Leitsatz (amtlich)
Zum Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für den Jugendstrafvollzug.
Verfahrensgang
Tenor
Die Verfassungsbeschwerden werden zurückgewiesen.
Die Bundesrepublik Deutschland hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
A.
Die Verfassungsbeschwerden betreffen die Frage der Zulässigkeit eingreifender Maßnahmen im Jugendstrafvollzug, für die eine spezielle gesetzliche Grundlage nicht besteht.
I.
Der Beschwerdeführer verbüßt seit dem 1. Juli 2003 eine Jugendstrafe in einer Jugendstrafanstalt im Sinne der §§ 17 Abs. 1, 92 Abs. 1 JGG. Das Strafende ist auf den 23. August 2011 notiert.
1. Der Verfassungsbeschwerde 2 BvR 1673/04 liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Im Dezember 2003 stellte der Beschwerdeführer bei der Justizvollzugsanstalt den Antrag, die allgemeine Kontrolle seiner Post aufzuheben; zugleich wandte er sich gegen eine Reihe von Disziplinarmaßnahmen, die die Anstalt unter anderem wegen wiederholter tätlicher Auseinandersetzungen mit Mitgefangenen, einer Bedrohung von Bediensteten, des Konsums von selbst hergestelltem Alkohol, unerlaubten Besitzes einer Tätowiermaschine und mehrfacher Weigerung, Arbeitsanordnungen Folge zu leisten, gegen ihn verhängt hatte. Die Justizvollzugsanstalt lehnte den Antrag ab. Abgesehen von Schreiben an Verteidiger und an die in Nr. 24 Abs. 2 der Verwaltungsvorschriften zum Jugendstrafvollzug (VVJug) aufgeführten Institutionen werde der Schriftwechsel aller Strafgefangenen in dieser Justizvollzugsanstalt gemäß Nr. 24 Abs. 3 VVJug überwacht. Gründe, beim Beschwerdeführer von dieser Regelung abzuweichen, seien nicht ersichtlich. Die beanstandeten Disziplinarmaßnahmen seien sämtlich vollstreckt; der Beschwerdeführer sei daher durch sie nicht mehr beschwert.
Der Beschwerdeführer legte Widerspruch ein, den das Landesjustizvollzugsamt Nordrhein-Westfalen zurückwies. Soweit der Widerspruch die Disziplinarmaßnahmen betreffe, sei er wegen Versäumung der Wochenfrist nach § 3 Abs. 2 Vorschaltverfahrensgesetz NRW unzulässig. Die Postkontrolle sei schon angesichts der in der Anstalt dokumentierten Auffälligkeiten des Beschwerdeführers, die in mehreren Disziplinarverfahren ihren Niederschlag gefunden hätten, nicht zu beanstanden. Die bundeseinheitlichen Verwaltungsvorschriften zum Jugendstrafvollzug, die sich, soweit nicht wegen der Besonderheiten des Jugendstrafvollzugs Abweichungen geboten seien, an den Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes und den hierzu ergangenen Verwaltungsvorschriften orientierten, seien rechtmäßig und bis zum Erlass umfassender gesetzlicher Regelungen bindend. Der Schriftwechsel werde in der Anstalt allgemein für alle Inhaftierten überwacht, weil gerade in dem sensiblen Bereich des Jugendvollzugs Kenntnisse aus dem sozialen Umfeld zur Erfüllung des Erziehungsauftrages notwendig seien. In Anbetracht der vielfältigen Disziplinarverfahren sei zudem mit weiteren Vorfällen zu rechnen, so dass die Briefkontrolle auch aus Gründen der Sicherheit und Ordnung der Anstalt verhältnismäßig sei.
Gegen diesen Bescheid stellte der Beschwerdeführer Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach §§ 23 ff. EGGVG. Die Postkontrolle sei mit Grundrechtseingriffen verbunden, die über die bloße Freiheitsentziehung hinausgingen. Hierfür fehle die erforderliche gesetzliche Grundlage. Der Gesetzgeber habe es bis heute versäumt, die erforderlichen gesetzlichen Voraussetzungen in Form eines Jugendstrafvollzugsgesetzes zu schaffen. Eine analoge Anwendung des Strafvollzugsgesetzes auf den Jugendstrafvollzug komme nicht in Betracht.
Mit Beschluss vom 1. Juli 2004 verwarf das Oberlandesgericht den Antrag. Soweit der Widerspruch sich gegen die Disziplinarmaßnahmen gewandt habe, sei er zu Recht als unzulässig verworfen worden. Hinsichtlich der Postkontrolle sei der Antrag unbegründet. Der Anstaltsleiter sei schon aus Gründen der Erziehung gegenüber dem Beschwerdeführer ermächtigt, den Schriftwechsel zu überwachen. Das durch Art. 10 Abs. 1 GG geschützte Brief- und Postgeheimnis werde nicht verletzt. Zwar fehle es an einem förmlichen Gesetz, denn das Strafvollzugsgesetz sei nicht unmittelbar anwendbar und es liege derzeit nur ein Gesetzesentwurf für ein Jugendstrafvollzugsgesetz vor. Die Frage der Verfassungsmäßigkeit des jetzigen Jugendstrafvollzugs sei umstritten. Die Oberlandesgerichte hätten aber in keinem der zu entscheidenden Fälle Maßnahmen im Jugendstrafvollzug mangels gesetzlicher Grundlage für verfassungswidrig befunden. Auch das Bundesverfassungsgericht habe hierüber bis heute nicht entschieden. Zum Teil werde die Auffassung vertreten, zur Vermeidung eines Rechtsvakuums sei für einen Übergangszeitraum die analoge Heranziehung des Strafvollzugsgesetzes einschließlich der bestehenden Richtlinien vorzugswürdig. Das Oberlandesgericht habe dementsprechend bereits in früheren Entscheidungen die entsprechende Anwendung von Bestimmungen des Strafvollzugsgesetzes für Beschränkungen im Vollzug der Jugendstrafe für zulässig erachtet.
Bis zur Schaffung einer gesetzlichen Grundlage stelle der in § 29 StVollzG enthaltene, in Nr. 24 VVJug verdeutlichte und mit dem Erziehungsgedanken vereinbare Rechtsgedanke grundsätzlich eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage für die Postkontrolle dar. Die Überwachung des Schriftwechsels sei Ausdruck des § 91 JGG, der als Aufgabe des Jugendstrafvollzugs die Erziehung des Verurteilten zu einem künftig rechtschaffenen und verantwortungsbewussten Lebenswandel normiere. Die Postkontrolle sei im vorliegenden Fall ein geeignetes und erforderliches Mittel zur Erfüllung des Erziehungsauftrags. In Anbetracht der vielfältigen, durch verhängte Disziplinarmaßnahmen dokumentierten Auffälligkeiten des Beschwerdeführers, in denen sich zeige, dass er die Regeln des Vollzuges nicht akzeptiere, bedürfe es engmaschiger Kontrolle. Um dem Erziehungsauftrag in der Person des Beschwerdeführers gerecht zu werden, seien umfassende Kenntnisse aus seinem sozialen Umfeld erforderlich. Mildere Mittel – wie Aktenstudium, Gespräche mit dem Beschwerdeführer und seiner Familie, die nicht erzwungen werden könnten – seien nicht geeignet, diese Kenntnisse zu erlangen. Aufgrund der vielfältigen Disziplinarverfahren gegen den Beschwerdeführer sei zudem mit weiteren Vorfällen zu rechnen, so dass die Briefkontrolle auch aus Gründen der Sicherheit und Ordnung in der Anstalt verhältnismäßig sei.
2. Der Rechtsstreit, der der Verfassungsbeschwerde 2 BvR 2402/04 zugrundeliegt, betrifft ebenfalls eine Maßnahme der Justizvollzugsanstalt. Im Mai 2004 verhängte der Anstaltsleiter gegen den Beschwerdeführer wegen maßgeblicher Beteiligung an einer tätlichen Auseinandersetzung mit einem Mitgefangenen, dem der Beschwerdeführer mehrmals ins Gesicht geschlagen habe, als Disziplinarmaßnahme nach Nr. 87 Abs. 1 Ziff. 2, 3 und 4 VVJug die Minderung des Einkaufs um 50 Prozent für einen Monat sowie den Ausschluss des Beschwerdeführers von der Teilnahme an Gemeinschaftsveranstaltungen und den Entzug des Fernsehens für vierzehn Tage. Den nach erfolglosem Widerspruchsverfahren gestellten, wiederum auf das Fehlen einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage gestützten Antrag des Beschwerdeführers auf gerichtliche Entscheidung nach §§ 23 ff. EGGVG verwarf das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 2. November 2004 unter Verweis auf den Beschluss vom 1. Juli 2004. Die dort angeführten Gründe für die Entbehrlichkeit eines Jugendstrafvollzugsgesetzes bei der Überwachung des Schriftwechsels seien auf Disziplinarmaßnahmen übertragbar.
3. Im September 2005 wurde der Beschwerdeführer in eine andere Jugendstrafanstalt verlegt.
II.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts vom 1. Juli 2004, gegen den er sich allein hinsichtlich der Postkontrolle wendet, macht der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Grundrechts aus Art. 10 Abs. 1 GG geltend. Durch den mit der zweiten Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluss vom 2. November 2004 sieht er sich in seinen Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 GG verletzt.
Die Maßnahmen seien nicht gerechtfertigt gewesen, weil ein Gesetz als Ermächtigungsgrundlage fehle. Aus dem Erziehungsgedanken könne – wie von den Amtsgerichten Rinteln und Herford in Vorlagebeschlüssen an das Bundesverfassungsgericht vom 25. Oktober 2001 und vom 18. Februar 2002 näher ausgeführt – eine Ermächtigungsgrundlage nicht hergeleitet werden, weil der vom Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung zum Strafvollzug vom 14. März 1972 (BVerfGE 33, 1) gewährte Übergangszeitraum ergebnislos abgelaufen sei.
III.
Die Verfassungsbeschwerden wurden dem Deutschen Bundestag, der Bundesregierung, dem Bundesrat und allen Landesregierungen zugestellt.
Das Bundesministerium der Justiz hat namens der Bundesregierung auf seinen im April 2004 vorgestellten Entwurf für ein Jugendstrafvollzugsgesetz verwiesen. Die Länder und Verbände seien zwischenzeitlich beteiligt worden. Infolge der Abkürzung der Legislaturperiode habe sich das Kabinett mit dem Gesetzentwurf nicht mehr befasst. Das Vorhaben solle in der neuen Legislaturperiode wieder aufgegriffen und möglichst zeitnah in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht werden.
Für die Bayerische Staatsregierung hat sich das Bayerische Staatsministerium der Justiz geäußert. Es erachtet die Verfassungsbeschwerden für – soweit zulässig – unbegründet. Für die Maßnahmen der Justizvollzugsanstalt bestehe eine ausreichende gesetzliche Grundlage. Der bisherige Zustand mit einigen gesetzlichen Regelungen zum Jugendstrafvollzug in den §§ 91, 92, 114, 115 JGG, §§ 43 – 52, §§ 94 – 101, §§ 176, 178 StVollzG, § 23 Abs. 1 Satz 2 EGGVG und ergänzenden Verwaltungsvorschriften sei ausreichend.
Die übrigen Äußerungsberechtigten haben von einer Stellungnahme abgesehen.
IV.
1. In der mündlichen Verhandlung hat der Beschwerdeführer sein schriftsätzliches Vorbringen wiederholt.
2. Für die Bundesregierung hat die Bundesministerin der Justiz die bisherigen Bemühungen um ein Jugendstrafvollzugsgesetz bis hin zu dem im April 2004 vorgelegten Entwurf dargestellt. Unter den Gründen dafür, dass diese Bemühungen bislang nicht zum Erfolg geführt haben, sei im Laufe der Zeit immer mehr der Gesichtspunkt der Kosten, die bei den für die Finanzierung des Vollzuges verantwortlichen Ländern anfallen würden, in den Vordergrund getreten. Zwar sei es unbefriedigend, dass ein Jugendstrafvollzugsgesetz aus einem Guss bislang nicht zustandegekommen sei. Für die in der Vollzugspraxis unstreitig notwendigen Disziplinar- und Postkontrollmaßnahmen reichten jedoch die vorhandenen Rechtsgrundlagen im Jugendgerichtsgesetz sowie im Strafvollzugsgesetz, dessen Regelungen entsprechend herangezogen werden könnten, noch aus. Die ständige Rechtsprechung der Oberlandesgerichte bestätige dies.
3. Für die Regierung des Landes Nordrhein-Westfalen hat Leitender Ministerialrat Gröner ausgeführt, das Land Nordrhein-Westfalen habe die Bemühungen des Bundes zur Schaffung eines Jugendstrafvollzugsgesetzes begrüßt und im Grundsatz unterstützt. Richtig sei allerdings, dass es in einzelnen Bereichen Meinungsverschiedenheiten gegeben habe, besonders hinsichtlich kostenträchtiger Vorschriften wie der Verpflichtung, eine bestimmte Quote an Ausbildungsplätzen vorzuhalten, oder zwingender Vorgaben für Wohngruppengrößen. Eine Verständigung auf weichere Formulierungen sei im Gange gewesen. Die tatsächliche Ausgestaltung des Jugendstrafvollzuges in Nordrhein-Westfalen entspreche den rechtlichen Besonderheiten. Die Personalbemessung sei deutlich günstiger als für den Erwachsenenstrafvollzug. Auf die Sicherung der spezifischen Qualifikation des Personals werde Wert gelegt; so würden für den Einsatz in Jugendstrafanstalten von den Absolventen der Ausbildung für den Allgemeinen Vollzugsdienst diejenigen mit besonders guten Leistungen in den Fächern Psychologie, Berufspädagogik, Kriminologie und Soziale Hilfen ausgewählt. Die Gefangenen in den Jugendstrafanstalten seien überwiegend in Wohngruppen mit bis zu 20 oder in Vollzugsabteilungen mit bis zu 50 Gefangenen untergebracht. Es existierten spezielle Abteilungen für besondere Gefangenengruppen wie Gewalt- und Sexualstraftäter, Drogenabhängige und den relativ geringen Anteil der minderjährigen Gefangenen, sowie ein breites Spektrum an Behandlungsmaßnahmen und ein umfangreiches Angebot an schulischer und beruflicher Ausbildung.
Besondere Bemühungen gälten einer auch in beruflicher Hinsicht intensiveren Vorbereitung der Entlassungsphase, unter anderem durch stärkere Zusammenarbeit mit Außenstehenden. So hätten sich im Rahmen eines Projekts Gewerkschaften, Arbeitgeber, Justiz, Bewährungshilfe und freie Wohlfahrtsverbände zu einem Netzwerk zusammengeschlossen, das sich bemühe, Gefangene, die erfolgreich an einer Berufsausbildungsmaßnahme teilgenommen haben, nach der Entlassung auf eine Arbeitsstelle zu vermitteln, indem schon in der Endphase des Vollzuges die Schiene zu einem bestimmten Arbeitsplatz gelegt werde. Erste Zahlen deuteten darauf hin, dass dies eine signifikante Senkung auch der Rückfallquoten bewirken könne. Die Konzeption für den Jugendvollzug in Nordrhein-Westfalen zeige, dass es zur Herstellung und Entwicklung eines dem Erziehungsauftrag verpflichteten Jugendstrafvollzuges eines Gesetzes nicht bedürfe.
4. a) Die sachverständigen Auskunftspersonen Prof. Dr. Frieder Dünkel, Prof. Dr. Bernd-Rüdeger Sonnen und Dr. Joachim Walter haben übereinstimmend hervorgehoben, dass das Jugendstrafrecht nicht eine Kleinausgabe des Erwachsenenstrafrechts und der Jugendstrafvollzug nicht eine “light-Variante” des Erwachsenenstrafvollzuges sei und sein dürfe; vielmehr handele es sich um etwas grundsätzlich anderes.
b) Prof. Dr. Dünkel hat ausgeführt, die tatsächlichen Verhältnisse im Jugendstrafvollzug seien außerordentlich unterschiedlich. Schon die Gefangenenraten seien, bedingt durch voneinander abweichende Handhabungen des Jugendstrafrechts, in den Ländern verschieden hoch und entwickelten sich von Land zu Land unterschiedlich.
So betrage etwa die Gefangenenrate im Jugendstrafvollzug (Anzahl der inhaftierten Jugendlichen pro 100.000 der 15- bis 25jährigen Bevölkerung, jeweils auf ganze Zahlen gerundet) in Schleswig-Holstein 64, in Mecklenburg-Vorpommern bei vergleichbarer Kriminalitätsstruktur dagegen mit 124 fast das Doppelte; in Sachsen-Anhalt (162) liege sie um mehr als das Doppelte höher als in Baden-Württemberg (71). Allein in den letzten fünf Jahren habe die Gefangenenrate sich in einigen Ländern, wie zum Beispiel in Hamburg, um die Hälfte erhöht, in anderen sei sie dagegen um mehr als vierzig Prozent zurückgegangen.
Nach einer Umfrage bei den 27 deutschen Jugendstrafanstalten, die rechtzeitigen verwertbaren Rücklauf von 24 dieser Anstalten erbracht habe, variierten auch die Vollzugsgestaltung und die personellen Ausstattungen erheblich. So betrage die Belegung im offenen Vollzug zwischen null Prozent in Bremen und im Saarland und 16 beziehungsweise 17 Prozent in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. Insgesamt sei der offene Jugendstrafvollzug nur zu drei Vierteln belegt; im geschlossenen Vollzug reiche dagegen die Auslastung von 70 Prozent in Hamburg bis zu 154 Prozent in einer sächsischen Anstalt. Die Personalsituation sei ebenfalls sehr uneinheitlich, die Anzahl der Gefangenen, für die jeweils ein Psychologe, und die Anzahl der Gefangenen, für die jeweils ein Sozialarbeiter zur Verfügung steht, wichen zwischen den einzelnen Anstalten zum Teil um ein Vielfaches voneinander ab. Auch die Behandlungsangebote unterschieden sich. Von den 22 befragten geschlossenen Anstalten böten 96 Prozent ein soziales Training an, 77 Prozent ein Antiaggressivitätstraining und 36 Prozent ein Behandlungsprogramm für Sexualstraftäter. In 55 Prozent der Anstalten bestünden kunst- und musiktherapeutische oder vergleichbare Behandlungsprogramme. Schulausbildungsmaßnahmen gebe es in allen 22 geschlossenen Anstalten. Arbeitstherapeutische Angebote seien in 91 Prozent der Anstalten etabliert, kurzfristige, das heißt auf bis zu zwölf Monate angelegte Berufsvorbereitungs- oder Berufsausbildungsmaßnahmen ebenfalls in 91 und längerfristige in 77 Prozent der Anstalten. Die Teilnehmerzahlen seien aufgrund von Mehrfachnennungen nicht genau angebbar. Die Zahlen deuteten darauf hin, dass die Behandlungssituation im Jugendstrafvollzug wesentlich günstiger sei als im Erwachsenenstrafvollzug. Zu Vollzugslockerungen und Hafturlaub zeichne sich ab, dass diese sich auf die wenigen offenen Anstalten und Abteilungen beschränkten, auch wenn verlässliche Zahlen noch nicht abschließend zu ermitteln gewesen seien.
Der Anteil der noch nicht Achtzehnjährigen liege im Jugendstrafvollzug insgesamt nur bei etwa 10 Prozent. Bei denjenigen, die als nach Jugendstrafrecht verurteilte Heranwachsende (§ 105 JGG) oder als während des Vollzugs der Jugendstrafe dem Jugend- oder Heranwachsendenalter Entwachsene in Jugendstrafanstalten inhaftiert seien, bestehe aber eine vergleichbare spezifische Problemlage. So bestünden bei den im Jugendstrafvollzug Inhaftierten insgesamt besondere Ausbildungsdefizite; der Anteil der Inhaftierten ohne abgeschlossene Schul- und Berufsausbildung sei ungleich höher als im Erwachsenenstrafvollzug.
Angesichts der erheblichen Unterschiede in der Vollzugspraxis und mit Blick auf den Stand der empirischen Forschung zu den Erfolgen unterschiedlicher Behandlungsprogramme und Vollzugsformen sei eine gesetzliche Regelung geboten, die eine resozialisierungsfreundliche Ausgestaltung des Vollzuges, besonders hinsichtlich der Schul- und Berufsausbildung, der Entlassungsvorbereitung – einschließlich Vollzugslockerungen – und einer damit bruchlos zu verknüpfenden Nachbetreuung, verbindlich absicherten.
c) Prof. Dr. Sonnen hat die Einschätzung, dass eine den Besonderheiten des Jugendstrafvollzuges entsprechende gesetzliche Regelung erforderlich sei, bestätigt. Die vorhandenen Regelungen seien auch aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht ausreichend. Eine entsprechende Anwendung des Strafvollzugsgesetzes scheide nicht nur angesichts der angesprochenen besonderen Erfordernisse des Jugendstrafvollzuges, sondern auch deshalb aus, weil es an einer planwidrigen Regelungslücke fehle. Die gegenwärtige Ausgestaltung des Rechtsschutzes für im Jugendstrafvollzug Inhaftierte sei ungeeignet; erforderlich seien anstelle des Rechtswegs zum Oberlandesgericht eine niedrigschwellige Rechtsschutzmöglichkeit und ein vorgeschaltetes mediatives Konfliktschlichtungsverfahren.
d) Der Leiter der Jugendstrafvollzugsanstalt Adelsheim, Dr. Walter, hat ausgeführt, die Population im Jugendstrafvollzug unterscheide sich vor allem hinsichtlich des Alters, der Deliktsstruktur und des Ausbildungsstandes wesentlich von der im Erwachsenenstrafvollzug. Der Anteil der im Sinne des Gesetzes jugendlichen Insassen der Jugendstrafanstalten schwanke im Zeitverlauf, in Baden-Württemberg zwischen zehn und zwanzig Prozent. Der weitaus größte Teil der Gefangenen verfüge über keinerlei Schul- und Ausbildungsabschluss. Um den Besonderheiten des Jugendalters und den damit zusammenhängenden Problemen gerecht zu werden, seien besondere gesetzliche Regelungen erforderlich; dies betreffe unter anderem Bildung und Ausbildung, Vorgaben für eine gesunde körperliche und geistige Entwicklung – insbesondere Unterbringung, Lebenshaltung, Gesundheitsfürsorge und Sport –, die Kommunikation mit der Außenwelt, die Unterbringung im offenen Vollzug und die Gewährung von Vollzugslockerungen, den Umgang mit Pflichtverstößen, einschließlich anderer als disziplinarischer Maßnahmen der Konfliktregelung, die Fragen der isolierenden Einzelhaft und des Schusswaffengebrauchs sowie eine jugendgemäße Ausgestaltung des Rechtsschutzes, die berücksichtige, dass das Verfassen schriftlicher Eingaben nicht der Lebenslage und oft auch nicht den Fähigkeiten Jugendlicher entspreche. Die gesetzliche Festlegung von Mindeststandards sei essentiell in Bezug auf Anstaltsgröße, Belegung, Unterbringung, Schul- und Berufsausbildung, Sport, Freizeit und Personal.
Entscheidungsgründe
B.
Die Verfassungsbeschwerden sind zulässig.
Das Rechtsschutzbedürfnis für die Verfassungsbeschwerden ist nicht wegen zwischenzeitlichen Vollzugs der Disziplinarmaßnahmen, die dem Beschluss vom 2. November 2004 zugrundelagen, oder deshalb entfallen, weil der Beschwerdeführer inzwischen verlegt worden ist. Die Zulässigkeit eines Rechtsschutzbegehrens ist allerdings vom Vorliegen eines schutzwürdigen Interesses abhängig. Dieses Interesse kann jedoch in besonderen Fällen trotz Erledigung des ursprünglichen Rechtsschutzziels fortbestehen (vgl. BVerfGE 104, 220 ≪232≫; 110, 77 ≪85 f.≫ – stRspr).
Die Rechtmäßigkeit der gegen den Beschwerdeführer verhängten Disziplinarmaßnahmen kann bei zukünftigen Prognoseentscheidungen und bei der Festsetzung weiterer Disziplinarmaßnahmen von Bedeutung sein. Die gerichtliche Bestätigung der Rechtmäßigkeit dieser Maßnahmen ist daher geeignet, den Beschwerdeführer weiterhin zu beeinträchtigen; zudem besteht Wiederholungsgefahr. Dies sind Gründe für einen Fortbestand des Rechtsschutzinteresses auch nach Erledigung des ursprünglichen Rechtsschutzziels (vgl. BVerfGE 81, 138 ≪140 f.≫; 103, 44 ≪58 f.≫; 104, 220 ≪233≫; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Februar 1994 – 2 BvR 1567/93 –, ZfStrVo 1994, S. 242 ≪243≫).
Für die Verfassungsbeschwerde, die sich gegen die gerichtliche Bestätigung der Postkontrolle wendet, besteht das Rechtsschutzbedürfnis ebenfalls fort. Auch hier ist eine Wiederholung der angegriffenen Maßnahme zu besorgen. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob auch in der Justizvollzugsanstalt, in die der Beschwerdeführer verlegt worden ist, eine allgemeine Postkontrolle aller Gefangenen praktiziert wird. Dass die Post des Beschwerdeführers auch hier allgemein oder im Einzelfall aus Gründen der Erziehung oder der Sicherheit und Ordnung der Anstalt überwacht werden wird, liegt angesichts der Gründe, die für die Kontrolle seiner Post in der früheren Anstalt angeführt worden sind, nahe. Weitere Gesichtspunkte, die im vorliegenden Fall für den Fortbestand des Rechtsschutzinteresses sprechen, sind die Schwere des geltend gemachten Grundrechtseingriffs (vgl. BVerfGE 81, 138 ≪140≫; 104, 220 ≪232≫), die Bedeutung der Rechtsfrage, um deren Klärung es geht (vgl. BVerfGE 81, 138 ≪140≫; 98, 169 ≪197 f.≫), und die Umstände der eingetretenen Erledigung. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen einen schwerwiegenden Eingriff in das durch Art. 10 Abs. 1 GG geschützte Briefgeheimnis und wirft mit seiner Verfassungsbeschwerde eine verfassungsrechtliche Frage von grundsätzlicher Bedeutung auf.
C.
Die Verfassungsbeschwerden sind unbegründet.
Für Maßnahmen, die in Grundrechte des Gefangenen eingreifen, ist auch im Jugendstrafvollzug eine gesetzliche Grundlage erforderlich. Diese besteht bislang weder für die Kontrolle der Gefangenenpost noch für die Anordnung von Disziplinarmaßnahmen. Für eine begrenzte Übergangszeit bis zum Inkrafttreten der erforderlichen gesetzlichen Regelungen müssen jedoch eingreifende Maßnahmen hingenommen werden, soweit sie zur Aufrechterhaltung eines geordneten Jugendstrafvollzuges unerlässlich sind. Nach diesem Maßstab haben die angegriffenen Beschlüsse Bestand.
I.
1. Eingriffe in Grundrechte bedürfen einer gesetzlichen Grundlage. Seit 1972 ist geklärt, dass von diesem Erfordernis auch Eingriffe in die Grundrechte von Strafgefangenen nicht ausgenommen sind (BVerfGE 33, 1 ≪9 f.≫; vgl. auch BVerfGE 58, 358 ≪367≫). Grundrechtseingriffe, die über den Freiheitsentzug als solchen hinausgehen, bedürfen danach unabhängig von den guten oder sogar zwingenden sachlichen Gründen, die für sie sprechen mögen, einer eigenen gesetzlichen Grundlage, die die Eingriffsvoraussetzungen in hinreichend bestimmter Weise normiert (vgl. BVerfGE 40, 276 ≪283≫).
Es gibt keinen Grund, weshalb für den Jugendstrafvollzug etwas anderes gelten sollte. Gefangene im Jugendstrafvollzug sind Grundrechtsträger wie andere Gefangene auch. Hinsichtlich der verfassungsrechtlich gebotenen Regelungsform für Grundrechtseingriffe besteht daher zwischen Erwachsenen- und Jugendstrafvollzug kein Unterschied.
Die inhaltliche Ausgestaltung des Strafvollzuges für jugendliche und ihnen in der Entwicklung gleichstehende heranwachsende Straftäter unterliegt allerdings besonderen verfassungsrechtlichen Anforderungen, die auch für die Reichweite des Erfordernisses gesetzlicher Regelung im Jugendstrafvollzug von Bedeutung sind.
2. Die zur Sicherung einer dem entsprechenden Vollzugsgestaltung und als Grundlage der erforderlichen Grundrechtseingriffe notwendigen gesetzlichen Grundlagen existieren für den Jugendstrafvollzug bislang nicht.
Spezifische gesetzliche Regelungen für den Jugendstrafvollzug finden sich nur in wenigen Einzelvorschriften des Jugendgerichtsgesetzes und des Strafvollzugsgesetzes.
§ 91 JGG bestimmt zur Aufgabe des Jugendstrafvollzuges, den Verurteilten dazu zu erziehen, künftig einen rechtschaffenen und verantwortungsbewussten Lebenswandel zu führen (Abs. 1), und stellt einige allgemeine Grundsätze auf. Befugnisse zum Eingriff in Grundrechte will und kann die Bestimmung mit diesen Inhalten nicht vermitteln. Insbesondere folgen solche Befugnisse nicht aus einer bloßen Aufgabenbestimmung. § 92 JGG regelt, dass die Jugendstrafe in Jugendstrafanstalten vollzogen wird, und lässt unter bestimmten Voraussetzungen Ausnahmen hiervon zu, die in den Anwendungsbereich der Vorschriften über den Strafvollzug für Erwachsene verwiesen werden. § 115 JGG ermächtigt die Bundesregierung, mit Zustimmung des Bundesrates Vorschriften über näher bezeichnete wesentliche Elemente des Vollzugs der Jugendstrafe durch Rechtsverordnung zu erlassen. Von der Verordnungsermächtigung, die selbst noch keine Eingriffsgrundlage darstellt (vgl. Rzepka, in: Pollähne u.a., Wege aus der Gesetzlosigkeit, 2004, S. 27 ≪33 f.≫), wurde bisher kein Gebrauch gemacht.
Das Strafvollzugsgesetz bezieht sich nur mit wenigen Bestimmungen auf den Jugendstrafvollzug. Nach Maßgabe des § 176 StVollzG sind Vorschriften über das Arbeitsentgelt und nach Maßgabe des § 178 StVollzG die Regelungen über die Anwendung unmittelbaren Zwangs auch für Gefangene in Jugendstrafanstalten anzuwenden. Im Übrigen gilt das Strafvollzugsgesetz für den Vollzug in Jugendstrafanstalten nicht. Dies geht besonders deutlich daraus hervor, dass § 178 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 4 StVollzG den Vollzug der Jugendstrafe “außerhalb des Anwendungsbereichs des Strafvollzugsgesetzes” ansiedelt, wird bestätigt durch die Entstehungsgeschichte des Strafvollzugsgesetzes und entspricht allgemeiner Auffassung (näher Bammann, RdJB 2001, S. 24 ≪26 f.≫; Rzepka, a.a.O., S. 27 f.; vgl. auch Calliess/Müller-Dietz, StVollzG, 10. Aufl. 2005, § 1 Rn. 7; Böhm, in: Schwind/Böhm/Jehle, StVollzG, 4. Aufl. 2005, § 1 Rn. 7; Arloth, in: Arloth/Lückemann, StVollzG, 2004, § 1 Rn. 2; Lesting, in: Feest, AK-StVollzG, 4. Aufl. 2000, § 1 Rn. 1).
Zur Überbrückung der Übergangszeit bis zum Inkrafttreten einer außenwirksamen rechtlichen Regelung haben die Landesjustizverwaltungen 1976 bundeseinheitliche Verwaltungsvorschriften zum Jugendstrafvollzug (VVJuG) vereinbart, die in den Ländern übereinstimmend 1977 in Kraft gesetzt und später auch in den neuen Ländern übernommen wurden. Diese zwischenzeitlich mehrfach geänderten Verwaltungsvorschriften (abgedruckt bei Eisenberg, JGG, 11. Aufl. 2006, S. 1013 ff.), die sich weitgehend an die Regelungen des Strafvollzugsgesetzes anlehnen, enthalten unter anderem Bestimmungen zur Überwachung des Schriftwechsels der Gefangenen (Nr. 24) und zur Verhängung von Disziplinarmaßnahmen bei Pflichtverstößen (Nr. 86 ff.). Es liegt in der Rechtsnatur dieser Bestimmungen, dass sie dem für Grundrechtseingriffe geltenden Vorbehalt des Gesetzes nicht genügen.
3. Der Mangel an gesetzlichen Grundlagen für den Jugendstrafvollzug lässt sich nicht durch Rückgriff auf Rechtsgedanken des Strafvollzugsgesetzes beheben.
a) Einer analogen Anwendung der Bestimmungen des Strafvollzugsgesetzes auf Disziplinarmaßnahmen im Jugendstrafvollzug steht bereits das aus Art. 103 Abs. 2 GG folgende Analogieverbot entgegen, das nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht nur für das Strafrecht im engeren Sinne, sondern grundsätzlich auch für Disziplinarstrafen gilt (vgl. BVerfGE 26, 186 ≪203 f.≫; 45, 346 ≪351≫).
b) Unabhängig davon ist fraglich, inwieweit außerhalb spezieller Analogieverbote, wie sie für das materielle Straf- und Disziplinarrecht und hinsichtlich der materiellrechtlichen Grundlagen von Freiheitsentziehungen (vgl. BVerfGE 29, 183 ≪195 f.≫; 34, 293 ≪301 f.≫; 83, 24 ≪31 f.≫) gelten, auch eine nur analog anwendbare gesetzliche Vorschrift dem Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für Grundrechtseingriffe genügen kann. Diese Frage bedarf hier keiner abschließenden Klärung. Nach dem Sinn und Zweck des Gesetzesvorbehalts scheidet eine Schließung von Regelungslücken im Wege der Analogie jedenfalls dann aus, wenn für eine ganze Rechtsmaterie mit vielfältigem Grundrechtsbezug der Gesetzgeber die Entscheidung über deren Ausgestaltung nicht getroffen und die dazu erforderlichen grundrechtsrelevanten Abwägungen nicht vorgenommen hat. So liegt es hier. Ausreichende gesetzliche Eingriffsgrundlagen fehlen für beinahe den gesamten Bereich des Jugendstrafvollzuges.
c) Die Voraussetzungen für eine analoge Gesetzesanwendung liegen auch im Übrigen nicht vor. Die bestehende außerordentlich breite Regelungslücke ist nicht planwidrig (vgl. H…-J… Albrecht, RdJB 2003, S. 352 ≪358≫; Rzepka, a.a.O., S. 41). Planwidrig ist allenfalls, dass sie trotz zahlreicher Anläufe (vgl. im Einzelnen Bammann, RdJB 2001, S. 24 ≪25 ff.≫; Albrecht, a.a.O., S. 355; Höflich, in: Pollähne/Bammann/Feest, a.a.O., S. 91 ff.; zum Entwurf des Bundesministeriums der Justiz vom April 2004 J. Walter, Neue Kriminalpolitik 2005, S. 17 f.; Laubenthal, in: DVJJ Nordbayern ≪Hg.≫, Entwicklungen im Jugendstrafrecht, 2005, S. 76 ff.) bis heute nicht geschlossen wurde.
Jedenfalls im Anwendungsbereich verfassungsrechtlicher Gesetzesvorbehalte hat der Auslegungsgrundsatz, dass die analoge Anwendung gesetzlicher Vorschriften eine planwidrige Regelungslücke voraussetzt (vgl. BGHZ 155, 380 ≪389≫, m.w.N.), verfassungsrechtliche Bedeutung. Er stellt sicher, dass nicht kraft Richterrechts gesetzliche Vorschriften als Eingriffsgrundlage in einem Bereich Anwendung finden, deren Anwendung in diesem Bereich der Gesetzgeber bewusst nicht vorgesehen hat. Eben dies trifft hier zu. Der Gesetzgeber hat sich bewusst gegen die Einbeziehung des Jugendstrafvollzuges in den Anwendungsbereich des Strafvollzugsgesetzes entschieden.
Dies zeigt bereits die deutliche Regelung des § 178 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 4 StVollzG (vgl. Bammann, a.a.O., S. 26). Auch die Begründung zum Regierungsentwurf des Strafvollzugsgesetzes (vom 23. Juli 1973, BTDrucks 7/918, S. 43) ging dahin, dass der Anwendungsbereich des Gesetzes sich nicht auf den Jugendstrafvollzug erstrecke. Nach der Entwurfsbegründung sollte allerdings zugleich die Möglichkeit einer analogen Anwendung des Gesetzes in diesem Bereich vorbehaltlich entgegenstehender erzieherischer Gesichtspunkte nicht ausgeschlossen werden (a.a.O., S. 43). Auch wenn der Gesetzgeber dies in seinen Willen aufgenommen haben sollte, konnte er damit aber die analoge Anwendbarkeit des Strafvollzugsgesetzes nicht in verfassungskonformer Weise begründen. Denn die Frage, inwieweit Besonderheiten, die einfachgesetzlich im Erziehungsgedanken des Jugendgerichtsgesetzes zum Ausdruck gebracht sind, einer Ordnung des Jugendstrafvollzuges nach den Regeln des Erwachsenenstrafvollzuges entgegenstehen, durfte er nicht den Gerichten zur Beantwortung auf der Grundlage von Analogieüberlegungen überlassen, sondern musste sie selbst beantworten.
Angesichts der dargestellten Besonderheiten fehlt es auch an der für eine analoge Gesetzesanwendung erforderlichen Gleichartigkeit der zu regelnden Sachverhalte. Erwachsenen- und Jugendstrafvollzug haben es im Gegenteil mit so unterschiedlichen Sachverhalten zu tun, dass das Strafvollzugsgesetz in seiner geltenden Fassung den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine gesetzliche Regelung des Jugendstrafvollzuges auch dann nicht entspräche, wenn seine Anwendung für den Jugendstrafvollzug ausdrücklich vorgesehen wäre. Für den Jugendstrafvollzug bedarf es gesetzlicher Grundlagen, die auf die besonderen Anforderungen des Vollzuges von Strafen an Jugendlichen und ihnen gleichstehenden Heranwachsenden zugeschnitten sind.
4. a) Die Ausgangsbedingungen und Folgen strafrechtlicher Zurechnung sind bei Jugendlichen in wesentlichen Hinsichten andere als bei Erwachsenen (vgl. Böhm/Feuerhelm, Einführung in das Jugendstrafrecht, 4. Aufl. 2004, §§ 1 – 4; Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht, 14. Aufl. 2002, § 1; Eisenberg, JGG, 11. Aufl. 2006, Einl. Rn. 5, jew. m.w.N.). Jugendliche befinden sich biologisch, psychisch und sozial in einem Stadium des Übergangs, das typischerweise mit Spannungen, Unsicherheiten und Anpassungsschwierigkeiten, häufig auch in der Aneignung von Verhaltensnormen, verbunden ist. Zudem steht der Jugendliche noch in einem Alter, in dem nicht nur er selbst, sondern auch andere für seine Entwicklung verantwortlich sind. Die Fehlentwicklung, die sich in gravierenden Straftaten eines Jugendlichen äußert, steht in besonders dichtem und oft auch besonders offensichtlichem Zusammenhang mit einem Umfeld und Umständen, die ihn geprägt haben. Für das Jugendstrafrecht und den Jugendstrafvollzug gewinnt daher der Grundsatz, dass Strafe nur als letztes Mittel (vgl. BVerfGE 90, 145 ≪201≫) und nur als ein in seinen negativen Auswirkungen auf die Persönlichkeit des Betroffenen nach Möglichkeit zu minimierendes Übel (vgl. BVerfGE 45, 187 ≪238≫; 64, 261 ≪272 f.≫) verhängt und vollzogen werden darf, eine besondere Bedeutung.
b) Der Vollzug der Freiheitsstrafe muss auf das Ziel ausgerichtet sein, dem Inhaftierten ein künftiges straffreies Leben in Freiheit zu ermöglichen (vgl. BVerfGE 35, 202 ≪235 f.≫; 36, 174 ≪188≫; 45, 187 ≪238 f.≫; 64, 261 ≪276≫; 74, 102 ≪122 f.≫; 98, 169 ≪200 f.≫). Dieses – oft auch als Resozialisierungsziel bezeichnete – Vollzugsziel der sozialen Integration (vgl. BVerfGE 64, 261 ≪276≫), für den Erwachsenenstrafvollzug einfachgesetzlich in § 2 Satz 1 StVollzG festgeschrieben, ist im geltenden Jugendstrafrecht als Erziehungsziel verankert (§ 91 Abs. 1 JGG). Der Verfassungsrang dieses Vollzugsziels beruht einerseits darauf, dass nur ein auf soziale Integration ausgerichteter Strafvollzug der Pflicht zur Achtung der Menschenwürde jedes Einzelnen (vgl. BVerfGE 35, 202 ≪235 f.≫; 45, 187 ≪238≫) und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit staatlichen Strafens (vgl. BVerfGE 88, 203 ≪258≫) entspricht. Mit dem aus Art. 1 Abs. 1 GG folgenden Gebot, den Menschen nie als bloßes Mittel zu gesellschaftlichen Zwecken, sondern stets auch selbst als Zweck – als Subjekt mit eigenen Rechten und zu berücksichtigenden eigenen Belangen – zu behandeln (vgl. BVerfGE 109, 133 ≪150 f.≫), und mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist die Freiheitsstrafe als besonders tiefgreifender Grundrechtseingriff nur vereinbar, wenn sie unter Berücksichtigung ihrer gesellschaftlichen Schutzfunktion konsequent auf eine straffreie Zukunft des Betroffenen gerichtet ist. Zugleich folgt die Notwendigkeit, den Strafvollzug am Ziel der Resozialisierung auszurichten, auch aus der staatlichen Schutzpflicht für die Sicherheit aller Bürger. Zwischen dem Integrationsziel des Vollzugs und dem Anliegen, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen, besteht insoweit kein Gegensatz.
Für den Jugendstrafvollzug hat das Ziel der Befähigung zu einem straffreien Leben in Freiheit besonders hohes Gewicht.
Dies ergibt sich schon daraus, dass die Verpflichtung des Staates, negative Auswirkungen des Strafübels auf die Lebenstüchtigkeit des Gefangenen weitestmöglich zu mindern, hier besonders ausgeprägt ist. Auf den Jugendlichen wirkt die Freiheitsstrafe in einer Lebensphase ein, die auch bei nicht delinquentem Verlauf noch der Entwicklung zu einer Persönlichkeit dient, die in der Lage ist, ein rechtschaffenes Leben in voller Selbständigkeit zu führen. Indem der Staat in diese Lebensphase durch Entzug der Freiheit eingreift, übernimmt er für die weitere Entwicklung des Betroffenen eine besondere Verantwortung. Dieser gesteigerten Verantwortung kann er nur durch eine Vollzugsgestaltung gerecht werden, die in besonderer Weise auf Förderung – vor allem auf soziales Lernen sowie die Ausbildung von Fähigkeiten und Kenntnissen, die einer künftigen beruflichen Integration dienen – gerichtet ist. Hinzu kommt, dass beim jugendlichen Straftäter die Lebensspanne nach Verbüßung der Haft typischerweise besonders lang ist. Er wird in verhältnismäßig jungen Jahren – in einem statistisch betrachtet immer noch vergleichsweise hoch kriminalitätsanfälligen Alter – wieder in die Freiheit entlassen. Erfolgreiche Wiedereingliederung ist deshalb sowohl im Hinblick auf das weitere Leben des Betroffenen als auch im Hinblick auf den Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten von besonders großer Bedeutung.
c) Freiheitsstrafen wirken sich für Jugendliche in besonders einschneidender Weise aus. Das Zeitempfinden Jugendlicher ist anders als dasjenige Älterer. Typischerweise leiden sie stärker unter der Trennung von ihrem gewohnten sozialen Umfeld und unter erzwungenem Alleinsein. In ihrer Persönlichkeit sind Jugendliche weniger verfestigt als Erwachsene, ihre Entwicklungsmöglichkeiten sind offener. Aus alldem ergeben sich spezielle Bedürfnisse, besondere Chancen und Gefahren für die weitere Entwicklung und eine besondere Haftempfindlichkeit, vor allem auch eine spezifische Empfindlichkeit für mögliche schädliche Auswirkungen des Strafvollzugs (vgl. Schaffstein/Beulke, a.a.O., S. 6; Eisenberg, a.a.O., Einl. Rn. 5; J. Walter, ZJJ 2003, S. 397).
Die Bedeutung der Familienbeziehungen und der Möglichkeit, sie auch aus der Haft heraus zu pflegen (vgl. BVerfGE 89, 315 ≪322≫), ist für Gefangene im Jugendstrafvollzug altersbedingt besonders groß. Bei der Gruppe der im Rechtssinne jugendlichen Gefangenen sind zudem grundrechtlich geschützte Positionen der erziehungsberechtigten Eltern berührt (vgl. BVerfGE 107, 104 ≪119≫; Kremer, Der Einfluss des Elternrechts aus Art. 6 Abs. II, III GG auf die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen des JGG, 1984, S. 136 f.; M. Walter/Neubacher, ZfJ 2003, S. 1 ≪5≫; Böhm, RdJB 1970, S. 250 ≪252≫).
5. Ein der Achtung der Menschenwürde und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit staatlichen Strafens verpflichteter Strafvollzug muss diesen Besonderheiten, die jedenfalls bei einem noch jugendhaften Entwicklungsstand größtenteils auch auf Heranwachsende zutreffen, Rechnung tragen.
a) Das Erfordernis gesetzlicher Grundlagen, die den Besonderheiten des Jugendstrafvollzuges angepasst sind, bezieht sich dabei einerseits auf die über den Freiheitsentzug als solchen hinausgehenden Grundrechtseingriffe. Offensichtlich ist hier etwa ein im Hinblick auf physische und psychische Besonderheiten des Jugendalters spezieller Regelungsbedarf in Bezug auf Kontakte, körperliche Bewegung und die Art der Sanktionierung von Pflichtverstößen. So müssen etwa die Besuchsmöglichkeiten für familiäre Kontakte – auch im Hinblick auf Art. 6 Abs. 2 GG – um ein Mehrfaches über denen im Erwachsenenstrafvollzug (vgl. § 24 Abs. 1 Satz 2 StVollzG) angesetzt werden. Erforderlich sind des weiteren gesetzliche Vorkehrungen dafür, dass innerhalb der Anstalt einerseits Kontakte, die positivem sozialen Lernen dienen können, aufgebaut und nicht unnötig beschränkt werden, andererseits aber die Gefangenen vor wechselseitigen Übergriffen geschützt sind. Nach derzeitigem Erkenntnisstand ist dazu die Unterbringung in kleineren Wohngruppen, differenziert nach Alter, Strafzeit und Straftaten – etwa gesonderte Unterbringung von Gewalt- und Sexualtätern mit spezifischen Betreuungsmöglichkeiten – besonders geeignet.
Die sachverständigen Auskunftspersonen haben in der mündlichen Verhandlung zutreffend besonderen Regelungsbedarf auch für die Ausgestaltung des gerichtlichen Rechtsschutzes gesehen (vgl. auch Böhm, Strafvollzug, 3. Aufl. 2003, Rn. 442). Dessen gegenwärtige Ausgestaltung – der Rechtsweg zum Oberlandesgericht nach §§ 23 ff. EGGVG – genügt den Anforderungen eines effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) nicht. Die elementare Regel, dass der Rechtsstaat auch die Rechte derjenigen nicht verletzen darf, die das Recht gebrochen haben, erfordert eine Ausgestaltung des Rechtsschutzes, die die Wirksamkeit dieser Regel auch für den Strafvollzug sicherstellt. Die gesetzliche Ausgestaltung des Rechtsschutzes darf auch hier den Zugang zum Gericht nicht in unverhältnismäßiger, durch Sachgründe nicht gerechtfertigter Weise erschweren (vgl. BVerfGE 10, 264 ≪267≫; 88, 118 ≪124≫, m.w.N.) und muss daher auf die typische Situation und die davon abhängigen Möglichkeiten der Rechtsschutzsuchenden Rücksicht nehmen. Gefangene befinden sich in einem Rechtsverhältnis mit besonderen Gefährdungen, in dem sie auch in der Möglichkeit, sich der Hilfe Dritter zu bedienen, eng beschränkt sind. Die im Jugendstrafvollzug Inhaftierten sind zudem typischerweise besonders ungeübt im Umgang mit Institutionen und Schriftsprache; zu geeignetem schriftlichen Ausdruck sind sie häufig überhaupt nicht fähig. Ihre Verweisung auf ein regelmäßig ortsfernes, erst- und letztinstanzlich entscheidendes Obergericht, ohne besondere Vorkehrungen für die Möglichkeit mündlicher Kommunikation, wird dem – auch im Vergleich mit den für Gefangene im Erwachsenenstrafvollzug vorgesehenen Rechtsschutzmöglichkeiten – nicht gerecht (vgl. auch Eisenberg, a.a.O., Rn. 40 f. zu § 91 JGG; Butz, Die Verhängung von Jugendstrafe vor dem Hintergrund der Verfassungswidrigkeit des Jugendstrafvollzuges, 2004, S. 40; Böhm, in: Trenczek, Freiheitsentzug bei jungen Straffälligen, 1993, S. 197 ≪201≫; Dünkel, Freiheitsentzug für junge Rechtsbrecher, 1990, S. 139).
b) Das Erfordernis gesetzlicher Regelung betrifft über den Bereich der unmittelbar eingreifenden Maßnahmen hinaus auch die Ausrichtung des Vollzuges auf das Ziel der sozialen Integration (vgl. Butz, a.a.O., S. 41 ff.; s. auch M. Walter/Neubacher, ZfJ 2003, S. 1 ≪5 f.≫; Böhm/Feuerhelm, Einführung in das Jugendstrafrecht, 4. Aufl. 2004, S. 250 f.). Der Gesetzgeber selbst ist verpflichtet, ein wirksames Resozialisierungskonzept zu entwickeln und den Strafvollzug darauf aufzubauen (vgl. BVerfGE 98, 169 ≪201≫).
Für die Ausgestaltung dieses Konzepts hat er, nicht zuletzt im Hinblick darauf, dass gesichertes Wissen über die Wirksamkeit und das Verhältnis von Aufwand und Erfolg unterschiedlicher Vollzugsgestaltungen und Behandlungsmaßnahmen nur begrenzt verfügbar ist, einen weiten Spielraum (vgl. BVerfG, a.a.O.; zur Bedeutung verfügbaren Wissens BVerfGE 99, 367 ≪389 f.≫). Auch bezogen auf den Jugendstrafvollzug ist er nicht auf eine im Einzelnen bestimmte Vollzugsgestaltung verfassungsrechtlich festgelegt.
Aus dem besonderen verfassungsrechtlichen Gewicht, das dem Ziel der Vorbereitung auf eine künftige straffreie Lebensführung im Jugendstrafvollzug zukommt, erwachsen dem Staat jedoch auch besondere positive Verpflichtungen. So hat er durch gesetzliche Festlegung hinreichend konkretisierter Vorgaben Sorge dafür zu tragen, dass für allgemein als erfolgsnotwendig anerkannte Vollzugsbedingungen und Maßnahmen die erforderliche Ausstattung mit den personellen und finanziellen Mitteln kontinuierlich gesichert ist. Der Staat muss den Strafvollzug so ausstatten, wie es zur Realisierung des Vollzugsziels erforderlich ist (BVerfGE 35, 202 ≪235≫). Dies betrifft insbesondere die Bereitstellung ausreichender Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten, Formen der Unterbringung und Betreuung, die soziales Lernen in Gemeinschaft, aber auch den Schutz der Inhaftierten vor wechselseitiger Gewalt ermöglichen (zur Gefährdung unter anderem des zuletzt genannten Ziels durch Überbelegung J. Walter, in: Pollähne/Bammann/Feest, a.a.O., S. 1 ≪5 f.≫), ausreichende pädagogische und therapeutische Betreuung sowie eine mit angemessenen Hilfen für die Phase nach der Entlassung (vgl. BVerfGE 35, 202 ≪236≫) verzahnte Entlassungsvorbereitung. Bei den schulischen und beruflichen Ausbildungsangeboten ist darauf Bedacht zu nehmen, dass solche Angebote auch dann sinnvoll genutzt werden können, wenn wegen der Kürze der Haftzeit ein Abschluss während der Dauer der Haft nicht erreichbar ist.
c) Die gesetzlichen Vorgaben für die Ausgestaltung des Vollzuges müssen zudem auf sorgfältig ermittelten Annahmen und Prognosen über die Wirksamkeit unterschiedlicher Vollzugsgestaltungen und Behandlungsmaßnahmen beruhen (vgl. BVerfGE 106, 62 ≪152≫). Der Gesetzgeber muss vorhandene Erkenntnisquellen, zu denen auch das in der Vollzugspraxis verfügbare Erfahrungswissen gehört, ausschöpfen (vgl. BVerfGE 50, 290 ≪334≫) und sich am Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse orientieren (vgl. BVerfGE 98, 169 ≪201≫).
Auf eine den grundrechtlichen Anforderungen nicht genügende Berücksichtigung vorhandener Erkenntnisse oder auf eine den grundrechtlichen Anforderungen nicht entsprechende Gewichtung der Belange der Inhaftierten kann es hindeuten, wenn völkerrechtliche Vorgaben oder internationale Standards mit Menschenrechtsbezug, wie sie in den im Rahmen der Vereinten Nationen oder von Organen des Europarates beschlossenen einschlägigen Richtlinien und Empfehlungen enthalten sind (vgl. Höynck/Neubacher/Schüler-Springorum, Internationale Menschenrechtsstandards und das Jugendkriminalrecht. Dokumente der Vereinten Nationen und des Europarates, hg. vom Bundesministerium der Justiz in Zusammenarbeit mit der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e.V., 2001; Empfehlungen des Europarates zum Freiheitsentzug 1962 – 2003, hg. vom Bundesministerium der Justiz, Berlin, Bundesministerium für Justiz, Wien, und Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement, Bern, 2004), nicht beachtet beziehungsweise unterschritten werden (vgl. auch Schweizerisches Bundesgericht, Urteil vom 12. Februar 1992, BGE 118 Ia 64 ≪70≫).
d) Die Verpflichtung, der gesetzlichen Ausgestaltung des Vollzuges möglichst realitätsgerechte Annahmen und Prognosen zugrundezulegen, wirkt auch in die Zukunft. Mit Rücksicht auf das besonders hohe Gewicht der grundrechtlichen Belange, die durch den Jugendstrafvollzug berührt werden, ist der Gesetzgeber zur Beobachtung und nach Maßgabe der Beobachtungsergebnisse zur Nachbesserung verpflichtet (vgl. BVerfGE 88, 203 ≪310≫). Der Gesetzgeber muss daher sich selbst und den mit der Anwendung der gesetzlichen Bestimmungen befassten Behörden die Möglichkeit sichern, aus Erfahrungen mit der jeweiligen gesetzlichen Ausgestaltung des Vollzuges und der Art und Weise, in der die gesetzlichen Vorgaben angewendet werden, und dem Vergleich mit entsprechenden Erfahrungen außerhalb des eigenen räumlichen Kompetenzbereichs zu lernen. In diesem Zusammenhang liegt vor allem die Erhebung aussagefähiger, auf Vergleichbarkeit angelegter Daten nahe, die bis hinunter auf die Ebene der einzelnen Anstalten eine Feststellung und Bewertung der Erfolge und Misserfolge des Vollzuges – insbesondere der Rückfallhäufigkeiten – sowie die gezielte Erforschung der hierfür verantwortlichen Faktoren ermöglichen. Solche Daten dienen wissenschaftlicher und politischer Erkenntnisgewinnung sowie einer öffentlichen Diskussion, die die Suche nach besten Lösungen anspornt und demokratische Verantwortung geltend zu machen erlaubt.
6. Die verfassungsrechtliche Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung für den Jugendstrafvollzug, von der auch die ganz herrschende Auffassung in der Literatur ausgeht (vgl. aus jüngerer Zeit nur Eisenberg, JGG, 11. Aufl. 2006, § 91 Rn. 5; Laubenthal, in: DVJJ Nordbayern ≪Hg.≫, Entwicklungen im Jugendstrafrecht, 2005, S. 65 ff.; Butz, Die Verhängung von Jugendstrafe vor dem Hintergrund der Verfassungswidrigkeit des Jugendstrafvollzuges, 2004, S. 17 ff., 41 ff.; Pollähne, ZJJ 2005, S. 79 ff.; J. Walter, in: Pollähne/Bammann/Feest, S. 3 ≪16≫; Rzepka, ebd., S. 27 ff.; Wölfl, ebd., S. 77 ff.; Bammann, ebd., S. 101 ff.; H…-J… Albrecht, RdJB 2003, S. 352 ≪356 f.≫; Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen, Abschlussbericht der 2. Jugendstrafrechtsreform-Kommission, DVJJ-Journal Extra 2002, Nr. 5, S. 88 f.; Binder, StV 2002, S. 452 ff.; Mertin, ZRP 2002, S. 18 ff.; Ostendorf, DVJJ-Journal 2001, S. 427 ≪430 f.≫, mit zahlreichen weiteren Nachweisen; ebenso hinsichtlich der Festlegung eines Erziehungskonzepts M. Walter/Neubacher, ZfJ 2003, S. 1 ≪4 ff.≫; Böhm/Feuerhelm, Einführung in das Jugendstrafrecht, 4. Aufl. 2004, S. 250 f.), wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass die angegriffenen Entscheidungen sich auf vorausgegangene Rechtsprechung der Oberlandesgerichte stützen konnten, die eingreifende Maßnahmen im Jugendstrafvollzug ebenfalls trotz des Fehlens spezieller gesetzlicher Grundlagen als rechtmäßig bestätigt haben (vgl. nur OLG Koblenz ZfStrVo 1980, S. 61 ≪62≫; OLG Stuttgart, ZfStrVo 1980, S. 60 ≪61≫; OLG Hamm, ZfStrVo 1985, S. 128 und ZfStrVo 1986, 120 ≪121≫; OLG Celle, NStZ 2000, S. 167; OLG Zweibrücken, ZfStrVo 2003, S. 250; OLG Jena, ZfStrVo 2003, S. 242).
II.
Ungeachtet des Fehlens der erforderlichen gesetzlichen Grundlagen für die Maßnahmen, die Gegenstand der angegriffenen Entscheidungen waren, haben die Verfassungsbeschwerden im Ergebnis keinen Erfolg.
1. a) Grundsätzlich hat die Feststellung, dass eine in Grundrechte eingreifende Maßnahme der verfassungsrechtlich erforderlichen gesetzlichen Grundlage entbehrt, die Aufhebung der eine solche Maßnahme bestätigenden gerichtlichen Entscheidungen zur Folge (§ 95 Abs. 2 BVerfGG; vgl. BVerfGE 41, 251 ≪266≫; 51, 268 ≪287≫). Ausnahmsweise hat das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber jedoch für die Schaffung der erforderlichen Regelungen eine Übergangsfrist einzuräumen, während deren solche Maßnahmen ungeachtet des Fehlens einer gesetzlichen Grundlage hinzunehmen sind, wenn und soweit nur so ein Zustand – beispielsweise ein Zustand der Funktionsunfähigkeit staatlicher Einrichtungen – vermieden werden kann, der der verfassungsmäßigen Ordnung noch ferner stünde als die vorübergehende Hinnahme materiell rechtfertigungsfähiger, gesetzlich aber nicht ausreichend legitimierter Eingriffe (vgl. BVerfGE 33, 303 ≪347 f.≫; 41, 251 ≪266≫; 51, 268 ≪287 f.≫; 58, 257 ≪280≫; 61, 319 ≪356≫; 73, 280 ≪297≫; 76, 171 ≪189≫; 111, 191 ≪224≫).
b) Die Voraussetzungen für eine vorübergehende Aussetzung der regulären Rechtsfolgen des Fehlens verfassungsrechtlich notwendiger gesetzlicher Vorschriften liegen hier vor. Die Aufrechterhaltung und verfassungskonforme Durchführung des Jugendstrafvollzugs ist ohne Eingriffsbefugnisse nicht möglich. Der Verfassungspflicht zum Beispiel, die Inhaftierten und das eigene Personal vor Übergriffen (Mit)Gefangener zu schützen, können die Anstalten nicht ohne eigene Eingriffsbefugnisse genügen. Schon um zu verhindern, dass Gefangene sich der Freiheitsentziehung ihrerseits entziehen, sind solche Befugnisse unabdingbar.
Die grundsätzliche Anerkennung dieser Notwendigkeit bedeutet allerdings nicht, dass übergangsweise die bisherigen unzureichenden Regelungen ohne weiteres so anwendbar blieben, als seien sie verfassungsrechtlich unbedenklich (BVerfGE 58, 257 ≪280 f.≫; 41, 251 ≪266≫; 33, 1 ≪13≫). Bis zur Herstellung eines verfassungsmäßigen Zustandes durch den Gesetzgeber reduzieren sich vielmehr die Befugnisse der Behörden und Gerichte zu Eingriffen in verfassungsrechtlich geschützte Positionen auf das, was zur Aufrechterhaltung eines ansonsten verfassungsgemäß geordneten Vollzuges unerlässlich ist (vgl. BVerfGE 40, 276 ≪283≫; 41, 251 ≪266≫; 58, 257 ≪280 f.≫; 76, 171 ≪189≫; 77, 125 ≪129≫). Bis zu diesem Zeitpunkt ist zur Vermeidung von Rechtsunsicherheit gerichtlicher Rechtsschutz weiterhin nach Maßgabe der §§ 23 ff. EGGVG zu gewähren.
c) Die Übergangsfrist endet mit Ablauf des Jahres 2007.
2. Nach diesen Maßstäben haben die angegriffenen Entscheidungen Bestand.
a) Die Möglichkeit, auf Pflichtverstöße der Gefangenen mit disziplinarischen Maßnahmen zu antworten, ist für die Aufrechterhaltung eines geordneten, zur Erfüllung seiner verfassungsrechtlichen Aufgaben fähigen Vollzuges unerlässlich. Zwar sollte im Strafvollzug, und besonders im Jugendstrafvollzug, nach Möglichkeit eine positiv motivierende Einwirkung auf die Gefangenen im Vordergrund stehen (vgl. J. Walter, ZJJ 2003, S. 397 ≪399≫). Unbeschadet dessen bedürfen die für einen geordneten Betrieb notwendigen Verhaltensregeln aber auch der Flankierung durch Sanktionen, die die Anstalt selbst verhängen kann.
Dies zeigt gerade der vorliegende Fall. Mit dem angegriffenen Beschluss vom 2. November 2004 hat das Oberlandesgericht Disziplinarmaßnahmen als rechtmäßig bestätigt, die gegen den Beschwerdeführer wegen körperlichen Angriffs auf einen Mitgefangenen verhängt worden waren. Dürften Gefangene damit rechnen, dass in derartigen Fällen die angemessene Reaktion mangels gesetzlicher Grundlagen ausbleibt, wären Mitgefangene und andere potentiell Betroffene vor solchen Angriffen nicht in der grundrechtlich gebotenen Weise geschützt. Besondere Umstände, deretwegen nichtsdestoweniger im konkreten Fall von einer disziplinarischen Antwort hätte abgesehen werden müssen, waren weder dargelegt noch ersichtlich.
b) Auch die Verfassungsbeschwerde gegen die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts vom 1. Juli 2004, mit der die Anordnung der allgemeinen Postkontrolle bestätigt wurde, hat keinen Erfolg.
Der Eingriff in das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 10 Abs. 1 GG kann allerdings nicht mit den vom Oberlandesgericht angeführten Gründen der Erziehung gerechtfertigt werden. Es ist bereits fraglich, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen die Kontrolle des gesamten Briefwechsels eines jungen Gefangenen mit dem Ziel, umfassende Kenntnisse über sein soziales Umfeld zu erlangen, überhaupt ein geeignetes Mittel der Erziehung zur Rechtschaffenheit sein kann. An der Unerlässlichkeit in dem hier zugrundezulegenden strengen Sinne, dass anderenfalls ein noch weniger verfassungsgemäßer Zustand als der der Gesetzlosigkeit des Eingriffs droht, fehlt es jedenfalls, solange der erzieherisch motivierten Kontrolle keine ernsthaften Bemühungen vorausgegangen sind, die für notwendig gehaltenen Erkenntnisse über das soziale Umfeld auf weniger eingreifende Weise zu gewinnen. Die abstrakte Feststellung des Oberlandesgerichts, mildere Mittel wie Aktenstudium oder Gespräche mit dem Beschwerdeführer und seiner Familie, die nicht erzwungen werden könnten, seien ungeeignet, genügt den Anforderungen an die Prüfung der Unerlässlichkeit (vgl. BVerfGE 41, 251 ≪267≫) nicht.
Das Oberlandesgericht hat die Rechtmäßigkeit der gegen den Beschwerdeführer angeordneten Postkontrolle jedoch zusätzlich mit dem Gesichtspunkt der Sicherheit und Ordnung der Anstalt begründet, der die Überwachung erforderlich mache, weil angesichts der vielfältigen Disziplinarverfahren mit weiteren Vorfällen gerechnet werden müsse. Hiergegen sind verfassungsrechtliche Einwände auch nach dem anzulegenden strengen Maßstab nicht zu erheben. Die Überwachung des Schriftwechsels eines Gefangenen ist unerlässlich und daher übergangsweise auch ohne gesetzliche Grundlage zulässig, soweit sie erforderlich ist, um Gefahren für einen geordneten Vollzug wie Fluchtplanungen oder der Vorbereitung von Straftaten entgegenzutreten (vgl. BVerfGE 33, 1 ≪14≫). Mit den zahlreichen – nicht nur Affekthandlungen, sondern auch ihrer Natur nach planmäßige Pflichtverstöße betreffenden – disziplinarischen Auffälligkeiten, auf die das Oberlandesgericht verwiesen hat, ist diese Gefahr bei der hier gegebenen Ausgangslage noch ausreichend belegt.
3. Die Erstattung der Auslagen wird gemäß § 34a Abs. 3 BVerfGG angeordnet, weil die Verfassungsbeschwerden zur Klärung einer Frage von grundsätzlicher Bedeutung geführt haben und diese Frage im Sinne des Beschwerdevortrags zu beantworten war (vgl. BVerfGE 109, 190 ≪243 f.≫). Da die Klärungsbedürftigkeit dieser Frage in erster Line durch den Bund veranlasst worden ist und die Überprüfung der Entscheidungen des Oberlandesgerichts keinen Grundrechtsverstoß ergeben hat, wird die Erstattung der Auslagen der Bundesrepublik Deutschland auferlegt.
Unterschriften
Hassemer, Broß, Osterloh, Di Fabio, Mellinghoff, Lübbe-Wolff, Gerhardt, Landau
Fundstellen
NJW 2006, 2093 |
FamRZ 2006, 1089 |
NStZ 2007, 41 |
FPR 2007, 45 |
JA 2006, 831 |
JuS 2006, 924 |
BayVBl. 2006, 699 |
NPA 2007 |