Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtannahmebeschluss: "Befriedungsrechtsprechung" des BAG zur Rügefrist bzgl nachträglichen Anpassungen von Betriebsrenten (§ 16 BetrAVG) und Verwirkung bei unterbliebener Rüge wahrt verfassungsrechtliche Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung. keine Verletzung von Art 2 Abs 1 GG iVm Art 20 Abs 3 GG
Normenkette
GG Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3; BetrAVG § 16 Abs. 2-4; BGB § 315 Abs. 3; RRG 1999 Art. 8 Nr. 17 Buchst. c
Verfahrensgang
Gründe
I.
Rz. 1
1. Die Beschwerdeführenden beziehen ein Ruhegeld nach der Leistungsordnung "A" des Essener Verbandes (im Folgenden: Leistungsordnung), einem Zusammenschluss von Arbeitgebern zur Koordinierung der Bedingungen der betrieblichen Altersversorgung. Sie machen für den Zeitraum Januar 2008 bis Dezember 2011 einen Anspruch auf Ruhegeldanpassung geltend.
Rz. 2
Nach § 9 Abs. 2 Leistungsordnung hat der Verband die von seinen Mitgliedsunternehmen gewährten Betriebsrenten regelmäßig zu überprüfen und gegebenenfalls veränderten Verhältnissen anzupassen. Die Betriebsrenten wurden regelmäßig erhöht. Streitig war, ob dabei auch ein biometrischer Faktor mindernd berücksichtigt werden könne, um höhere Belastungen der Unternehmen auszugleichen, weil Renten länger gezahlt werden müssten. Der Verband korrigierte die Anpassungsbeschlüsse rückwirkend für die Jahre 2012 bis 2014, nicht aber für die im Ausgangsverfahren zu ihren Verfassungsbeschwerden streitigen Jahre 2008 bis 2011.
Rz. 3
Die Beschwerdeführenden waren mit ihren Klagen vor den Arbeitsgerichten letztlich nicht erfolgreich. Nach den hier angegriffenen Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts ergäben sich zwar aus § 9 Abs. 2 Leistungsordnung in Verbindung mit § 315 Abs. 3 BGB Ansprüche auf eine nachträgliche Anpassung des Ruhegeldes im Streitzeitraum. Doch seien diese erloschen. Die vom Bundesarbeitsgericht für die gesetzliche Anpassungsprüfung des § 16 BetrAVG und zur vertraglichen Anpassungsprüfung nach § 20 Leistungsordnung des Bochumer Verbandes entwickelten Grundsätze für die Geltendmachung von Ruhegelderhöhungen seien auch hier anwendbar. Danach könne eine fehlerhafte Anpassungsentscheidung nur geltend gemacht werden, wenn zur Wahrung eigener Rechte bis zum nächsten jährlichen Anpassungsprüfungsstichtag zumindest eine außergerichtliche Rüge und bis zum übernächsten Anpassungsprüfungsstichtag Klage erhoben wird.
Rz. 4
2. Die Beschwerdeführenden rügen die Unvereinbarkeit der Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts mit Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Das Gericht stütze sich auf ein falsches Verständnis von § 16 BetrAVG. Es überschreite die Grenzen vertretbarer Auslegung gesetzlicher Regelungen und der richterlichen Rechtsfortbildung.
II.
Rz. 5
Die Verfassungsbeschwerden sind nicht zur Entscheidung anzunehmen (§ 93a Abs. 2 BVerfGG). Die Beschwerdeführenden sind nicht in ihrem Recht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt. Die den angegriffenen Entscheidungen zugrundeliegende Auslegung einfachen Rechts hält sich im Rahmen der Entscheidungsbefugnisse, die das Grundgesetz den Fachgerichten überantwortet hat.
Rz. 6
1. Die Anwendung und Auslegung der Gesetze durch die Gerichte steht mit dem Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG in Einklang, wenn sie sich in den Grenzen vertretbarer Auslegung und zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung bewegt. Das allgemeine Freiheitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG den Rechtsuchenden, dass ihnen gegenüber ergehende Entscheidungen diesen Anforderungen genügen (vgl. BVerfGE 149, 126 ≪154 Rn. 72≫ m.w.N.).
Rz. 7
2. Das Bundesarbeitsgericht hat seine Befugnis zur Auslegung und Anwendung gesetzlicher Regelungen in den angegriffenen Entscheidungen nicht überschritten. Es stützt sich im Umgang mit Ansprüchen auf nachträgliche Anpassung von Betriebsrenten maßgeblich auf die sogenannte Befriedungsrechtsprechung zu § 16 BetrAVG. Danach ist die Rügefrist ein integraler Bestandteil des Anspruchs darauf, eine Anpassungsentscheidung zur Höhe der Altersversorgung überprüfen zu lassen. Wird eine Anpassung nicht innerhalb eines zumutbaren Zeitraums gerügt, erlischt der Anspruch. So dient § 16 BetrAVG einerseits dazu, der Entwertung von Betriebsrenten entgegenzuwirken, und trägt andererseits dem Bedürfnis der Arbeitgeber Rechnung, ihre finanziellen Lasten kalkulierbar zu halten. Das Rentenreformgesetz 1999 (BTDrucks 13/8011 vom 24. Juni 1997) hat allein die nachholende Anpassung in § 16 Abs. 4 BetrAVG entsprechend eingeschränkt. Die Norm regelt aber weder die hier streitige nachträgliche Anpassung von Betriebsrenten noch die Verwirkung. Daher musste das Bundesarbeitsgericht die Vorgaben der § 16 Abs. 2 bis 4 BetrAVG insoweit nicht als abschließende Regelung verstehen. Es geht nachvollziehbar davon aus, dass daneben weitere Tatbestände zum Schutz der Rechtssicherheit anzuerkennen seien. Weder Wortlaut, Gesetzessystematik noch Entstehungsgeschichte des § 16 Abs. 4 BetrAVG erfordern die Annahme, dass die sogenannte Befriedungsrechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts im Rahmen dessen, was der Gesetzgeber nicht geregelt hat, nicht mehr gelten soll.
Rz. 8
Es ist daher verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn das Bundesarbeitsgericht dem Anspruch auf nachträgliche Anpassung von Betriebsrenten eine Rüge- und Klageobliegenheit zugrunde legt. Ein anderweitiger klar erkennbarer Wille des Gesetzgebers wird damit nicht übergangen. Das Bundesarbeitsgericht bewegt sich daher mit dieser Annahme in den Grenzen vertretbarer Auslegung und Anwendung einfachen Rechts.
Rz. 9
Es ist auch nicht erkennbar, dass die Versorgungsberechtigten durch diese Auslegung und Anwendung der Norm untragbar belastet würden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Darlegungs- und Beweislast für alle die Anpassungsentscheidung beeinflussenden Umstände den Arbeitgeber trifft. Die Versorgungsempfänger können sich daher auch ohne nähere Kenntnis der Gründe für die Anpassung auf deren Fehlerhaftigkeit berufen. Zudem berücksichtigt das Bundesarbeitsgericht in den hier angegriffenen Entscheidungen auch die Zeit-, Umstands- und Zumutbarkeitsmomente des konkreten Einzelfalls. Auch deshalb wird mit der Annahme, die Versorgungsempfänger müssten ihre Rechte innerhalb eines überschaubaren Zeitraums geltend machen, nichts Unzumutbares verlangt.
Rz. 10
Ob im Einzelfall tatsächlich eine Verwirkung eingetreten ist, ist eine Frage der Würdigung des Sachverhalts und der Anwendung einfachen Rechts. Es ist insoweit der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen (vgl. BVerfGE 1, 418 ≪420≫; stRspr).
Rz. 11
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Rz. 12
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Fundstellen
Dokument-Index HI14573575 |