Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtannahmebeschluss: Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen die vorläufige Entziehung der elterlichen Sorge gegenüber der allein sorgeberechtigten Mutter sowie gegen die Anordnung von Vormundschaft. hinreichende fachgerichtliche Feststellungen zur drohenden Kindeswohlgefährdung
Normenkette
GG Art. 6 Abs. 2 S. 1; BGB § 1666 Abs. 1, 3 Nr. 6, § 1773 Abs. 1 Nr. 1
Verfahrensgang
OLG Hamm (Beschluss vom 11.11.2021; Aktenzeichen II-5 UF 176/21) |
OLG Hamm (Beschluss vom 21.10.2021; Aktenzeichen II-5 UF 176/21) |
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe
Rz. 1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft den vorläufigen Entzug des vollständigen Sorgerechts der Beschwerdeführerin für ihre Tochter.
I.
Rz. 2
Die Beschwerdeführerin ist die Mutter einer im November 2014 geborenen Tochter, für die der damalige Partner der Beschwerdeführerin die Vaterschaft anerkannt hatte. Mangels gemeinsamer Sorgeerklärung war die Beschwerdeführerin allein sorgeberechtigt.
Rz. 3
1. Nach dem Ende der Beziehung bestanden zunächst noch Umgangskontakte des (bisherigen) Partners zu der Tochter. Ab dem Sommer des Jahres 2015 brach die Beschwerdeführerin den Kontakt zu diesem vollständig ab; Umgänge wurden trotz gerichtlicher Regelung von ihr verweigert. Im Rahmen eines von dem vormaligen Partner betriebenen Verfahrens zur Feststellung seiner Vaterschaft entzog das Familiengericht der Beschwerdeführerin das Recht, über die Einwilligung zu der Entnahme einer Blut- oder Speichelprobe und Sicherung der Durchführung der Probe zu entscheiden, nachdem die Beschwerdeführerin die Abgabe von Speichelproben der Tochter und von sich selbst über einen längeren Zeitraum mehrfach verweigert beziehungsweise umgangen hatte. Das Jugendamt wurde zum Ergänzungspfleger bestellt. Rechtsbehelfe der Beschwerdeführerin dagegen blieben ohne Erfolg (dazu näher BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. August 2020 - 1 BvR 886/20 -, Rn. 3 ff.). Der Aufenthalt der Beschwerdeführerin und ihrer Tochter ist seit längerem unbekannt.
Rz. 4
2. In dem vorgenannten Verfahren hatte der 12. Senat für Familiensachen des Oberlandesgerichts in seiner Beschwerdeentscheidung vom 3. Februar 2020 unter näherer Darlegung darauf hingewiesen, dass der Verdacht einer nicht unerheblichen Einschränkung der Erziehungsfähigkeit der Beschwerdeführerin im Raum stehe. Dies könne mit einer Gefährdung des geistigen und seelischen Kindeswohls einhergehen. Angesichts nachweislich falscher Angaben der Beschwerdeführerin unter anderem zu den Bemühungen um einen Kindergartenplatz für die Tochter, könne nicht festgestellt werden, dass das Kind überhaupt altersadäquate soziale Kontakte habe. In einem einstweiligen Anordnungsverfahren zur elterlichen Sorge entzog das Familiengericht mit Beschluss vom 18. August 2021 der Beschwerdeführerin vorläufig die elterliche Sorge für ihre Tochter, ordnete Vormundschaft an und bestellte das Jugendamt zum Vormund. Die dagegen gerichtete Beschwerde der Beschwerdeführerin verwarf das Oberlandesgericht mit dem angegriffenen Beschluss vom 21. Oktober 2021. Zur Begründung verwies es vollumfänglich auf die Entscheidung des 12. Senats für Familiensachen des Oberlandesgerichts vom 3. Februar 2020 aus dem vorangegangenen Verfahren.
Rz. 5
3. Dagegen sowie gegen die Verwerfung ihrer Anhörungsrüge durch Beschluss des Oberlandesgerichts vom 11. November 2021 wendet sich die Beschwerdeführerin, die sich in ihrem Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 GG) sowie in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt sieht.
II.
Rz. 6
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Annahmegründe nach § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Die Verfassungsbeschwerde bleibt ohne Erfolg.
Rz. 7
Der vorläufige Entzug des Sorgerechts und die Anordnung von Vormundschaft für die Tochter der Beschwerdeführerin halten den dafür maßgeblichen verfassungsrechtlichen Anforderungen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 23. April 2018 - 1 BvR 383/18 -, Rn. 15 ff.; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. April 2022 - 1 BvR 674/22 -, Rn. 21 ff. jeweils m.w.N.) noch stand. Das gilt selbst für die auch im einstweiligen Anordnungsverfahren grundsätzlich gebotenen Feststellungen zu Art und Schwere der konkret drohenden Gefährdung des Kindeswohls (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 19. Juni 2020 - 1 BvR 1284/20 -, Rn. 3 und vom 21. September 2020 - 1 BvR 528/19 -, Rn. 40 m.w.N.). Durch die Bezugnahme sowohl auf den Beschluss des 12. Senats für Familiensachen des Oberlandesgerichts vom 3. Februar 2020 sowie den familiengerichtlichen Beschluss vom 18. August 2021 wird noch hinreichend deutlich, dass und weshalb das Oberlandesgericht in der Entscheidung vom 21. Oktober 2021 eine erheblich eingeschränkte Erziehungsfähigkeit der Beschwerdeführerin und eine damit verbundene Gefährdung des geistigen und seelischen Wohls der Tochter annimmt. In der Gesamtschau liegen Anhaltspunkte für eine deutlich eingeschränkte Erziehungsfähigkeit der Beschwerdeführerin sowie für ein Vorenthalten altersadäquater sozialer Kontakte der Tochter vor. Damit besteht eine hier tragfähige Grundlage für eine mindestens drohende erhebliche Beeinträchtigung des Kindeswohls, zumal der Aufenthalt der Beschwerdeführerin unbekannt ist und damit die aktuelle Lebenssituation des Kindes völlig ungesichert erscheint. Weitergehender Aufklärung hat sich die Beschwerdeführerin ausweislich ihres von den beteiligten Fachgerichten beschriebenen Verhaltens nahezu vollständig entzogen.
Rz. 8
Das fortzuführende Hauptsacheverfahren zum Sorgerecht wird Gelegenheit bieten, von Amts wegen nähere Feststellungen zu einer Gefährdung des Kindeswohls zu treffen. Dabei wird auch zu klären sein, wo und unter welchen Umständen die Beschwerdeführerin und ihre Tochter, deren Aufenthalt seit längerem unbekannt ist, leben. Ungeachtet des Verlaufs eines solchen Hauptsacheverfahrens wird das zum Vormund bestellte Jugendamt das ihm nach § 1795 Abs. 1 Satz 1 BGB zustehende Recht zur Bestimmung des Aufenthalts der Tochter der Beschwerdeführerin auch gemäß § 1789 Abs. 1 Satz 1 BGB wahrzunehmen und auszuüben und wird das Familiengericht hierüber nach § 1802 Abs. 2 BGB Aufsicht zu führen haben.
Rz. 9
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Rz. 10
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Fundstellen
Dokument-Index HI15705784 |