Entscheidungsstichwort (Thema)
Einberufungsbescheid. Zurückstellungsgründe. maßgeblicher Zeitpunkt. Aufklärungspflicht
Leitsatz (amtlich)
Dass die im maßgeblichen Gestellungszeitpunkt vorliegenden Erkenntnisse für die abschließende rechtliche Beurteilung eines Einberufungsbescheides noch nicht hinreichten, berührt nicht die Pflicht des Verwaltungsgerichts, im nachfolgenden Klageverfahren den entscheidungserheblichen Sachverhalt bezogen auf jenen Zeitpunkt vollständig aufzuklären.
Normenkette
WPflG § 12
Verfahrensgang
VG Darmstadt (Urteil vom 20.04.2005; Aktenzeichen 1 E 41/01 (3)) |
Tenor
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Darmstadt vom 20. April 2005 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.
Tatbestand
I
Die auf die Abweichungs- (1.), Grundsatz- (2.) und Verfahrensrüge (3.) gestützte Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision hat Erfolg.
1. In der Staffelung als Haupt- (a) und Hilfsantrag (b) rügt der Kläger eine Abweichung des verwaltungsgerichtlichen Urteils von Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO).
a) Nach Ansicht des Klägers divergiert das verwaltungsgerichtliche Urteil in entscheidungserheblicher Weise von den beiden Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. Mai 1991 – BVerwG 8 C 52.89 – (BVerwGE 88, 241 = Buchholz 448.0 § 12 WPflG Nr. 181) und vom 17. Oktober 1997 – BVerwG 8 C 6.97 – (Buchholz 448.0 § 12 WPflG Nr. 201). Darin habe das Bundesverwaltungsgericht den Rechtssatz aufgestellt, dass einem angefochtenen Einberufungsbescheid ein Zurückstellungsgrund verteidigungsweise auch dann entgegengesetzt werden könne, wenn er erstmals im gerichtlichen Verfahren geltend gemacht werde. Die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts sei damit nicht vereinbar.
Eine die Revision gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO eröffnende Divergenz liegt nur dann vor, wenn die angefochtene Entscheidung einen inhaltlich bestimmten, sie tragenden abstrakten Rechtssatz enthält, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts oder eines anderen in der Vorschrift genannten Gerichts aufgestellten ebensolchen die Entscheidung tragenden Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat. Diese Voraussetzungen sind hier hinsichtlich der vom Kläger angesprochenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht erfüllt.
Nach dem vom Kläger angeführten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. Mai 1991 (a.a.O. S. 244 bzw. S. 22) kommt es auf das Vorliegen eines Zurückstellungsantrages in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgebenden Gestellungszeitpunkt nicht an. Ebenso wenig bedarf es einer vorherigen Entscheidung der zuständigen Wehrersatzbehörde über das Zurückstellungsbegehren. Im Interesse eines umfassenden Rechtsschutzes (vgl. Art. 19 Abs. 4 GG) ist es vielmehr geboten, (auch) erstmals im gerichtlichen Einberufungsstreit vorgetragene Zurückstellungsgründe zu berücksichtigen, um ihnen Geltung zu verschaffen. Denn nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wird ein Zurückstellungsbegehren durch einen bestandskräftig gewordenen Einberufungsbescheid inhaltlich “überholt” und damit materiell gegenstandslos (vgl. Urteil vom 13. Februar 1987 – BVerwG 8 C 128.84 – Buchholz 448.5 § 13 MustV Nr. 22 S. 4). Vorbehaltlich einer möglichen Differenzierung hinsichtlich einzelner der in § 29 Abs. 1 und 2 WPflG genannten Entlassungsgründe werden alle im Zeitpunkt des Eintritts der Bestandskraft vorliegenden Einberufungshindernisse unbeachtlich. Das gilt namentlich für das Vorbringen, im Zeitpunkt der Einberufung habe ein Zurückstellungsgrund bestanden (vgl. Urteil vom 6. Dezember 1971 – BVerwG 8 C 47.71 – BVerwGE 39, 122 ≪125 f.≫ = Buchholz 448.0 § 29 WPflG Nr. 5 S. 10 f.). Ein bis zum festgesetzten Einberufungszeitpunkt entstandener Zurückstellungsgrund führt weder zur Entlassung des Wehrpflichtigen nach § 29 Abs. 1 Nr. 4 Alt. 1 WPflG (Urteil vom 6. Dezember 1971 a.a.O. S. 125 f. bzw. S. 11) noch zur Entlassung nach § 29 Abs. 4 Nr. 1 WPflG (Urteile vom 17. Dezember 1970 – BVerwG 8 C 113.68 – BVerwGE 37, 62 ≪65 ff.≫ = Buchholz 448.0 § 29 WPflG Nr. 3 S. 2 ff. und vom 24. Juni 1971 – BVerwG 8 C 101.70 – Buchholz 448.0 § 12 WPflG Nr. 55 S. 91).
Von diesen Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts, an denen es in seinem Urteil vom 17. Oktober 1997 (a.a.O.) festgehalten hat, weicht das Urteil des Verwaltungsgerichts nicht ab. Das Bundesverwaltungsgericht behandelt an den vom Kläger in Bezug genommenen Stellen die Frage, ob beim Rechtsstreit um die Rechtmäßigkeit eines Einberufungsbescheides ein Zurückstellungsantrag im entscheidungserheblichen Tatsachen- und Rechtszeitpunkt – nämlich dem Zeitpunkt der Gestellung – vorliegen muss oder nicht, und verneint diese Frage. Auch später geltend gemachte Zurückstellungsgründe müssen demnach – bis zur Bestandskraft des Einberufungsbescheides – in die Rechtmäßigkeitsüberprüfung einbezogen werden. Zu dieser Frage hat das Urteil des Verwaltungsgerichts sich nicht verhalten, weil es um Zurückstellungsgründe ging, die unstreitig vor dem Gestellungszeitpunkt bekannt und auch vorgebracht worden waren. Das Verwaltungsgericht hat sie lediglich als im erheblichen Zeitpunkt des 2. Januar 2001 nicht nachgewiesen angesehen und sie deshalb nicht als Gründe für die Rechtswidrigkeit des streitgegenständlichen Einberufungsbescheides einbezogen.
b) Für den Fall, dass die vorstehend behandelte Divergenzrüge nicht zum Erfolg führt, macht der Kläger geltend, das verwaltungsgerichtliche Urteil weiche in entscheidungserheblicher Weise von dem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 28. November 1995 – BVerwG 8 B 104.95 – (Buchholz Nr. 448.0 § 12 WPflG Nr. 189) ab. Darin werde im Hinblick auf § 12 WPflG der Rechtssatz aufgestellt, das Tatsachengericht habe “bis zur Grenze der Zumutbarkeit jede mögliche Aufklärung des Sachverhalts zu versuchen, sofern dies für die Entscheidung erforderlich” sei. Eine Einschränkung für Tatsachen und Beweismittel, die erstmals im verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorgebracht würden, sehe das Bundesverwaltungsgericht nicht vor. Daher weiche der Rechtssatz des Verwaltungsgerichts, derartige Erkenntnismittel könnten nicht berücksichtigt werden, von der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ab. Diese Abweichung sei auch entscheidungserheblich.
Diese Rüge kann Erfolg haben, soweit man dem vorbezeichneten Beschluss nicht lediglich die Wiedergabe des nach § 86 Abs. 1 VwGO geltenden Prozessrechts, sondern darüber hinaus Rechtssätze zur erschöpfenden gerichtlichen Sachverhaltsaufklärung in Zurückstellungsangelegenheiten entnimmt. Dies kann aber wegen des Erfolgs der unter 3. behandelten Verfahrensrüge auf sich beruhen.
2. Im Wege der Grundsatzrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) hält der Kläger drei Fragen für grundsätzlich klärungsbedürftig. Eine dieser Fragen betrifft die Auslegung der Dritt-Brüder-Regelung in § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 WPflG unter Beachtung erbrachter Dienstleistungen der älteren Brüder (a), die andere betrifft die verfassungsrechtlich gebotene Auslegung der Dritt-Brüder-Regelung (b), und in einer weiteren geht es um Zeitpunktfragen für das Vorbringen von Zurückstellungsgründen nach § 12 WPflG (c). Alle diese Fragen verleihen dem Rechtsstreit keine grundsätzliche Bedeutung.
a) Der Kläger hält die Frage für grundsätzlich klärungsbedürftig, ob bei der Auslegung des § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 WPflG auch Brüder zu berücksichtigen sind, die aufgrund von Verschulden der Bundeswehr ihren Wehrdienst nicht voll ableisten konnten. Insbesondere hält er für klärungsbedürftig, ob in diesem Zusammenhang § 162 Abs. 1 BGB analog zur Anwendung kommt.
Die aufgeworfene Frage ist höchstrichterlich bereits überwiegend geklärt und im Übrigen auch ohne Revisionsverfahren zu beantworten. Im hier maßgeblichen Zeitpunkt, dem Gestellungstermin 2. Januar 2001, galt § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 des Wehrpflichtgesetzes vom 15. Dezember 1995 (BGBl I S. 1756), zuletzt geändert durch Art. 6 Abs. 7 des Gesetzes zur Neuordnung des Zivilschutzes (Zivilschutzneuordnungsgesetz – ZSNeuOG) vom 25. März 1997 (BGBl I S. 726). Danach waren auf Antrag Wehrpflichtige vom Wehrdienst zu befreien, deren zwei Brüder Grundwehrdienst von der in § 5 Abs. 1 bestimmten Dauer, Zivildienst von der in § 24 Abs. 2 des Zivildienstgesetzes bestimmten Dauer oder deren zwei Geschwister Wehrdienst von höchstens zwei Jahren Dauer als Soldaten auf Zeit geleistet hatten.
Der Grundsatzrüge steht vorliegend nicht der Umstand entgegen, dass die Dritt-Brüder-Regelung in § 11 Abs. 2 WPflG später (vgl. Bekanntmachung der Neufassung des Wehrpflichtgesetzes vom 30. Mai 2005, BGBl I S. 1465) eine andere textliche Fassung als jene erhalten hat, auf welche sich die Entscheidung des Verwaltungsgerichts stützt. Ausnahmsweise kann nämlich eine Frage, die sich auf ausgelaufenes Recht bezieht, grundsätzliche Bedeutung haben, wenn sich bei den gesetzlichen Bestimmungen, die den außer Kraft getretenen Vorschriften nachgefolgt sind, die als rechtsgrundsätzlich aufgeworfene Frage in gleicher Weise stellt. In einem solchen Fall ist trotz des Außerkrafttretens des alten Rechts eine richtungsweisende Klärung zu erwarten, wie die neue Vorschrift anzuwenden ist (vgl. Beschluss vom 20. Dezember 1995 – BVerwG 6 B 35.95 – Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 9 S. 12 f. m.w.N.). Die vom Kläger aufgeworfene Frage stellt sich nach dem neuen Recht in § 11 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a und b WPflG n.F. in gleicher Weise wie bei § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 WPflG a.F. und ist deshalb der Grundsatzrüge zugänglich.
Es ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt, dass die Tatbestandsvoraussetzung der Dritt-Brüder-Regelung eine Erfüllung des Wehrdienstes durch den ersten und zweiten Bruder in genau dem gesetzlich bestimmten Umfang erfordert. Diesen Zeitraum hat ein Bruder des Klägers wegen frühzeitiger Entlassung unterschritten. Dass dieser seinerzeit aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen vorzeitig entlassen wurde, kann nicht dazu führen, dass der Kläger entgegen dem eindeutigen Wortlaut des § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 WPflG a.F. begünstigt wird (vgl. Beschlüsse vom 1. Juni 1995 – BVerwG 8 B 27.95 – Buchholz 448.0 § 11 WPflG Nr. 37 und vom 2. Juni 2000 – BVerwG 6 B 29.00 – Buchholz 448.0 § 11 WPflG Nr. 42 S. 5). Dies ist entgegen dem Beschwerdevorbringen auch nicht im Licht einer Analogie zu § 162 Abs. 1 BGB anders zu sehen. Nach § 162 Abs. 1 BGB gilt eine Bedingung nicht als eingetreten, wenn der Eintritt der Bedingung von der Partei, zu deren Vorteil er gereicht, wider Treu und Glauben herbeigeführt wird. Raum für eine Analogie ist nicht vorhanden, weil kein Anhaltspunkt für eine planwidrige Lücke im Gesetz zu erkennen ist. Der Gesetzgeber macht die Erteilung des in der Dritt-Brüder-Regelung liegenden Privilegs davon abhängig, dass die beiden ersten Brüder den Grundwehrdienst im gesetzlich vorgeschriebenen Umfang voll geleistet haben. Wird dieses Erfordernis nicht erfüllt, greift die Privilegierung nicht ein.
Im Übrigen ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts anerkannt, dass der Rechtsgedanke des § 162 Abs. 1 BGB auch im Rahmen wehrpflichtrechtlicher Beziehungen zur Anwendung kommen kann (vgl. Urteile vom 26. Januar 1990 – BVerwG 8 C 28.89 – Buchholz 448.0 § 13a WPflG Nr. 18 S. 3; vom 29. Juni 1990 – BVerwG 8 C 22.89 – BVerwGE 85, 213 ≪216 ff.≫ und vom 26. März 2003 – BVerwG 6 C 24.02 – BVerwGE 118, 84 ≪89≫). Daher mag es nicht von vornherein ausgeschlossen sein, dass § 162 Abs. 1 BGB auch in Bezug auf die Dritt-Brüder-Regelung Geltung erlangt. Das wäre dann keine Analogie, sondern eine direkte Anwendung des Befreiungstatbestands, der im Wege rechtlicher Fiktion als erfüllt zu betrachten wäre. Die Anwendung von § 162 Abs. 1 BGB scheitert im vorliegenden Fall aber jedenfalls daran, dass eine mögliche Pflichtwidrigkeit der militärischen Vorgesetzten des Bruders E… bei dessen Einsatz als Wehrpflichtiger sich nicht als treuwidriges Verhalten gegenüber dem Kläger darstellt. Eine Pflichtwidrigkeit, wie sie § 162 Abs. 1 BGB verlangt, können die Vorgesetzten nur dem Bruder gegenüber begangen haben. Sie waren gehalten, diesen während des Wehrdienstes vor Überforderungen zu schützen und zwar um dessen Gesundheit willen, nicht aber, um seinen Bruder, den Kläger, in den Genuss des Befreiungstatbestands zu bringen. Daher kann hier von einer treuwidrigen Vereitelung der Rechtsfolgen des § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 WPflG nicht die Rede sein. Der Verlust der Wehrdienstbefreiung ist zufällige, reflexartige Nebenfolge eines etwaigen Rechtsverstoßes innerhalb eines anderen Pflichtenkreises.
b) Der Kläger hält weiterhin die Frage für grundsätzlich klärungsbedürftig, welche Anforderungen aus Verfassungsrecht, insbesondere aus Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 12, Art. 12a, Art. 6 GG, an die Auslegung und Anwendung des § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 WPflG zu stellen seien. Dabei sei insbesondere zu klären, ob der allgemeine Gleichheitssatz hier lediglich als Willkürverbot zu verstehen sei oder, in Anlehnung an die sog. “neue Formel” des Bundesverfassungsgerichts, als strengerer Kontrollmaßstab, wonach Art und Schwere der gesetzlichen Differenzierung dem Gewicht der Unterschiede in den Lebenssachverhalten Rechnung tragen müssen.
Die Rüge bleibt ohne Erfolg. Das Bundesverwaltungsgericht hat das Verhältnis der Dritt-Brüder-Regelung zu den einschlägigen Grundrechten der Bundesverfassung in seiner Rechtsprechung bereits bestimmt. Danach ist geklärt, dass die mit der Dritt-Brüder-Regelung angestrebte Familienentlastung verfassungsrechtlich nicht geboten ist. Sie erweitert vielmehr den Familienschutz über das durch Art. 6 Abs. 1 GG geforderte Maß hinaus. Dass der Gesetzgeber den Kreis der begünstigten Familien hätte weiter ziehen müssen, kann deswegen nicht aus der Verfassung hergeleitet werden. Nach der ständigen Rechtsprechung belässt auch Art. 3 Abs. 1 GG dem Gesetzgeber eine weitgehende Gestaltungsfreiheit. Mit Blick auf den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 ist nicht zu prüfen, ob der Gesetzgeber die gerechteste und zweckmäßigste Regelung getroffen hat, sondern allein, ob die äußeren Grenzen seiner Gestaltungsfreiheit gewahrt sind. Bei der Bestimmung des Personenkreises, auf den eine gesetzliche Regelung Anwendung finden soll, steht dem Gesetzgeber im Rahmen der Grundwerteentscheidung der Verfassung ein weiter Spielraum zu. Dieser ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts namentlich bei einer rechtsgewährenden Regelung besonders weit. Eine derartige Regelung stellt die in § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 WPflG a.F. vorgesehene Ausnahme von der grundsätzlich allen männlichen Bürgern der Bundesrepublik Deutschland auferlegten allgemeinen Wehrpflicht dar (Beschluss vom 22. September 1999 – BVerwG 6 B 135.98 – Buchholz 448.0 § 11 WPflG Nr. 41). In diesem Sinne verlangt es der Gleichbehandlungsgrundsatz auch im Lichte der aktuellen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht, die bei der Familie des Klägers gegebene Konstellation in den Befreiungstatbestand nach § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 WPflG a.F. einzubeziehen. Auch in ihrem Fall hat die Leistung für die Allgemeinheit nicht denjenigen Umfang erreicht, den der Gesetzgeber im Rahmen seines Gestaltungsspielraums als Voraussetzung für die Begünstigung der Wehrdienstbefreiung festlegen durfte. Zudem kann in solchen Fällen die Familie auf die Beschädigtenversorgung nach Maßgabe der Bestimmungen des Soldatenversorgungsgesetzes verwiesen werden.
c) Für den Fall, dass er mit einer Abweichungsrüge keinen Erfolg hat, macht der Kläger hilfsweise im Wege der Grundsatzrüge geltend, dass das verwaltungsgerichtliche Urteil die grundsätzlich bedeutsame Rechtsfrage aufwerfe, ob Tatsachen und Erkenntnismittel zur Stützung eines Zurückstellungsgrundes nach § 12 WPflG erstmals im verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorgebracht werden können.
Diese für grundsätzlich klärungsbedürftig gehaltene Frage ist, ohne dass sie der Klärung in einem Revisionsverfahren bedürfte, zu bejahen. Dass Tatsachen und Erkenntnismittel zur Stützung eines Zurückstellungsgrundes nach § 12 WPflG auch erstmals im verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorgebracht werden können, ergibt sich für die in zulässiger Weise erst in diesem Verfahrensstadium vorgebrachten Zurückstellungsgründe (vgl. Urteil vom 13. Februar 1987 – BVerwG 8 C 128.84 – Buchholz 448.5 § 13 MustV Nr. 22 S. 4) von selbst. Darüber hinaus gilt für Zurückstellungsgründe, die bereits früher vorgebracht worden sind, der prozessrechtliche Grundsatz der gerichtlichen Aufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO, der auch solche Tatsachen und Erkenntnismittel zur Stützung eines Zurückstellungsgrundes nach § 12 WPflG betrifft, die erstmals im verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorgebracht werden können.
3. Mit der Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 1 Nr. 3 VwGO) macht der Kläger geltend, das Verwaltungsgericht habe in rechtswidriger Weise von der Erhebung der von ihm angebotenen insgesamt sieben Beweise zu Umfang und Notwendigkeit seiner Hilfs- und Pflegeleistungen abgesehen. Seine bereits im Widerspruchsverfahren vorgebrachten Verpflichtungen zur Betreuung und Pflege seiner kranken und pflegebedürftigen Geschwister und seiner Nichte könnten nach der Rechtsansicht des Verwaltungsgerichts einen Zurückstellungsgrund nach § 12 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 Buchst. a, § 12 Abs. 4 Satz 1 WPflG abgeben. Dieser für entscheidungserheblich gehaltenen Frage sei das Verwaltungsgericht aber nicht weiter nachgegangen, obwohl er mehrere Beweisangebote vorgelegt habe, insbesondere auch die Abschrift einer Stellungnahme des Sozialamtes L… vom 27. April 2001. Das Verwaltungsgericht habe damit § 86 Abs. 1 VwGO verletzt. Die Notwendigkeit der Beweisaufnahme habe sich dem Verwaltungsgericht auch aufdrängen müssen, denn in seinem Beschluss vom 31. Januar 2001 über das einstweilige Rechtsschutzbegehren habe es festgehalten, dass es die Sachlage nicht für vollständig aufgeklärt halte. An der gebotenen Aufklärung sei das Verwaltungsgericht auch nicht im Hinblick auf den von ihm für maßgeblich erachteten Tatsachen- und Rechtszeitpunkt des 2. Januar 2001 gehindert gewesen. Die Ansicht sei prozessual unzutreffend, zu diesem Zeitpunkt nicht bekannte Umstände dürften im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nicht mehr berücksichtigt werden. Damit verkenne das Verwaltungsgericht grundsätzlich die Bedeutung und die Reichweite des § 86 VwGO, der eine umfassende Aufklärung von in der Vergangenheit liegenden Umständen gebiete. Hätte es die erforderliche Beweisaufnahme durchgeführt, so hätte sich auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung ergeben, dass die Einberufung des Klägers eine familiäre Notlage und besondere Härte bedeutete. Diese Rüge ist begründet.
Ein Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist nur dann bezeichnet, wenn er sowohl in den ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen als auch in seiner rechtlichen Würdigung substantiiert dargetan wird (vgl. Beschluss vom 10. November 1992 – BVerwG 3 B 52.92 – Buchholz 303 § 314 ZPO Nr. 5; Weyreuther, Revisionszulassung und Nichtzulassungsbeschwerde in der Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte, 1971, Rn. 222 m.w.N.). Hinsichtlich des von der Beschwerde behaupteten Verstoßes gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 86 Abs. 1 VwGO) muss dementsprechend substantiiert dargelegt werden, hinsichtlich welcher tatsächlichen Umstände Aufklärungsbedarf bestanden hat, welche für geeignet und erforderlich gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht gekommen wären und welche tatsächlichen Feststellungen bei Durchführung der unterbliebenen Sachverhaltsaufklärung voraussichtlich getroffen worden wären; weiterhin muss entweder dargelegt werden, dass bereits im Verfahren vor dem Tatsachengericht, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird, hingewirkt worden ist oder dass sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken von sich aus hätten aufdrängen müssen (vgl. Beschluss vom 6. März 1995 – BVerwG 6 B 81.94 – Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 265).
Das Verwaltungsgericht geht – zutreffend – davon aus, dass der Einberufungsbescheid dann als rechtswidrig anzusehen ist, wenn dem Kläger ein Anspruch auf Zurückstellung vom Wehrdienst zustand (Urteil S. 9). Als einschlägigen Zurückstellungsgrund zieht es § 12 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 WPflG in Betracht, wonach ein Wehrpflichtiger auf Antrag zurückgestellt werden soll, wenn im Falle einer Einberufung die Versorgung seiner Familie, hilfsbedürftiger Angehöriger oder anderer hilfsbedürftiger Personen, für deren Lebensunterhalt er aus rechtlicher oder sittlicher Verpflichtung aufzukommen hat, gefährdet würde (1. Alt.) oder wenn im Falle seiner Einberufung für Verwandte ersten Grades besondere Notstände zu erwarten sind (2. Alt.). Ebenfalls zutreffend geht es für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage vom festgesetzten Gestellungszeitpunkt aus, nämlich dem 2. Januar 2001. Zu Unrecht zieht es aus diesem Zeitpunktkriterium aber den Schluss, dass damit auch der gerichtlichen Aufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO eine zeitliche Grenze gesetzt sei. Dies verkennt die Reichweite der dem Gericht aufgrund des Prozessrechts obliegenden Aufklärungspflicht. Das Tatsachengericht hat alle ihm bis zum Abschluss der mündlichen Verhandlung zugänglich werdenden Erkenntnismittel einzubeziehen, um den maßgeblichen Sachverhalt aufzuklären. Es muss grundsätzlich bis zur Grenze der Zumutbarkeit jede mögliche Aufklärung des Sachverhalts versuchen, sofern dies für die Entscheidung erforderlich ist (Beschluss vom 28. November 1995 – BVerwG 8 B 104.95 – Buchholz 448.0 § 12 Nr. 189). Dass – bezogen auf einen in der Vergangenheit liegenden maßgeblichen Tatsachen- und Rechtszeitpunkt – erst zu einem späteren Zeitpunkt Erkenntnismittel zugänglich werden, ändert nichts an der sich jedenfalls dann realisierenden Pflicht des Gerichts aus § 86 Abs. 1 VwGO zu deren Heranziehung im Wege der Beweiserhebung.
Das Verwaltungsgericht musste demnach die näheren Umstände der familiären Situation des Klägers aufklären, um abschließend über das Vorliegen eines Zurückstellungsgrundes entscheiden zu können. Dies war umso mehr geboten, als der Kläger eine an das Kreiswehrersatzamt Darmstadt gerichtete und dort am 4. Mai 2001 eingegangene Stellungnahme einer Sozialarbeiterin der Stadt L… vorgelegt hat, die zu dem Schluss kam: “Um das Familiensystem aufrechterhalten zu können, ist Dietmar ein notwendiger Pfeiler.”
In diesem Zusammenhang spielt es keine Rolle, dass aufgrund von Umständen im Verantwortungsbereich des Klägers die Einverständniserklärung für die Ermittlung der familiären Situation durch den Kläger erst am 4. Januar 2001 vorgelegt worden ist. Dieser Umstand konnte das Verwaltungsgericht nicht daran hindern, den entscheidungserheblichen Sachverhalt im Gestellungszeitpunkt aufzuklären.
Entscheidungsgründe
II
Der Senat macht im Interesse der Verfahrensbeschleunigung von der ihm nach § 133 Abs. 6 VwGO eingeräumten Möglichkeit Gebrauch, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen. Das Verwaltungsgericht wird im weiteren Verfahren das Vorliegen von Zurückstellungsgründen im Gestellungszeitpunkt des 2. Januar 2001 zu prüfen haben. Dabei wird es auch zu untersuchen haben, inwieweit die damals noch geltende Dreimonatsfrist nach § 20 WPflG a.F. zur Geltendmachung der Zurückstellungsgründe eingehalten worden ist, die erst durch Art. 1 Nr. 26 des Gesetzes zur Neuausrichtung der Bundeswehr (Bundeswehrneuausrichtungsgesetz – BwNeuAusrG) vom 20. Dezember 2001 (BGBl I S. 4013) aufgehoben wurde.
III
Die Entscheidung über den Streitwert beruht auf § 52 Abs. 2 GKG.
Unterschriften
Dr. Bardenhewer, Büge, Dr. Graulich
Fundstellen