvollstreckung stehe § 79 StGB nicht entgegen, weil die Vollstreckungsverjährung nach § 79 a StGB ohne zeitliche Grenze ruhe. Dies sei von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Soweit der Antragsteller seine Vollzugsuntauglichkeit geltend mache, sei dies keine Frage des § 458 Abs. 1 StPO, der nur Einwendungen gegen den staatlichen Vollstreckungsanspruch als solchen betreffe.
9. Die hiergegen eingelegte sofortige Beschwerde verwarf das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht mit Beschluss vom 12. Mai 2006 als unbegründet. Dass die Vollstreckungsverjährung nach § 79 a Nr. 2 Buchstabe a StGB zeitlich unbegrenzt ruhe, sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, da das Gesetz keine generelle Regelung kenne, dass die Strafverfolgung oder -vollstreckung zu einem bestimmten Zeitpunkt verjähren müsse. Da der Antragsteller im Beschwerdeverfahren erstmals gemäß § 458 Abs. 2 StPO beantragt habe, einen Strafausstand wegen Vollzugsuntauglichkeit anzuordnen, sei dem Senat eine Entscheidung verwehrt; denn das Landgericht Kiel habe hierüber bislang nicht entschieden.
10. Den Einwand des Antragstellers gemäß § 458 Abs. 2 StPO verwarf das Landgericht Kiel mit Beschluss vom 2. August 2006, da die Voraussetzungen gemäß § 455 Abs. 1 und 2 StPO nicht vorlägen. Die Feststellungen des Sachverständigen rechtfertigten die Aufhebung des Widerrufs der Strafaussetzung nicht. Es genüge nicht, dass bei dem Antragsteller erstmals eine Geisteskrankheit, die als solche nach dem überzeugenden Gutachten vorliege, festgestellt oder evident sei. Zu beachten sei vielmehr, dass das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, die Sicherung des Rechtsfriedens in Gestalt der Rechtspflege, die Gewährleistung einer funktionstüchtigen Rechtspflege unter Berücksichtigung der Grundrechte des Betroffenen, die Staatsanwaltschaft grundsätzlich zwinge, die Vollstreckung rechtskräftig erkannter Freiheitsstrafen durchzusetzen. Daran gemessen könne bei einer Geisteskrankheit, die allein einen weiteren Strafaufschub rechtfertige, Vollzugsuntauglichkeit nur vorliegen, wenn der Verurteilte krankheitsbedingt für die Zwecke der Strafvollstreckung nicht mehr ansprechbar sei und eine seinen spezifischen krankheitsbedingten Bedürfnissen Rechnung tragende ärztliche Versorgung nicht mehr möglich sei und infolge dessen zumindest eine gravierende und irreversible Verschlechterung des Leidens mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sei. Dass dem vorliegend so sei, ergebe sich nicht aus dem erwähnten Gutachten. Der Kammer sei aus anderen Verfahren bekannt, dass kranke Häftlinge, die ambulant nicht ausreichend betreut werden könnten, in das Haftkrankenhaus Hamburg aufgenommen werden könnten; bei psychischen Erkrankungen stehe zudem die psychiatrische Klinik in Neustadt/Holstein zur Verfügung. Soweit der Sachverständige indes ausführe, der Antragsteller werde bei der Vollstreckung der Strafe unausweichlich Selbstmord begehen, sei dies für die Entscheidung unerheblich. Voraussetzung für einen Strafausstand nach § 455 Abs. 2 StPO sei, dass durch die Einleitung der Vollstreckung, also durch die Ladung zum Strafantritt, Lebensgefahr für den Verurteilten zu besorgen sei. Die bloße Möglichkeit, der Antragsteller könne sich etwas antun, reiche dafür nicht aus; vielmehr sei ein hoher Wahrscheinlichkeitsgrad erforderlich. Im Übrigen könne der Gefahr der Selbsttötung durch Maßnahmen nach § 457 StPO in Verbindung mit §§ 27, 33 StVollstrO entgegen getreten werden.
11. Die hiergegen erhobene sofortige Beschwerde verwarf das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht mit Beschluss vom 23. November 2006 als unbegründet. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts begründe das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit die Pflicht des Staates, die Sicherheit seiner Bürger und deren Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit der staatlichen Institutionen zu schützen. Der Grundsatz der Gleichbehandlung gebiete, rechtskräftige Verurteilungen zu vollstrecken. Diese verfassungsrechtliche Pflicht finde allerdings ihre Grenzen im Grundrecht des Einzelnen auf Leben und körperliche Unversehrtheit „Art. 2 Abs. 1 GG”). Der grundrechtliche Konflikt zwischen der Pflicht des Staates zur Strafvollstreckung im Interesse des Verurteilten an der Wahrung seines Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit sei durch Abwägung der widerstreitenden Interessen zu lösen. Die hiernach gebotene Abwägung führe vorliegend dazu, dass ein Strafausstand nicht in Betracht komme. Voraussetzung nach § 455 Abs. 2 StPO sei, dass von der Vollstreckung eine nahe Lebensgefahr für den Verurteilten zu besorgen sei. Eine Selbstmordgefahr – auch eine ernsthafte, wie sie dem Antragsteller in dem Gutachten des Oberarztes Dr. med. H. vom 4. Juli 2003 für den Fall der Ankündigung einer Inhaftierung attestiert werde – komme als Aufschubgrund nicht in Betracht. Es könne nicht in das Belieben des Verurteilten gestellt werden, sich durch Suiziddrohung dem Strafantritt zu entziehen. Die Lebensgefahr – wenn sie in derartigen Fällen überhaupt als „nah” bezeichnet werden könne – gehe letztlich nicht von der Vollstreckung, sondern von der suizidgefährdeten Person selbst aus. Im Strafvollzug selbst könne der Suizidgefahr durch die in § 88 StVollzG vorgesehenen besonderen Sicherungsmaßnahmen begegnet werden, womit zugleich den grundgesetzlich geschützten Interessen an der Wahrung seiner Gesundheit ausreichend Rechnung getragen werden könne.
12. Am 28. November 2006 wurde der Antragsteller zum sofortigen Strafantritt geladen und anschließend in die Justizvollzugsanstalt Kiel verbracht.
II.
Der Antragsteller erhob am 22. Juni 2006 Verfassungsbeschwerde und beantragte am 28. November 2006 den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Er sieht sich in seinen Grundrechten aus Art. 2 Abs. 2, Art. 3 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 2 GG verletzt.
Der Widerruf der Strafaussetzung verstoße gegen das Willkürverbot. Die Staatsanwaltschaft stütze ihn allein auf eine Änderung ihrer Rechtsauffassung. Diese sei zunächst davon ausgegangen, dass ein Strafaussetzungsgrund gemäß § 455 Abs. 2 StPO nur dann nicht vorliege, wenn die Gefahr bestehe, dass der Verurteilte nach einer Inhaftierung im laufenden Strafvollzug mit Selbstmord reagiere. Soweit für einen Verurteilten jedoch schon für den Fall der konkreten Androhung der Inhaftierung und der Ladung zum Strafantritt eine akute Lebensgefahr bestehe, bestünde grundsätzlich ein Strafaufschubsgrund gemäß § 455 Abs. 2 StPO. Entgegen ihrer früheren Auffassung setze sie nunmehr die Strafvollstreckung durch. Im Übrigen verstoße § 79 a StGB gegen Art. 3 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 2 GG. Es gebe keine sachliche Rechtfertigung dafür, dass im Falle eines Strafausstandes wegen Geisteskrankheit (§ 79 a Nr. 2 Buchstabe a StGB in Verbindung mit § 455 StPO) die Verjährung selbst bei geringen Freiheitsstrafen zeitlich unbegrenzt ruhe, während in Fällen, in denen sich der Verurteilte durch Flucht entziehe, die Vollstreckung gemäß § 79 Abs. 1, Abs. 3 StGB nach bestimmten Fristen verjähre.
III.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, über den wegen Eilbedürftigkeit ohne Anhörung der Gegenseite entschieden wird, ist zulässig und begründet.
1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde wäre unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 88, 169 ≪172≫; 91, 328 ≪332≫; stRspr).
2. Die Verfassungsbeschwerde ist weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Sie wirft in der Hauptsache die Frage auf, ob die Fachgerichte bei der Auslegung und Anwendung von § 455 StPO den Grundrechten des Antragstellers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 3 Abs. 1, Abs. 3 Satz 2 GG sowie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hinreichend Rechnung getragen haben.
3. Die danach gebotene Folgenabwägung lässt die für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe überwiegen.
a) Unterbliebe die einstweilige Anordnung, hätte die Verfassungsbeschwerde später aber Erfolg, so wäre die Vollstreckung der Freiheitsstrafe – bei ihrer Rechtswidrigkeit eine erhebliche Verletzung des Freiheitsrechts des Antragstellers (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 30. April 1993 – 2 BvR 1605/92 und 2 BvR 1710/92 –, NStZ 1993, S. 507 = NJW 1994, S. 3087) – nicht rückgängig zu machen. Darüber hinaus könnte es zu faktischen – möglicherweise nicht mehr reversiblen – Beeinträchtigungen des Lebens und der Gesundheit des Antragstellers kommen. Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass der Antragsteller bei Vollstreckung der Freiheitsstrafe nach den gutachterlichen Feststellungen sein Leben infolge Selbsttötung einbüßen oder jedenfalls schwerwiegende Schäden an seiner Gesundheit nehmen könnte.
b) Sofern die einstweilige Anordnung erlassen würde, die Verfassungsbeschwerde aber später keinen Erfolg hätte, wären das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, die Sicherung des Rechtsfriedens in Gestalt der Rechtspflege und die Pflicht des Staates zur Gewährleistung einer funktionierenden Strafrechtspflege (vgl. BVerfGE 51, 324 ≪343≫) in Ausführung einer vom Gericht für erforderlich gehaltenen Maßnahme nur auf Zeit beeinträchtigt. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe könnte jederzeit nachgeholt werden. Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die Vollstreckung der Strafe bereits seit nunmehr 7. Mai 1991 ruht.
Der Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung erweist sich wegen der aufgezeigten Nachteile im Falle eines Obsiegens des Antragstellers in der Hauptsache als unabweisbar.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Broß, Osterloh, Mellinghoff
Fundstellen