Verfahrensgang
VG Greifswald (Urteil vom 20.10.1999; Aktenzeichen 5 A 4/97) |
Tenor
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Greifswald vom 20. Oktober 1999 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Der Wert des Streitgegenstands wird für das Beschwerdeverfahren auf 8 000 DM festgesetzt.
Gründe
Die Beschwerde hat Erfolg.
1. a) Der Kläger rügt zu Recht, dass das angefochtene Urteil im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts abweicht. Das Verwaltungsgericht hat über die Klage gegen den Musterungsbescheid vom 30. April 1996 uneinheitlich, nämlich in der Weise entschieden, dass es sie hinsichtlich der Tauglichkeit des Klägers für den Wehrdienst mangels Durchführung eines Widerspruchsverfahrens als unzulässig, hinsichtlich der verweigerten Zurückstellung vom Wehrdienst hingegen als unbegründet abgewiesen hat. Das steht nicht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, wonach Musterungsbescheide der Zerlegung in einen die Tauglichkeit und einen die Zurückstellung regelnden Entscheidungsteil nicht zugänglich sind (vgl. Urteil vom 25. Juni 1985 – BVerwG 8 C 72.83 – NVwZ 1985, 902 m.w.N.). Hieraus folgt, dass im Rechtsstreit über den Musterungsbescheid Tauglichkeitsfragen auch dann zu überprüfen sind, wenn sie – wie hier – nicht schon Gegenstand des Widerspruchsverfahrens waren (vgl. Urteil vom 21. Mai 1980 – BVerwG 8 C 13.79 – BVerwGE 60, 140 ≪141 ff.≫). Das hat das Verwaltungsgericht verkannt.
b) Das angefochtene Urteil beruht auf der dargelegten Abweichung. Das Verwaltungsgericht hat die Klage in Bezug auf die Tauglichkeit des Klägers nicht selbständig tragend als unbegründet abgewiesen. Bei seinen Ausführungen auf S. 5 des angefochtenen Urteils, in denen es entgegen der zuvor festgehaltenen teilweisen Unzulässigkeit der Klage deren vollständige Zulässigkeit unterstellt und diese auch hinsichtlich der Tauglichkeitsbeurteilung der Beklagten als unbegründet beurteilt hat („Im Übrigen wäre die Klage hinsichtlich der Feststellung der gesundheitlichen Tauglichkeit auch unbegründet…”), handelt es sich lediglich um nicht entscheidungstragende ergänzende Hinweise an die Parteien zur materiellen Rechtslage, die nicht geeignet waren, an der Verbindlichkeit des Entscheidungsausspruchs teilzunehmen. Denn die Gerichte sind, wie der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 12. Juli 2000 – BVerwG 7 C 3.00 –, Urteilsabdruck S. 9 f.) erst kürzlich im Anschluss an die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGHZ 11, 222, 223 f.; Urteil vom 27. November 1957 – IV ZR 121/57 – NJW 1958, 384) ausgesprochen hat, wegen der Verschiedenheit der Rechtskraftwirkung einer Prozess- und einer Sachabweisung nicht berechtigt, eine Klage zugleich aus prozessrechtlichen und aus sachlich-rechtlichen Gründen abzuweisen; aus diesem Grunde muss eine von der Vorinstanz der Prozessabweisung beigegebene Sachbeurteilung bei der Bestimmung des maßgeblichen Urteilsinhalts als nicht geschrieben behandelt werden (ebenso Gottwald, in: Münchener Kommentar zur ZPO, Bd. 1, 1992, § 322 Rn. 161; Leipold, in: Stein/Jonas, ZPO, Bd. 4, Teilband 1, 1998, § 322 Rn. 149).
2. Über den hiernach vorliegenden Revisionszulassungsgrund kann nicht deswegen in entsprechender Anwendung des § 144 Abs. 4 VwGO hinweggesehen werden, weil das angefochtene Urteil in einem Revisionsverfahren voraussichtlich als im Ergebnis richtig zu bestätigen wäre (vgl. Beschluss vom 17. März 1998 – BVerwG 4 B 25.98 – Buchholz 406.17 Bauordnungsrecht Nr. 66 m.w.N.). Zwar hat das Verwaltungsgericht in seinen ergänzenden Ausführungen zur Sache angenommen, dass der Gesundheitszustand des Klägers der dem Musterungsbescheid zugrunde liegenden Tauglichkeitsbeurteilung der Beklagten entspricht. Auf diese Feststellung des Verwaltungsgerichts kann jedoch der Senat seine Entscheidung über die Beschwerde des Klägers nicht stützen, weil sie ihrerseits mit einem Revisionszulassungsgrund behaftet ist (vgl. Pietzner, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Bd. II, § 133 Rn. 77). Das Verwaltungsgericht hat, wie der Kläger gleichfalls zu Recht geltend macht, bei der Feststellung des Gesundheitszustands des Klägers und dessen Zuordnung zu den gesetzlichen Tauglichkeits- und Verwendungsgraden seine Aufklärungspflicht verletzt (§ 86 Abs. 1 VwGO). Ihm musste sich auch ohne einen entsprechenden Beweisantrag des Klägers die Notwendigkeit einer Beweisaufnahme durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens aufdrängen. Dem Kläger sind im wehrbehördlichen Tauglichkeitsüberprüfungsverfahren aufgrund der Zentralen Dienstvorschrift (ZDv) 46/1 ärztlicherseits die Fehlernummern 8 der Gradation III und 42 der Gradation IV zuerkannt worden. Er hat während des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens einen Befundbericht des Arztes für Orthopädie Dr. J. vom 1. September 1997 vorgelegt, aus dem sich bis dahin nicht berücksichtigte Gesundheitsbeeinträchtigungen ergaben. In der daraufhin vom Verwaltungsgericht eingeholten ergänzenden Stellungnahme des Ärztlichen Dienstes der Wehrbereichsverwaltung VII vom 23. September 1997 werden mit Blick auf diese Gesundheitsbeeinträchtigungen zusätzlich die Fehlernummern 47 Gradation III und 59 Gradation III vergeben. Das Verwaltungsgericht hat diese Tauglichkeitsbeurteilung gebilligt, ohne zuvor ein medizinisches Sachverständigengutachten einzuholen. Hierzu war es jedoch nicht berechtigt, weil die ZDv 46/1 bei der Fehlernummer 59 ab der Gradation III eine orthopädische Untersuchung vorsieht. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Beschluss vom 18. Dezember 1998 – BVerwG 6 B 108.98 – Buchholz 448.0 § 8 a WPflG Nr. 64 m.w.N.) ist die Zuordnung ärztlich festgestellter körperlicher Fehler oder Leiden zu den Fehlernummern und Gradationen der Tauglichkeitsbestimmungen der ZDv 46/1 dann nicht ohne besondere medizinische Sachkunde möglich, wenn in dem zu beurteilenden Einzelfall aufgrund des Inhalts der vorhandenen ärztlichen Atteste und Stellungnahmen sowie der medizinischen Erfahrungssätze der ZDv 46/1 Anlass zu Abgrenzungszweifeln besteht, die ohne fachkundige Erläuterung nicht ausgeräumt werden können; das trifft insbesondere in Fällen zu, in denen – wie hier – nach der sachkundigen Einschätzung der wehrmedizinischen Verfasser der ZDv 46/1 eine gebietsärztliche Untersuchung des Wehrpflichtigen erforderlich oder angezeigt ist (vgl. Beschluss vom 17. Januar 1995 – BVerwG 8 B 149.94 – Buchholz 448.0 § 8 a WPflG Nr. 56 m.w.N.). In solchen Fällen muss das Tatsachengericht in Ermangelung der erforderlichen eigenen besonderen Sachkunde gerichtlichen Sachverständigenbeweis erheben, um den entscheidungserheblichen Sachverhalt pflichtgemäß vollständig aufzuklären. Da auch die im verwaltungsgerichtlichen Verfahren abgegebene ergänzende Stellungnahme des Ärztlichen Dienstes der Wehrbereichsverwaltung ein tatrichterlich nachvollziehbares und eigenverantwortlich überprüfbares medizinisches Gutachten nicht ersetzen konnte, durfte das Verwaltungsgericht auf die Einholung eines solchen Gutachtens nicht verzichten.
3. Der Kläger zieht aus der von ihm zu Recht gerügten Abweichung des angefochtenen Urteils von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die zutreffende Folgerung, dass das Verwaltungsgericht den Streitgegenstand des Klageverfahrens fehlerhaft beurteilt hat und die Klage nicht als teilweise unzulässig und teilweise unbegründet hätte abweisen dürfen. Unter diesen Umständen ist seine Abweichungsrüge zugleich als – begründete – Verfahrensrüge im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO aufzufassen (vgl. Beschluss vom 7. September 1995 – BVerwG 6 B 32.95 – Buchholz 448.6 § 5 KDVG Nr. 7). Der Senat macht daher im Interesse der Verfahrenbeschleunigung von der ihm in § 133 Abs. 6 VwGO eingeräumten Möglichkeit Gebrauch, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen. Da der gerügte Verfahrensfehler aller Voraussicht nach auch im Falle der Revisionszulassung zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz zwingen würde, steht die begründete Abweichungsrüge der Anwendung des § 133 Abs. 6 VwGO nicht entgegen (vgl. Beschluss vom 14. Oktober 1997 – BVerwG 1 B 164.97 – NVwZ 1998, 170, 172).
4. Mit der vorliegenden Entscheidung weicht der Senat nicht in entscheidungserheblicher Weise von dem im Urteil des 7. Senats des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. Juli 2000 – BVerwG 7 C 3.00 – (a.a.O.) erwähnten Beschluss des 4. Senats vom 11. November 1991 – BVerwG 4 B 190.91 – (Buchholz 310 § 113 VwGO Nr. 237) ab. Allerdings hat der 4. Senat in diesem Beschluss entgegen dem oben unter 1. Gesagten festgestellt, dass das Gericht nicht gehindert sei, eine Klage zugleich aus prozess- und aus materiellrechtlichen Gründen abzuweisen und dass in solchen Fällen (auch) seine Ausführungen zur Sache in Rechtskraft erwachsen könnten. Er hat jedoch zugleich betont, dass eine Nichtzulassungsbeschwerde bei mehrfacher, jeweils selbständig tragender Begründung dann Erfolg haben müsse, wenn gegen jeden Begründungsteil ein durchgreifender Revisionszulassungsgrund geltend gemacht werde. Da der Kläger auch die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zu seiner Tauglichkeit mit einer begründeten Verfahrensrüge angreift, müsste der beschließende Senat seiner Beschwerde auf der Grundlage der Rechtsauffassung des 4. Senats gleichfalls stattgeben. Eine Vorlage der Sache an den Großen Senat des Bundesverwaltungsgerichts gemäß § 11 Abs. 2 VwGO ist daher nicht erforderlich.
5. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 14 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3, § 13 Abs. 1 Satz 2 GKG.
Unterschriften
Bardenhewer, Büge, Graulich
Fundstellen