Verfahrensgang
OVG des Saarlandes (Urteil vom 31.01.2023; Aktenzeichen 2 C 31/22) |
Tenor
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes vom 31. Januar 2023 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.
Gründe
I
Rz. 1
Der Antragsteller wendet sich mit seinem am 13. Februar 2022 gestellten Normenkontrollantrag gegen die sogenannte 2G-Plus-Regelung bei der Inanspruchnahme von körpernahen, nicht medizinisch oder therapeutisch indizierten Dienstleistungen, namentlich Friseurdienstleistungen. § 6 Abs. 2 Nr. 1 der Verordnung des Antragsgegners zur Bekämpfung der Corona Pandemie (VO-CP) vom 10. Februar 2022 hatte folgenden Wortlaut:
§ 6
Nachweispflicht über das Nichtvorliegen einer
Infektion mit dem SARS-CoV-2-Virus
...
(2) Ausschließlich für Kundinnen und Kunden, Besucherinnen und Besucher sowie Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die einen 2G-Plus-Nachweis vorlegen, sowie für Personen, die aufgrund einer medizinischen Kontraindikation, insbesondere einer Schwangerschaft im ersten Schwangerschaftsdrittel, nicht gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 geimpft werden können oder in den letzten drei Monaten aufgrund einer medizinischen Kontraindikation nicht gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 geimpft werden konnten, die einen Nachweis im Sinne des § 2 Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 dieser Verordnung führen, sind zulässig
1. die Inanspruchnahme von körpernahen, nicht medizinisch oder therapeutisch indizierten Dienstleistungen,
2. - 13....
Rz. 2
Das Oberverwaltungsgericht hat den nach dem Außerkrafttreten der Vorschrift mit Ablauf des 18. Februar 2022 auf einen Fortsetzungsfeststellungsantrag umgestellten Normenkontrollantrag mit Urteil vom 31. Januar 2023 als unzulässig zurückgewiesen. Der Antragsteller habe kein berechtigtes Interesse an der nachträglichen Feststellung, dass § 6 Abs. 2 Nr. 1 VO-CP vom 10. Februar 2022 im Zeitpunkt seines Erlasses insoweit unwirksam war, als sich die Vorschrift auch auf die Inanspruchnahme von Friseurdienstleistungen bezog. Ein Feststellungsinteresse wegen Wiederholungsgefahr sei nicht anzunehmen, weil sich die epidemische Lage grundlegend verändert habe. Auch ein besonderes Feststellungsinteresse im Hinblick auf die mit der Norm verbundenen Grundrechtseingriffe liege nicht vor. Zwar gebiete das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz gemäß Art. 19 Abs. 4 GG die Möglichkeit einer gerichtlichen Klärung in Fällen gewichtiger, aber in zeitlicher Hinsicht überholter Grundrechtseingriffe, wenn sich die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränke, in welcher der Betroffene eine gerichtliche (Hauptsache-)Entscheidung kaum erlangen könne. Das gelte allerdings nur bei tiefgreifenden bzw. schwerwiegenden Grundrechtseingriffen. Ein solcher Eingriff liege im Fall des Antragstellers nicht vor. Der mit der 2G-Plus-Regelung verbundene Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) bzw. das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) sei nicht als hinreichend gewichtig zu qualifizieren. Zwar sei in sein Recht, das eigene Erscheinungsbild mittels eines Friseurbesuchs zu bestimmen, eingegriffen worden. Gegen die Schwere des Eingriffs spreche aber zum einen bereits die zeitliche Begrenzung der Regelung. Zum anderen sei es dem Antragsteller unbenommen geblieben, falls ihm der Besuch seines Friseurs derart wichtig gewesen sei, in eigener Verantwortung die Voraussetzungen der 2G-Plus-Regelung zu erfüllen. Schließlich sei es dem Antragsteller auch zuzumuten gewesen, für einen begrenzten Zeitraum seine Haare wachsen zu lassen oder sie vorübergehend durch Familienangehörige oder Freunde schneiden zu lassen. Ein Eingriff in die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) liege nicht vor. Auch auf einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) könne sich der Antragsteller zur Begründung seines nachträglichen Feststellungsinteresses nicht berufen. Die Differenzierung zwischen vollständig geimpften und Genesenen einerseits und noch nicht vollständig bzw. nicht geimpften Personen andererseits sei nicht willkürlich.
Rz. 3
Das Oberverwaltungsgericht hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich der Antragsteller mit seiner Beschwerde, zu deren Begründung er sich auf das Vorliegen eines Verfahrensfehlers beruft.
II
Rz. 4
Die Beschwerde des Antragstellers hat Erfolg. Das Oberverwaltungsgericht hätte ein berechtigtes Interesse des Antragstellers an der begehrten Feststellung nicht verneinen dürfen.
Rz. 5
1. Entgegen der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts hat der Antragsteller ein berechtigtes Interesse an der Feststellung, dass die nach Antragstellung außer Kraft getretene Rechtsvorschrift des § 6 Abs. 2 Nr. 1 VO-CP vom 10. Februar 2022 unwirksam war. Das Oberverwaltungsgericht hat die prozessrechtlichen Anforderungen an dieses Interesse verkannt. Darin legt ein Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO (vgl. BVerwG, Beschluss vom 27. November 2019 - 8 B 32.19 - ZOV 2020, 68).
Rz. 6
a) Gemäß § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO kann den Normenkontrollantrag jede natürliche oder juristische Person stellen, die geltend macht, durch die Rechtsvorschrift oder deren Anwendung in ihren Rechten verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden. Zwar geht § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO vom Regelfall der noch geltenden Rechtsvorschrift aus (vgl. auch § 47 Abs. 5 Satz 2 VwGO). Ist die angegriffene Norm während der Anhängigkeit des Normenkontrollantrags außer Kraft getreten, bleibt er aber zulässig, wenn der Antragsteller weiterhin geltend machen kann, durch die zur Prüfung gestellte Norm oder deren Anwendung in seinen Rechten verletzt (worden) zu sein. Darüber hinaus muss er ein berechtigtes Interesse an der Feststellung haben, dass die Rechtsvorschrift rechtswidrig war (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. November 2022 - 3 CN 1.21 - BVerwGE 177, 60 Rn. 9 m. w. N.).
Rz. 7
b) Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
Rz. 8
aa) Der Antragsteller hat den Normenkontrollantrag am 13. Februar 2022 und damit während der Geltungsdauer der Verordnung zur Bekämpfung der Corona-Pandemie (VO-CP) vom 10. Februar 2022 (Amtsblatt des Saarlandes Teil I S. 182) anhängig gemacht. Nach deren Außerkrafttreten mit Ablauf des 18. Februar 2022 (§ 17 Abs. 1 Satz 2 VO-CP vom 18. Februar 2022, Amtsblatt des Saarlandes Teil I S. 370) kann er weiterhin geltend machen, durch die angegriffene Vorschrift und - falls die inhaltsgleiche, bis einschließlich 3. März 2022 geltende Nachfolgeregelung des § 6 Abs. 2 Nr. 1 VO-CP vom 18. Februar 2022 (zur Geltungsdauer s. § 17 Abs. 1 Satz 2 VO-CP vom 25. Februar 2022, Amtsblatt des Saarlandes Teil I S. 421_2) von seinem Antragsbegehren umfasst sein sollte (vgl. UA S. 9 oben) - auch hierdurch in seinen Rechten verletzt worden zu sein. Nach seinem Vortrag erscheint es möglich, dass er durch die Regelung in § 6 Abs. 2 Nr. 1 VO-CP vom 10. Februar 2022, die ihm die Inanspruchnahme von körpernahen, nicht medizinisch oder therapeutisch indizierten Dienstleistungen nur bei Vorlage eines 2G-Plus-Nachweises gestattete, in seinem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) verletzt worden ist.
Rz. 9
bb) Der Antragsteller hat ein berechtigtes Interesse an der gerichtlichen Klärung, ob die Verordnungsregelung rechtswidrig war.
Rz. 10
(1) Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG garantiert effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt. Die Gerichte sind verpflichtet, bei der Auslegung und Anwendung des Prozessrechts einen wirkungsvollen Rechtsschutz zu gewährleisten und den Zugang zu den eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren. Mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes ist es grundsätzlich vereinbar, die Rechtsschutzgewährung von einem fortbestehenden Rechtsschutzinteresse abhängig zu machen und bei Erledigung des Verfahrensgegenstandes einen Fortfall des Rechtsschutzinteresses anzunehmen. Trotz Erledigung des ursprünglichen Rechtsschutzziels kann ein Bedürfnis nach gerichtlicher Entscheidung aber fortbestehen, wenn das Interesse des Betroffenen an der Feststellung der Rechtslage in besonderer Weise schutzwürdig ist. Ein Rechtsschutzbedürfnis besteht trotz Erledigung unter anderem dann fort, wenn ein gewichtiger Grundrechtseingriff von solcher Art geltend gemacht wird, dass gerichtlicher Rechtsschutz dagegen typischerweise nicht vor Erledigungseintritt erlangt werden kann (stRspr, BVerwG, Urteile vom 22. November 2022 - 3 CN 1.21 - BVerwGE 177, 60 Rn. 13, vom 16. Mai 2023 - 3 CN 4.22 - juris Rn. 16, - 3 CN 5.22 - NVwZ 2023, 1846 Rn. 15 und - 3 CN 6.22 - NVwZ 2023, 1830 Rn. 14 sowie vom 21. Juni 2023 - 3 CN 1.22 - NVwZ 2023, 1840 Rn. 13).
Rz. 11
(2) Danach ist ein schützenswertes Interesse des Antragstellers an der nachträglichen gerichtlichen Klärung der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Verordnungsregelung anzuerkennen.
Rz. 12
Die zur Prüfung gestellte Norm hatte eine kurze Geltungsdauer, nämlich vom 11. bis 18. Februar 2022 (im Falle einer Einbeziehung des § 6 Abs. 2 VO-CP vom 18. Februar 2022 bis einschließlich 3. März 2022), innerhalb derer gerichtlicher Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren nicht erlangt werden konnte. Es war typisch für die "Corona-Verordnungen", die alle Bundesländer seit März 2020 auf der Grundlage des Infektionsschutzgesetzes erlassen hatten, dass sie auf eine kurze Geltung angelegt waren. Das hatte zur Folge, dass sie ohne die Annahme eines berechtigten Feststellungsinteresses regelmäßig keiner Überprüfung in einem gerichtlichen Hauptsacheverfahren zugeführt werden konnten (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 3. Juni 2020 - 1 BvR 990/20 - NVwZ 2020, 1038 Rn. 8 und vom 10. Februar 2022 - 1 BvR 1073/21 - NVwZ-RR 2022, 321 Rn. 25).
Rz. 13
Der Antragsteller macht Beeinträchtigungen seiner grundrechtlichen Freiheiten geltend, die ein Gewicht haben, das die nachträgliche Klärung der Rechtmäßigkeit der Verordnungsregelungen rechtfertigt. Die Maßnahme hat in sein Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) eingegriffen. Dieses Grundrecht umfasst grundsätzlich auch das Recht auf eigenverantwortliche Gestaltung des äußeren Erscheinungsbildes (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 25. Juli 1972 - I WB 127.72 - BVerwGE 46, 1 ≪2≫ und vom 14. April 1983 - 2 WDB 1.83 - BVerwGE 76, 66 ≪73≫). Hierfür die Dienstleistungen eines Friseurbetriebs in Anspruch zu nehmen, ist nicht rechtfertigungsbedürftig. Ein Friseurbesuch als Teil des Alltagslebens war dem Antragsteller bereits seit dem 2. Dezember 2021 (vgl. § 6 Abs. 2 Nr. 1, § 17 Abs. 1 Satz 1 VO-CP vom 1. Dezember 2021, Amtsblatt des Saarlandes Teil I S. 2487_8), also für insgesamt zehn Wochen, nicht möglich. Die möglicherweise vom Antragsteller ebenfalls angegriffene Nachfolgeregelung galt bis einschließlich 3. März 2022, so dass sich der Zeitraum um zwei weitere Wochen verlängert hätte.
Rz. 14
Es spricht nicht gegen den Eingriffscharakter der Maßnahme gegenüber dem Antragsteller, dass sie sich zunächst unmittelbar bei dem (Friseur-)Betrieb auswirkte, dessen Dienstleistungen ohne Vorlage eines 2G-Plus-Nachweises nicht in Anspruch genommen werden durften und der daher wirtschaftliche Einbußen erlitt. Die Maßnahmen richteten sich auch an die Besucher der Betriebe (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. November 2022 - 3 CN 1.21 - BVerwGE 177, 60 Rn. 11). Sie sollten den Publikumsverkehr von Personen ohne 2G-Plus-Nachweis verhindern.
Rz. 15
Das Gewicht des Grundrechtseingriffs wird nicht dadurch gemindert, dass der Antragsteller sich hätte impfen lassen und so die Voraussetzung für den Friseurbesuch hätte erfüllen können (vgl. UA S. 14). Sollte die angegriffene Regelung das Ziel verfolgt haben, auf das durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützte Selbstbestimmungsrecht über die eigene körperliche Integrität einzuwirken, würde dies das Gewicht des Grundrechtseingriffs erhöhen, denn die Freiheit, selbst über eine Impfung zu entscheiden, ist grundrechtlich geschützt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 - BVerfGE 161, 299 Rn. 114; s. auch Beschluss vom 21. Juli 2022 - 1 BvR 469/20 u. a. - BVerfGE 162, 378 Rn. 69, 81). Zu der Frage, ob die angegriffene landesrechtliche Vorschrift darauf zielt, nicht geimpfte Personen zu einer Impfung zu bewegen, hat sich das Oberverwaltungsgericht nicht verhalten. Für die Gewichtung des Grundrechtseingriffs muss der Senat deshalb eine solche Zielsetzung unterstellen. Der durch die angegriffene Regelung bewirkte Eingriff in die Gestaltung des Alltags- und Privatlebens des Antragstellers hatte damit ein Gewicht, das die nachträgliche gerichtliche Klärung der Rechtmäßigkeit dieses Eingriffs rechtfertigt.
Rz. 16
2. Die angegriffene Entscheidung beruht auf dem geltend gemachten Verfahrensfehler (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Ein anderer Grund für die Verneinung eines berechtigten Interesses des Antragstellers an der begehrten Feststellung ist weder dargelegt noch ersichtlich.
Rz. 17
3. Der Senat macht im Interesse der Verfahrensbeschleunigung von der Befugnis nach § 133 Abs. 6 VwGO Gebrauch, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen.
Rz. 18
Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 i. V. m. § 52 Abs. 2 GKG.
Fundstellen
Dokument-Index HI16193292 |