Entscheidungsstichwort (Thema)
Ausweisung. Aufenthaltsrechte aus Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Satz 2 ARB 1/80. Assoziationsrecht. Kind eines türkischen Arbeitnehmers. Abschluss einer Berufsausbildung. Verlust der Rechtsstellung. Verbüßung von Strafhaft. unterlassene Meldung als arbeitslos. drogensuchtbedingte Kündigung
Leitsatz (amtlich)
Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften zur Klärung insbesondere der Fragen, ob das volljährige Kind eines türkischen Arbeitnehmers, das eine Berufsausbildung in Deutschland abgeschlossen hat, sein aus Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 abgeleitetes Aufenthaltsrecht durch die Verbüßung einer Strafhaft von drei Jahren und drei Monaten, durch Ausscheiden aus seinem letzten Arbeitsverhältnis aufgrund drogensuchtbedingter Kündigung oder durch Unterlassung einer Meldung als arbeitslos wieder verliert.
Normenkette
ARB 1/80 Art. 6, 7 S. 2
Verfahrensgang
Bayerischer VGH (Urteil vom 07.08.2002; Aktenzeichen 10 B 00.3379) |
VG Augsburg (Urteil vom 10.10.2000; Aktenzeichen Au 1 K 00.196) |
Tenor
Das Verfahren wird ausgesetzt.
Es wird gemäß Art. 234 Abs. 1 und 3 EG eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften zu folgenden Fragen eingeholt:
Verliert das volljährige Kind eines in der Bundesrepublik Deutschland seit mehr als drei Jahren ordnungsgemäß beschäftigten türkischen Arbeitnehmers, das eine Berufsausbildung als Metallbauer mit der Gesellenprüfung abgeschlossen hat, sein aus dem Recht nach Art. 7 Satz 2 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei (ARB 1/80), sich auf jedes Stellenangebot zu bewerben, abgeleitetes Aufenthaltsrecht – außer in den Fällen des Art. 14 ARB 1/80 und bei Verlassen des Aufnahmemitgliedstaates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe – auch dann, wenn es
- wegen schweren Raubes und Betäubungsmitteldelikten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt worden ist, die Strafe – auch im Nachhinein – nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist und es die gesamte Strafe unter Anrechnung erlittener Untersuchungshaft verbüßt hat?
selbst einer Beschäftigung als Arbeitnehmer im regulären Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland nachgegangen ist und dadurch in eigener Person ein aus dem Recht auf Zugang zur Beschäftigung abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 6 Abs. 1 zweiter oder dritter Spiegelstrich ARB 1/80 erworben und später wieder verloren hat?
Ist ein solcher Verlust dadurch eingetreten, dass es
- aus seinem letzten Beschäftigungsverhältnis aufgrund drogensuchtbedingter fristloser Kündigung durch den Arbeitgeber ausgeschieden ist?
- sich nach über dreimonatiger Erkrankung während eines Zeitraums von drei Werktagen zwischen Ende der Arbeitsunfähigkeit und Verhaftung wegen der Begehung einer Straftat nicht erneut bei der zuständigen Behörde arbeitslos gemeldet hat?
- wegen schweren Raubes und Betäubungsmitteldelikten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt worden ist, diese Strafe – auch im Nachhinein – nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist, die gesamte Strafe unter Anrechnung erlittener Untersuchungshaft verbüßt und während dieser Zeit dem regulären Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung gestanden, aber ca. ein Vierteljahr nach seiner Haftentlassung erneut eine Beschäftigung bei einer Zeitarbeitsfirma gefunden hat, ohne dabei über ein innerstaatliches Aufenthaltsrecht zu verfügen?
- Für den Fall, dass die Frage 1 zu bejahen ist: Verliert ein türkischer Staatsangehöriger das aus dem Recht auf Zugang zur Beschäftigung nach Art. 6 Abs. 1 zweiter oder dritter Spiegelstrich ARB 1/80 abgeleitete Aufenthaltsrecht unter den oben unter Frage 1b) genannten Voraussetzungen?
Tatbestand
I.
Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung aus Deutschland.
Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er wurde 1975 in der Bundesrepublik Deutschland als Sohn eines türkischen Arbeitnehmers und dessen türkischer Ehefrau geboren. Nach dem Besuch der Grund- und Hauptschule absolvierte der Kläger vom 1. September 1990 bis zum 28. Februar 1994 eine Berufsausbildung als Metallbauer und schloss diese im Februar 1994 erfolgreich mit der Gesellenprüfung ab. Die Ausbildung erfolgte während ihrer gesamten Dauer in dem gleichen Unternehmen. Zu dieser Zeit war der Vater des Klägers bereits seit 1972 ordnungsgemäß in Deutschland beschäftigt. Nach Abschluss der Ausbildung arbeitete der Kläger bei wechselnden Unternehmen in seiner Heimatstadt, zuletzt bei der Firma O…. 1996 heiratete er eine türkische Staatsangehörige, von der er jedoch mittlerweile wieder getrennt lebt und die in die Türkei zurückgekehrt ist. Seit Anfang 1997 war der Kläger heroinabhängig. Aus dem Arbeitsverhältnis mit der Firma O… schied er im Juli 1997 aufgrund drogensuchtbedingter fristloser Kündigung durch den Arbeitgeber aus. Danach war der Kläger arbeitslos gemeldet und bezog – mit Ausnahme eines zweiwöchigen Türkeiaufenthalts – Arbeitslosengeld. Krankheitsbedingt erhielt er von Ende Februar 1998 bis einschließlich 30. April 1998 Krankengeld. Danach meldete er sich bis zu seiner Inhaftierung am 7. Mai 1998 – verstrichen war ein Zeitraum von drei Werktagen – nicht erneut arbeitslos.
Im Juni 1991 wurde dem Kläger eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt.
Bereits als Minderjähriger ist der Kläger strafrechtlich in Erscheinung getreten. Zwischen 1990 und 1997 wurden mehrere Ermittlungsverfahren, u.a. wegen gefährlicher Körperverletzung, Beleidigung und Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz, entweder eingestellt oder es wurde von der Verfolgung der Straftaten abgesehen. Verurteilt wurde der Kläger erstmals im Oktober 1997 wegen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten, die zunächst zur Bewährung ausgesetzt wurde, die der Kläger nach Widerruf der Bewährung aber zu verbüßen hatte. Im März 1999 wurde er wegen schweren Raubes in Tatmehrheit mit 32 sachlich zusammentreffenden Fällen des unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Der Kläger hatte zusammen mit seinem damals ebenfalls heroinabhängigen Bruder am 6. Mai 1998 in einer Tankstelle den anwesenden Angestellten mit Schreckschusswaffen bedroht und einen Betrag von 1 650 DM aus der Kasse entnommen. Des Weiteren hatte er von Januar 1998 bis zu seiner Festnahme am 7. Mai 1998 in mindestens 32 Fällen jeweils 5 g Heroin erworben. Die gegen ihn verhängte Freiheitsstrafe wurde – auch im Nachhinein – nicht zur Bewährung ausgesetzt. Der Kläger hat die gesamte Strafe unter Anrechnung erlittener Untersuchungshaft verbüßt.
Mit Bescheid vom September 1999 wies ihn die Beklagte für unbefristete Dauer aus der Bundesrepublik Deutschland aus und drohte seine Abschiebung in die Türkei an. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Kläger habe den Tatbestand des § 47 Abs. 1 Nr. 1 AuslG erfüllt, der eine Ausweisung gebiete. Wegen seiner Geburt in der Bundesrepublik und des Besitzes einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis sei die zwingende Ausweisung jedoch nach § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AuslG zu einer Regelausweisung herabzustufen. Eine weitere Herabstufung zur Ermessensausweisung wegen des Vorliegens eines atypischen Ausnahmefalles komme hingegen nicht in Betracht. Es lägen schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vor. Der Kläger sei wegen schweren Raubes sowie unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln in 32 Fällen verurteilt worden. Die Ausweisung sei aus spezialpräventiven Gründen gerechtfertigt. Angesichts der Drogenabhängigkeit des Klägers und der Schwere der von ihm begangenen Straftaten bestehe ein hohes Rückfallrisiko. Eine Ausnahme von der gesetzlichen Regelentscheidung ergebe sich auch nicht aus der Tatsache, dass der Kläger eine abgeschlossene Berufsausbildung habe. Den Widerspruch des Klägers wies die Regierung von Schwaben mit Bescheid vom 21. Januar 2000 zurück.
Das Verwaltungsgericht hat die gegen die Ausweisung gerichtete Klage mit Urteil vom 10. Oktober 2000 abgewiesen. Es hat einen gesetzlichen Regelfall für die Ausweisung als erfüllt angesehen. Auch habe zum Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung im Januar 2000 eine Wiederholungsgefahr bestanden. Der Kläger könne sich nicht mit Erfolg auf Ansprüche aus dem Beschluss Nr. 1/80 vom 19. September 1980 des Assoziationsrates EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) berufen. Diese Ansprüche habe er verloren, weil er sich nach dem Ende des Krankengeldbezuges am 30. April 1998 bis zu seiner Inhaftierung am 7. Mai 1998 weder arbeitslos gemeldet noch eine Arbeitsstelle gesucht habe. Die Folgen seiner Erkrankung hätten ihn nicht daran gehindert, zumal er am 6. Mai 1998 auch in der Lage gewesen sei, einen Raubüberfall zu begehen. Unabhängig davon sei er als Strafgefangener nicht Arbeitnehmer im Sinne des Gemeinschaftsrechts und Assoziationsrechts.
Die hiergegen eingelegte Berufung des Klägers hat der Verwaltungsgerichtshof mit Urteil vom 7. August 2002 zurückgewiesen. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt: Die Voraussetzungen für eine Regelausweisung nach § 47 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2, § 48 Abs. 1 Nr. 2 AuslG lägen vor. Weder im Hinblick auf die familiären, wirtschaftlichen oder sonstigen Bindungen des Klägers in Deutschland noch unter Berücksichtigung der von ihm begangenen Straftaten unterscheide sich der vorliegende Fall in wesentlicher Weise von anderen typischen Ausweisungsfällen. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der behördlichen Widerspruchsentscheidung im Januar 2000 sei der Kläger durch die Verbüßung der Freiheitsstrafe auch noch nicht derart geläutert und beeindruckt gewesen, dass hätte angenommen werden können, von ihm gehe keine Gefahr neuer Verfehlungen aus. Denn trotz seiner bereits im Mai 1998 erfolgten Inhaftierung habe der Kläger auch in der Strafhaft noch Drogen konsumiert, und zwar sowohl im November 1999 als auch im Februar 2000. Deshalb habe die Behörde mit Recht befürchtet, dass er wegen seiner Betäubungsmittelabhängigkeit alsbald neue Straftaten begehen werde.
Die Ausweisung stehe auch mit den assoziationsrechtlichen Vorschriften des ARB 1/80 in Einklang. Der Kläger besitze – ungeachtet der Frage, ob er die Voraussetzungen des Art. 6 ARB 1/80 erfülle – jedenfalls ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80. Er sei nämlich Familienangehöriger eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmers, da sein Vater seit 1972 in Deutschland lebe und arbeite. Außerdem lebe der Kläger seit mehr als fünf Jahren in Deutschland. Sein Aufenthaltsrecht aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 sei auch nicht durch die Inhaftierung von Mai 1998 bis November 2001 entfallen. Denn ein Verlust der erworbenen Rechtsstellung könnte – abgesehen von Art. 14 ARB 1/80 – nur dann eintreten, wenn der Familienangehörige des türkischen Arbeitnehmers das Gebiet des Mitgliedstaats für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlasse. Der Kläger habe aber weder Deutschland freiwillig verlassen noch sei er dauerhaft aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden. Vielmehr habe er sich unmittelbar nach seiner Inhaftierung um die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bemüht und im März 2002 eine Arbeit gefunden. Der Kläger sei nicht einmal gezwungen, nach Erwerb der Rechtsposition aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 seinen ihm zustehenden freien Zugang zum Arbeitsmarkt zu realisieren. Vielmehr habe er hierzu das Recht, nicht aber die Pflicht. Insofern unterscheide sich Art. 7 von Art. 6 ARB 1/80, der eine ordnungsgemäße Beschäftigung mit der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis verknüpfe. Dass eine Unterbrechung der Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet nicht schädlich sei, sei es durch Inhaftierung, Krankheit etc., zeige sich zudem darin, dass Art. 7 ARB 1/80 keine dem Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80 vergleichbare Regelung über den Verlust von aufgrund der vorherigen Beschäftigungszeit erworbenen Ansprüchen enthalte und sich Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80 speziell auf Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 beziehe und demzufolge im Rahmen des Art. 7 ARB 1/80 keine (entsprechende) Anwendung finde. Daraus ergebe sich, dass nur die dauernde Ausreise aus dem Bundesgebiet oder das endgültige Verlassen des Arbeitsmarktes zum Erlöschen von Ansprüchen aus Art. 7 ARB 1/80 führe.
Die Ausweisung des Klägers sei aber auch unter Berücksichtigung seiner assoziationsrechtlichen Rechtsposition nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 rechtmäßig. Die Aufenthaltsbeendigung diene spezialpräventiven Gründen, weil der vom Kläger begangene schwere Raub und die Vielzahl der Betäubungsmitteldelikte ein persönliches Verhalten erkennen ließen, das eine schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstelle und die konkrete Gefahr von weiteren schweren Störungen der öffentlichen Ordnung begründe. Zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids sei der Kläger noch drogenabhängig gewesen, zudem sei er während des Strafvollzugs im November 1999 und im Februar 2000 wegen unerlaubten Drogenkonsums disziplinarisch belangt worden. Aufgrund der jedenfalls noch vorhandenen Betäubungsmittelabhängigkeit habe die konkrete Gefahr bestanden, dass sich der Kläger zur Befriedigung seiner Sucht erneut Betäubungsmittel – auch unter Anwendung von Gewalt oder Drohungen – verschaffen würde. Bei einem drogenabhängigen Straftäter bestehe jedenfalls vor dem erfolgreichen Abschluss einer Entziehungstherapie oder vor Ablauf eines längeren Zeitraums, in dem sich der Täter drogenfrei gehalten habe, eine erhöhte Wiederholungsgefahr.
Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner vom Berufungsgericht zugelassenen Revision. Er beruft sich auf eine aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 abgeleitete Rechtsposition und sieht die Voraussetzungen für eine Ausweisung nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 nicht als erfüllt an. Der Verwaltungsgerichtshof stelle bei der Frage, ob seine, des Klägers, weitere Anwesenheit in Deutschland eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstelle, zu Unrecht auf den Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung ab. Maßgeblich sei die Sachlage in der letzten Tatsacheninstanz. Seine seit Januar 2000 eingetretene positive Entwicklung sei daher zu Unrecht unberücksichtigt geblieben. Im Übrigen erfordere die Ausweisung eines assoziationsrechtlich begünstigten türkischen Staatsangehörigen eine Ermessensentscheidung, an der es hier fehle. Die Ausweisung verstoße auch gegen Art. 8 EMRK, weil es sich bei ihm um einen faktischen Inländer handele, dessen Ausweisung – auch unter Berücksichtigung der begangenen Straftaten – unverhältnismäßig sei. Er habe regelmäßig Termine bei der Drogenberatung wahrgenommen. Zwar sei er der Polizei im Februar 2004 wegen Besitzes von 0,2 g Heroingemisch aufgefallen und deshalb zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt worden. Die Freiheitsstrafe sei aber zur Bewährung ausgesetzt worden, womit ihm eine günstige Sozialprognose gestellt worden sei. Außerdem unterziehe er sich seit Mai 2004 einer psychotherapeutischen Behandlung. Nach einer vom Klägervertreter vorgelegten Bescheinigung seines Bewährungshelfers vom 27. Juli 2004 hat der Kläger seine im März 2002 aufgenommene Arbeit nach drei Wochen durch Kündigung des Arbeitgebers wieder verloren. Er suche weiter Arbeit und lebe von der Arbeitslosenunterstützung.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 7. August 2002 und des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 10. Oktober 2000 zu ändern und den Bescheid der Beklagten vom 2. September 1999 in der Fassung des Widerspruchsbescheids der Regierung von Schwaben vom 21. Januar 2000 aufzuheben.
Die Beklagte, die Landesanwaltschaft Bayern und der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht treten der Revision des Klägers entgegen.
Die Beklagte hält es für höchstrichterlich noch nicht geklärt, unter welchen Voraussetzungen ein türkischer Staatsangehöriger eine erworbene Rechtsposition aus Art. 7 ARB 1/80 wieder verlieren könne. Im vorliegenden Fall zeigten der Drogenkonsum des Klägers in der Haft und das Fehlen einer Langzeittherapie, dass auch zum Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs schwerwiegende Anhaltspunkte für die fortbestehende Gefahr der Begehung von Straftaten bestanden hätten. Die Ausweisung verstoße auch nicht gegen Art. 8 EMRK. Der Kläger beherrsche die türkische Sprache und verständige sich mit seinen Eltern in Türkisch. Er habe in Deutschland eine türkische Staatsangehörige geheiratet, was zeige, dass er durchaus noch in diesem Kulturkreis verwurzelt sei. Ihm sei es daher durchaus möglich und zumutbar, sich in die Verhältnisse in der Türkei einzugewöhnen.
Die Landesanwaltschaft Bayern vertritt die Auffassung, dass eine Rechtsposition des Klägers aus Art. 7 ARB 1/80 nicht mehr bestehe. Das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht stelle lediglich eine Folge des Arbeitsmarktzugangs dar. Stehe ein türkischer Staatsangehöriger, wie der Kläger, dem Arbeitsmarkt durch Arbeitslosigkeit und mehr als dreijährige Strafhaft nicht mehr zur Verfügung, erlösche auch sein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht. Art. 7 ARB 1/80 diene nicht einwanderungspolitischen Zwecken. Selbst wenn man von einer Anwendbarkeit des ARB 1/80 auf den Kläger ausginge, stünde dies seiner Ausweisung gemäß Art. 14 ARB 1/80 nicht entgegen.
Der Vertreter des Bundesinteresses geht davon aus, dass der Kläger zumindest eine Rechtsposition nach Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 erworben habe. Das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht stelle sich jedoch als reines Hilfsrecht des durch den Beschluss Nr. 1/80 intendierten Arbeitsmarktzugangs dar. Dies habe zur Folge, dass – wenn der Wille oder die Möglichkeit zur Aufnahme einer Beschäftigung fehlten – die Rechtsposition nach Art. 7 ARB 1/80 zwar nicht erlösche, jedoch ruhe mit der Folge, dass hieraus kein Aufenthaltsrecht abgeleitet werden könne. Entfielen die Hinderungsgründe einer Beschäftigungsaufnahme, lebe auch das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht wieder auf. Eine andere Sichtweise ließe das Aufenthaltsrecht zum Selbstzweck werden. Da der Kläger im vorliegenden Verfahren jedenfalls für längere Zeit dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung gestanden habe, habe sein aus Art. 7 ARB 1/80 abgeleitetes Aufenthaltsrecht zumindest geruht.
Entscheidungsgründe
II.
Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Ausländerbehörde die Ausweisung des Klägers nach nationalem Recht auf § 47 Abs. 1 Nr. 1, § 48 Abs. 1 Nr. 2 AuslG stützen und nach § 47 Abs. 3 Satz 1 AuslG als Regelausweisung ohne Ermessensentscheidung wegen des begangenen schweren Raubes und der begangenen Drogenstraftaten verfügen durfte. Das Berufungsurteil wäre daher im Ergebnis rechtlich nicht zu beanstanden, wenn dem Kläger kein Aufenthaltsrecht nach dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei vom 19. September 1980 – ARB 1/80 – zustünde. Verfügte der Kläger dagegen im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht über ein Aufenthaltsrecht nach diesem Beschluss, wäre das Berufungsurteil aufzuheben, weil es die Anforderungen, die sich aus Art. 14 ARB 1/80 für eine Beendigung eines aus Art. 6 oder Art. 7 ARB 1/80 abgeleiteten Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ergeben, verkannt und damit Bundesrecht verletzt hat. Die Sache wäre dann zur Nachholung der fehlenden tatsächlichen Feststellungen an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Denn türkische Staatsangehörige, die den Ausweisungsschutz nach Art. 14 ARB 1/80 besitzen, dürfen nach dem Urteil des Senats vom heutigen Tage im Verfahren BVerwG 1 C 29.02 (zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen) nur im Wege einer Ermessensentscheidung ausgewiesen werden, der die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht zugrunde liegt. Der Senat hat insoweit die aus dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 29. April 2004 in den Rechtssachen Orfanopoulos und Oliveri (Rs. C-482/01 und C-493/01, DVBl 2004, 876) für freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger gezogenen Konsequenzen auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige nach dem ARB 1/80 übertragen. Diese Anforderungen hat das Berufungsgericht nicht berücksichtigt; es hat eine Ermessensentscheidung nicht für erforderlich gehalten und lediglich auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des behördlichen Widerspruchsbescheids abgestellt. Es ist daher entscheidungserheblich, ob der Kläger zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht eine Rechtsposition nach Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 – hilfsweise nach Art. 6 ARB 1/80 – besaß.
1. Der Kläger hat mit dem erfolgreichen Abschluss seiner Berufsausbildung als Metallbauer im Februar 1994 eine – auch ein Aufenthaltsrecht umfassende – Rechtsposition nach Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 erworben. Nach dieser Vorschrift können sich Kinder türkischer Arbeitnehmer, die im Aufnahmeland eine Berufsausbildung abgeschlossen haben, unabhängig von der Dauer ihres Aufenthalts in dem betreffenden Mitgliedstaat auf jedes Stellenangebot bewerben, sofern ein Elternteil dort seit mindestens drei Jahren ordnungsgemäß beschäftigt war. Der Vater des Klägers gehörte im Februar 1994 bereits seit mehr als zwanzig Jahren dem regulären Arbeitsmarkt in Deutschland an.
Zu klären ist, ob der Kläger die im Jahre 1994 erworbene Rechtsposition nach Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 nachträglich wieder verloren hat. Aus welchen Gründen eine aufenthaltsrechtliche Position aus Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 verloren gehen kann, ist nach Auffassung des Senats in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften noch nicht abschließend geklärt. Der Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 16. März 2000 in der Sache Ergat (Rs. C-329/97, Slg. 2000, I-1487, Rn. 45 bis 48) entschieden, dass das Aufenthaltsrecht als Folge des Rechts auf Zugang zum Arbeitsmarkt nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 nicht unbegrenzt ist. Zum einen ermögliche Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 den Mitgliedstaaten, in Einzelfällen bei Vorliegen triftiger Gründe den Aufenthalt des türkischen Migranten in ihrem Gebiet zu beschränken, wenn dieser durch sein persönliches Verhalten die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit tatsächlich und schwerwiegend gefährde. Zum anderen verliere ein Familienangehöriger, der die Genehmigung erhalten habe, zu einem türkischen Arbeitnehmer in einen Mitgliedstaat zu ziehen, der jedoch das Gebiet des Staates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlasse, grundsätzlich die Rechtsstellung, die er aufgrund des Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 erworben habe. Diese beiden Verlusttatbestände gelten nach Auffassung des Senats auch für eine Rechtsposition nach Art. 7 Satz 2 ARB 1/80, weil ein abweichendes Schutzbedürfnis des Familienangehörigen insoweit nicht erkennbar ist. Die Nennung dieser beiden Verlusttatbestände dürfte aber nicht abschließend sein. Vielmehr hält es der Senat für möglich, dass auch andere Gründe den Verlust des Aufenthaltsrechts nach dieser Vorschrift zur Folge haben.
Das Erreichen der Volljährigkeit führt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften allerdings nicht zum Verlust dieser Rechtsstellung (vgl. EuGH, Urteile vom 5. Oktober 1994 – Rs. C-355/93 – Eroglu – Slg. 1994, I-5113, Rn. 3, 16 ff. und – Ergat – a.a.O., Rn. 26 f.). Dieser Auffassung ist der Senat im Urteil vom 12. Dezember 1995 (BVerwG 1 C 35.94 – BVerwGE 100, 130 ≪134≫) unter Hinweis auf das Fehlen einer entsprechenden Altersbeschränkung in Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 gefolgt. Demgegenüber vertritt Generalanwalt Geelhoed (EuGH, Schlussanträge vom 25. Mai 2004 – Rs. C-275/02 – Ayaz – Rn. 52) – jedenfalls zu Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 – eine differenzierende Auffassung. Demnach soll ein volljähriges Kind die Rechtsposition nach dieser Vorschrift verlieren, wenn es (noch) nicht arbeitet und ihm von dem Arbeitnehmer kein Unterhalt gewährt wird. Sollte diese Frage nach Auffassung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften erheblich sein, müsste sie im weiteren Verfahrensverlauf geklärt werden.
a) Der Kläger könnte seine Rechtsposition zunächst dadurch verloren haben, dass er im März 1999 wegen schweren Raubes und Betäubungsmitteldelikten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt worden ist, die Strafe – auch im Nachhinein – nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist und er die gesamte Strafe unter Anrechnung erlittener Untersuchungshaft verbüßt hat.
Für einen Verlust der Rechtsstellung aus Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 könnte die haftbedingte mehrjährige Abwesenheit des Klägers vom Arbeitsmarkt sprechen. Ein Ausscheiden aus dem Arbeitsmarkt ist nach den vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im Rahmen der Auslegung des Art. 6 ARB 1/80 entwickelten Grundsätzen für den Verlust von Rechten aus dem Beschluss Nr. 1/80 maßgeblich. Der Gerichtshof hat im Urteil Bozkurt ausgeführt, ein türkischer Staatsangehöriger könne sich nicht mehr auf ein aus Art. 6 ARB 1/80 abgeleitetes Aufenthaltsrecht berufen, wenn er das Rentenalter erreicht habe oder aufgrund eines Arbeitsunfalls dauerhaft arbeitsunfähig sei (EuGH, Urteil vom 6. Juni 1995 – Rs. C-434/93 – Bozkurt – Slg. 1995, I-1475, Rn. 39 f.). In einem solchen Fall müsse davon ausgegangen werden, dass der Betroffene den Arbeitsmarkt des Mitgliedstaats endgültig verlassen habe. Das Aufenthaltsrecht, auf das er sich berufen hat, weise dann keinen Bezug mehr zu einer – auch künftigen – Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis auf. Ob es auf diese für Art. 6 ARB 1/80 maßgeblichen Gesichtspunkte auch im Rahmen von Art. 7 ARB 1/80 ankommt, hängt davon ab, welche Ziele mit dieser Vorschrift verfolgt werden. Für die Berücksichtigung der Zugehörigkeit zum Arbeitsmarkt spricht möglicherweise, dass das Aufenthaltsrecht die praktische Wirksamkeit des Rechts auf Zugang zur Beschäftigung gewährleisten soll (EuGH, Urteil vom 19. November 1998 – Rs. C-210/97 – Akman – Slg. 1998, I-7519, Rn. 24). Gegen eine Übertragung der erwähnten, zu Art. 6 ARB 1/80 entwickelten Rechtsprechung auf die aus Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 erwachsene Rechtsposition würde allerdings sprechen, wenn die Bestimmungen des Art. 7 ARB 1/80 einen geringeren Arbeitsmarktbezug als Art. 6 ARB 1/80 aufweisen sollten, bei ihnen vielmehr allgemein die Integration von Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers in den Aufnahmemitgliedstaat im Vordergrund stünde. Andererseits hat der Gerichtshof im Urteil Akman ausgeführt, dass Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 – anders als Art. 7 Satz 1 – nicht dazu diene, günstige Voraussetzungen für die Familienzusammenführung im Aufnahmemitgliedstaat zu schaffen (Rn. 43, 46). Vielmehr ziele Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 insbesondere darauf ab, türkischen Kindern, die ihre berufliche Qualifikation in einem Mitgliedstaat erworben haben, günstigere Beschäftigungsbedingungen zu verschaffen (EuGH, Urteil vom 19. November 1998 – Rs C-210/97 – Akman – Slg. 1998, I-7519, Rn. 38, 49). Zu berücksichtigen ist auch, dass das aus Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 abgeleitete Aufenthaltsrecht – wie der Gerichtshof mehrfach betont hat – von dem Zeitpunkt des Erwerbs des Rechts auf freien Zugang zur Beschäftigung im Aufnahmemitgliedstaat an vom Fortbestehen der Voraussetzungen für den Zugang zu dem Recht nach Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 unabhängig ist (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 16. März 2000 – Rs. C-329/97 – Ergat – Slg. 2000, I-1487, Rn. 40 m.w.N.; vgl. auch Generalanwalt Léger, Schlussanträge vom 10. Juni 2004; EuGH – Rs. C-467/02 – Cetinkaya – Rn. 37). Nach allem bedarf es der Klärung durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, inwieweit die Verlustgründe für ein aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 abgeleitetes Aufenthaltsrecht auf die in Rede stehende Rechtsposition nach Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 übertragbar sind.
Auch wenn man von der Übertragbarkeit der erwähnten Verlustgründe ausginge, wäre zu berücksichtigen, dass nicht jede Abwesenheit des türkischen Arbeitnehmers vom Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats zwangsläufig zum Verlust der aufgrund von Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erworbenen Rechte führt. Die vorübergehende Abwesenheit aufgrund von Untersuchungshaft wegen einer Straftat, für die der Betroffene später rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, stellt seine Teilnahme am Erwerbsleben nicht in Frage (EuGH, Urteil vom 10. Februar 2000 – Rs. C-340/97 – Nazli – Slg. 2000, I-957, Rn. 36 ff.). Nicht geklärt ist, was insoweit im Falle von Strafhaft gilt. Für eine Heranziehung der gleichen Grundsätze spricht möglicherweise das Urteil Orfanopoulos (EuGH, a.a.O., Rn. 50). Welche Auswirkungen die Verurteilung zu einer dreijährigen Jugendstrafe auf eine erworbene Rechtsposition nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 hat, ist Gegenstand eines beim Gerichtshof anhängigen Vorlageverfahrens in der Rechtssache C-467/02, Cetinkaya. Ob die Verbüßung einer Freiheitsstrafe von drei Jahren zum Verlust der Rechte aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 führt, ist Inhalt eines Vorabentscheidungsersuchens des Verwaltungsgerichtshofs Wien vom 4. September 2003 – InfAuslR 2004, 264.
b) Der Kläger könnte seine Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 auch dadurch verloren haben, dass er selbst einer Beschäftigung als Arbeitnehmer im regulären Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland nachgegangen ist und dadurch in eigener Person ein aus dem Recht auf Zugang zur Beschäftigung abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 6 Abs. 1 zweiter oder dritter Spiegelstrich ARB 1/80 erworben hat. In der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften ist bisher nicht geklärt, welche Folgen der Erwerb einer Rechtsposition nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 für einen nach Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 Berechtigten hat (vgl. dazu, dass die bloße Aufnahme einer Beschäftigung noch nicht zum Verlust von Aufenthaltsrechten aus Art. 7 Satz 1 und Satz 2 ARB 1/80 führt, BVerwG, Urteil vom 11. Juni 1996 – BVerwG 1 C 24.94 – BVerwGE 101, 248 ≪264≫). Die Frage stellt sich im vorliegenden Fall, da der Kläger mit seiner dreieinhalbjährigen Beschäftigung beim gleichen Arbeitgeber während seiner Berufsausbildung jedenfalls die Rechtsstellung nach Art. 6 Abs. 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 erworben hat. Denn auch im Rahmen einer Berufsausbildung, die bei einem Arbeitgeber gegen Vergütung abgeleistet wird, ist der Auszubildende in den Arbeitsmarkt integriert und kann – abhängig von der Dauer der Tätigkeit – eine Rechtsstellung nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erwerben (EuGH, Urteil vom 19. November 2002 – Rs. C-188/00 – Kurz – Slg. 2002, I-10691, Rn. 42 bis 47; ebenso BVerwG, Urteil vom 19. September 2000 – BVerwG 1 C 13.00 – Buchholz 402.240 § 6 AuslG Nr. 15). Ob der Kläger zusätzlich zur Rechtsstellung nach Art. 6 Abs. 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 auch eine solche nach dem dritten Spiegelstrich dieser Bestimmung erworben hat, bedürfte im Falle der Entscheidungserheblichkeit weiterer tatrichterlicher Klärung. Der Kläger hat im Anschluss an die dreieinhalbjährige Berufsausbildung weitere drei Jahre bei wechselnden Unternehmen gearbeitet. Bisher fehlt es an Feststellungen zur Dauer der einzelnen Beschäftigungen, zu möglichen Unterbrechungen zwischen den Beschäftigungen und zu deren Gründen.
Sollten die Rechte aus Art. 7 Satz 2 und Art. 6 Abs. 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 nebeneinander bestehen bleiben, ist weiter zu klären, ob es für den Verlust des Aufenthaltsrechts des Klägers nach Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 von Bedeutung ist, wenn er seine Rechtsstellung nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 wieder verloren hat. Denn es ist fraglich, ob der Familienangehörige eines türkischen Arbeitnehmers, der selbst ein eigenes aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 abgeleitetes Aufenthaltsrecht erworben hat, hinsichtlich der Verlusttatbestände besser gestellt sein soll als derjenige, der (nur) aus eigenen Beschäftigungszeiten ein uneingeschränktes Zugangsrecht zum Arbeitsmarkt in dem Mitgliedstaat besitzt. Die Frage eines solchen Verlustes stellt sich aus den drei folgenden im Vorlagebeschluss bezeichneten Gründen:
aa) Der Kläger könnte seine Rechtsposition nach Art. 6 ARB 1/80 – und damit möglicherweise auch diejenige nach Art. 7 ARB 1/80 – dadurch verloren haben, dass er im Juli 1997 aus seinem letzten Beschäftigungsverhältnis aufgrund drogensuchtbedingter fristloser Kündigung durch den Arbeitgeber ausgeschieden ist.
Für einen derartigen Rechtsverlust könnte sprechen, dass der Kläger aufgrund eines ihm zurechenbaren Umstands – seiner (damaligen) Drogensucht – aus seinem Arbeitsverhältnis ausgeschieden ist und offenbar erst im März 2002 (nach seiner Haftentlassung) wieder eine Beschäftigung gefunden hat, die jedoch bereits nach dreiwöchiger Dauer wieder durch Kündigung seitens des Arbeitgebers in der Probezeit endete. Namentlich stellt sich die Frage, ob Art. 6 Abs. 2 Satz 2 ARB 1/80, der – neben hier nicht in Betracht kommenden Zeiten – nur die Zeiten “unverschuldeter” Arbeitslosigkeit privilegiert, für ein solches Ergebnis spricht. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften hat in der Sache Tetik (EuGH, Urteil vom 23. Januar 1997 – Rs. C-171/95 – Slg. 1997, I-329, Rn. 39 ff.) – es ging um einen türkischen Arbeitnehmer, der die Position des Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 erreicht hatte – ausgeführt: Art. 6 Abs. 2 Satz 2 ARB 1/80 solle nur verhindern, dass ein türkischer Arbeitnehmer, der wieder zu arbeiten beginne, nachdem er wegen langer Krankheit oder unverschuldeter Arbeitslosigkeit nicht habe arbeiten können, wieder von neuem die in den drei Spiegelstrichen des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 vorgesehenen Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung zurücklegen müsse. Aus der freiwilligen Aufgabe einer Beschäftigung folge nicht ohne Weiteres ein endgültiges Verlassen des Arbeitsmarkts des Mitgliedstaats. Nicht abschließend geklärt ist bisher, ob ein türkischer Arbeitnehmer, der (zumindest) die Rechtsstellung des Art. 6 Abs. 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 erreicht hat, diese Stellung durch ein unfreiwilliges, aber ihm zurechenbares Verhalten (hier: drogensuchtbedingte Kündigung) wieder verloren hat. Soweit der Kläger im März 2002 kurzfristig wieder eine Beschäftigung gefunden hat, ist möglicherweise von Bedeutung, dass zweifelhaft ist, ob die Beschäftigung ordnungsgemäß im Sinne von Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 war. Der Kläger wird nämlich nach seiner Ausweisung offenbar nur faktisch geduldet (vgl. §§ 55 ff. AuslG), was nicht die erforderliche gesicherte Position auf dem Arbeitsmarkt (vgl. EuGH – Bozkurt – a.a.O., Rn. 26) begründen kann.
bb) Der Kläger könnte seine Rechtsposition nach Art. 6 ARB 1/80 – und zugleich möglicherweise diejenige nach Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 – ferner dadurch verloren haben, dass er sich nach über dreimonatiger Erkrankung in der Zeit zwischen dem Ende seiner Arbeitsunfähigkeit am 30. April 1998 und seiner Verhaftung am 7. Mai 1998 wegen der Begehung einer Straftat nicht erneut bei der zuständigen Behörde arbeitslos gemeldet hat.
Das erstinstanzliche Verwaltungsgericht hat aus der unterlassenen Arbeitslosmeldung den Verlust der Rechtsstellung nach Art. 7 ARB 1/80 abgeleitet. Der Kläger habe damit dokumentiert, dass er nach dem 30. April 1998 keine unselbständige Erwerbstätigkeit mehr habe ausüben wollen. Zwar hat der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im Urteil Tetik (a.a.O., Rn. 41) bezogen auf die damalige Fallsituation ausgeführt, der türkische Arbeitnehmer gehöre dem regulären Arbeitsmarkt im Sinne von Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 nach Aufgabe seiner bisherigen Beschäftigung grundsätzlich nur dann an, wenn er alle Formalitäten erfülle, die im betreffenden Mitgliedstaat ggf. vorgeschrieben seien (z.B. Meldung als Arbeitssuchender; vgl. § 122 SGB III). Der Senat hat aber erhebliche Zweifel, ob aus dem nur drei Werktage umfassenden Zeitraum der Untätigkeit des Klägers geschlossen werden kann, dass er keine unselbständige Erwerbstätigkeit mehr ausüben und damit endgültig aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden wollte. Er hat dem Gerichtshof im Übrigen mit Beschluss vom 18. März 2003 in der Sache, EuGH – Rs. C-230/03 – Sedef – (BVerwGE 118, 61) die Frage vorgelegt, ob bestimmte kurzzeitige Unterbrechungen der Beschäftigung, die nicht von Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80 erfasst werden, das Entstehen eines Anspruchs nach Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 verhindern oder den anspruchserhaltenden Unterbrechungen des Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80 gleichgestellt werden können. Ob die unterlassene Arbeitslosmeldung hier die Rechtsstellung aus Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 berührt, bedarf der Klärung durch den Gerichtshof.
cc) Der Senat hat den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften bereits mit der Frage 1a nach den Folgen der Verbüßung einer Strafhaft von drei Jahren und drei Monaten auf eine erworbene Rechtsposition nach Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 gefragt. Mit Frage 1b – cc hält der Senat ergänzend für klärungsbedürftig, wie sich die mehrjährige Abwesenheit des Klägers vom Arbeitsmarkt auswirkt, wenn davon auszugehen ist, dass er zuvor ein aus Art. 6 Abs. 1 zweiter oder dritter Spiegelstrich ARB 1/80 abgeleitetes Aufenthaltsrecht erworben hatte. Führt die Strafhaft zum Erlöschen des Aufenthaltsrechts aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80, könnte dies auch den Verlust der Rechtsstellung aus Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 zur Folge haben. Allerdings könnte von Bedeutung sein, dass der Kläger ca. ein Vierteljahr nach seiner Haftentlassung erneut eine Beschäftigung bei einer Zeitarbeitsfirma gefunden hat, die allerdings schon nach drei Wochen durch arbeitgeberseitige Kündigung wieder beendet wurde. Weiter könnte von Bedeutung sein, dass der Kläger während der Zeit der dreiwöchigen Beschäftigung aufgrund der ergangenen Ausweisungsverfügung über kein innerstaatliches Aufenthaltsrecht mehr verfügte (vgl. dazu auch oben aa).
2. Für den Fall, dass der Gerichtshof die Frage 1 bejaht, ersucht der Senat in Frage 2 um Klärung, ob der Kläger ggf. auch ein aus Art. 6 Abs. 1 zweiter oder dritter Spiegelstrich ARB 1/80 abgeleitetes Aufenthaltsrecht unter den drei in Frage 1b genannten Voraussetzungen verloren hat. Insoweit wird auf die Ausführungen unter 1b Bezug genommen.
Unterschriften
Dr. Mallmann, Hund, Richter, Beck, Prof. Dr. Dörig
Fundstellen
BVerwGE 2005, 324 |
InfAuslR 2004, 379 |
AuAS 2005, 22 |
DVBl. 2005, 132 |