Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufklärungspflicht der Hauptfürsorgestelle bei Entscheidung im Kündigungs-Zustimmungsverfahren
Orientierungssatz
1. Die Hauptfürsorgestelle hat im Zustimmungsverfahren nach § 15 SchwbG, um ihre Ermessensentscheidung in sachgerechter Weise treffen zu können, anknüpfend an den Antrag auf Zustimmung zur Kündigung und von ihm ausgehend von Amts wegen all das zu ermitteln und dann auch zu berücksichtigen, was erforderlich ist, um die gegensätzlichen Interessen der Schwerbehinderten und seines Arbeitgebers gegeneinander abwägen zu können (vgl. U. v. 2. Juli 1992 - BVerwG 5 C 51.90 - BVerwGE 90, 287 (294)).
2. Die Hauptfürsorgestelle ist nicht der Pflicht enthoben, sich von der Richtigkeit der für ihre Entscheidung wesentlichen Behauptungen eine eigene Überzeugung zu verschaffen; gründet sie dementgegen ihre Entscheidung auf unrichtige Behauptungen, dann begeht sie einen Ermessensfehler. Diese Aufklärungspflicht, die ihre Rechtsgrundlage nunmehr in § 20 SGB X findet, wird verletzt, wenn die Hauptfürsorgestelle (oder der zuständige Widerspruchsausschuß) sich damit begnügt, das Vorbringen des Arbeitgebers, soweit es im Rahmen der nach § 15 SchwbG gebotenen Interessenabwägung zu berücksichtigen ist, nur auf seine Schlüssigkeit hin zu überprüfen.
Verfahrensgang
Gründe
Die Nichtzulassungsbeschwerde hat keinen Erfolg.
Die Revision kann entgegen der Auffassung der Beigeladenen nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen werden. Die mit der Beschwerde zu § 15 SchwbG aufgeworfene Frage, ob die „Hauptfürsorgestelle und deren Widerspruchsausschuß im Rahmen der Amtsermittlung gemäß § 20 SGB X sich eine eigene Überzeugung von der Richtigkeit der für ihre Entscheidung wesentlichen Behauptungen … verschaffen” muß oder ob es der Untersuchungsgrundsatz zuläßt, „daß die Hauptfürsorgestelle und ihr Widerspruchsausschuß das Vorbringen des Arbeitgebers auf seine Schlüssigkeit prüfen und eine eventuell notwendige Beweiserhebung dem Arbeitsgericht im parallel laufenden Kündigungsschutzprozeß überlassen”, gibt der Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne der genannten Vorschrift. Denn diese Frage ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bereits hinreichend geklärt.
Der beschließende Senat hat in seinem Urteil vom 2. Juli 1992 - BVerwG 5 C 51.90 - (BVerwGE 90, 287 (294)) ausgeführt, daß die Hauptfürsorgestelle im Zustimmungsverfahren nach § 15 SchwbG, um ihre Ermessensentscheidung in sachgerechter Weise treffen zu können, anknüpfend an den Antrag auf Zustimmung zur Kündigung und von ihm ausgehend von Amts wegen all das zu ermitteln und dann auch zu berücksichtigen hat, was erforderlich ist, um die gegensätzlichen Interessen der Schwerbehinderten und seines Arbeitgebers gegeneinander abwägen zu können. In diesem Sinne hat das Bundesverwaltungsgericht bereits in seinem Urteil vom 28. November 1958 - BVerwG 5 C 32.56 - (BVerwGE 8, 46 (52)) entschieden, daß die Hauptfürsorgestelle nicht der Pflicht enthoben sei, sich von der Richtigkeit der für ihre Entscheidung wesentlichen Behauptungen eine eigene Überzeugung zu verschaffen; gründe sie dementgegen ihre Entscheidung auf unrichtige Behauptungen, dann begehe sie einen Ermessensfehler. Diese Aufklärungspflicht, die ihre Rechtsgrundlage nunmehr in § 20 SGB X findet, wird verletzt, wenn die Hauptfürsorgestelle (oder der zuständige Widerspruchsausschuß) sich damit begnügt, das Vorbringen des Arbeitgebers, soweit es im Rahmen der nach § 15 SchwbG gebotenen Interessenabwägung zu berücksichtigen ist, nur auf seine Schlüssigkeit hin zu überprüfen.
Soweit die Beigeladene mit der von ihr gefaßten Rechtsfrage auch geklärt wissen möchte, ob oder in welchem Umfang im Zustimmungsverfahren nach § 15 SchwbG die vom Arbeitgeber angeführten Kündigungsgründe in tatsächlicher Hinsicht aufzuklären sind, besteht ebenfalls kein höchstrichterlicher Klärungsbedarf. Das Bundesverwaltungsgericht hat bereits entschieden, daß die in § 20 SGB X geregelte Amtsermittlungspflicht der zuständigen Behörde ihre Konturen und ihre Reichweite aus dem materiellen Recht gewinnt (BVerwGE 90, 287 (294)). Ob und ggf. inwieweit ein dem Schwerbehinderten (oder seinem Arbeitgeber) zuzurechnendes Verhalten materiellrechtlich für die gebotene Interessenabwägung Bedeutung erlangen kann, läßt sich nicht allgemein bestimmen. Entscheidend sind sein Bezug zur Behinderung und seine an der Zweckrichtung des behinderungsrechtlichen Sonderkündigungsschutzes (vgl. dazu BVerwGE 90, 287 (292/293)) gemessene Bedeutung. Welche Umstände für die jeweils gegensätzlichen Interessen des Schwerbehinderten einerseits und des Arbeitgebers andererseits mit welchem Gewicht maßgeblich sind, ist somit eine Frage des Einzelfalls (so schon Senatsbeschluß vom 8. November 1993 - BVerwG 5 B 102.93 -).
TEXTAuch der geltend gemachte Zulassungsgrund der Abweichung des Berufungsurteils von den Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts vom 28. November 1958 - BVerwG 5 C 32.56 - (BVerwGE 8, 46) und vom 2. Juli 1992 - BVerwG 5 C 51.90 - (BVerwGE 90, 287) liegt nicht vor. Es ist entgegen der Meinung der Beigeladenen nicht ersichtlich, daß das Berufungsgericht im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO mit einem seine Entscheidung tragenden (abstrakten) Rechtssatz von einem in den genannten Urteilen aufgestellten ebensolchen Rechtssatz abgewichen wäre (vgl. z.B. Beschluß des Senats vom 12. Dezember 1991 - BVerwG 5 B 68.91 - (Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 302)). Abgesehen davon, daß das Senatsurteil vom 28. November 1958 zum Schwerbeschädigtengesetz vom 16. Juni 1953 ergangen ist, während Gegenstand des angegriffenen Berufungsurteils die – im hier maßgeblichen Zusammenhang mit § 14 dieses Gesetzes allerdings wortgleiche – Vorschrift des § 15 SchwbG Fassung 1986 ist, widerspricht das Berufungsurteil nicht dem vom Bundesverwaltungsgericht zu der zuletzt angeführten Bestimmung entwickelten – und in der Beschwerde insoweit als Ausgangs- und Bezugspunkt ihres Vorbringens hervorgehobenen – Rechtssatz, daß die Hauptfürsorgestelle, um ihre Ermessensentscheidung in sachgerechter Weise treffen zu können, anknüpfend an den Antrag des Arbeitgebers auf Zustimmung zur ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses des bei ihm beschäftigten Schwerbehinderten und ausgehend von diesem Antrag „von Amts wegen all das zu ermitteln und dann auch zu berücksichtigen” hat, „was erforderlich” ist, „um die gegensätzlichen Interessen” von Schwerbehindertem und Arbeitgeber „gegeneinander abwägen zu können” (BVerwGE 90, 287 (294); Senatsbeschluß vom 8. November 1993 (a.a.O.)). Denn das Berufungsgericht hat sich (auf S. 12 seines Urteils) die Ansicht, „die Hauptfürsorgestelle dürfe sich nicht darauf beschränken, die von dem Arbeitgeber geltend gemachten Kündigungsgründe auf ihre Schlüssigkeit zu überprüfen. Sie müsse sich vielmehr eine eigene Überzeugung von der Richtigkeit der für ihre Entscheidung wesentlichen Behauptungen verschaffen” (Hervorhebung nicht im Original), ausdrücklich zu eigen gemacht und den Fall des Klägers „im Anschluß an” diese Ansicht entschieden. Daß es dabei, worauf die Beschwerde abhebt, „sämtliche vom Arbeitgeber im Rahmen seines Zustimmungsantrags geltend gemachten Kündigungsgründe, soweit sie vom Schwerbehinderten bestritten werden,” für aufklärungsbedürftig gehalten hat, mag als unrichtige Anwendung – die Beschwerde spricht von „Erweiterung” – des von der Beigeladenen angeführten (und oben wiedergegebenen) Rechtssatzes des Bundesverwaltungsgerichts angesehen werden; zur Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO könnte dies aber nicht führen (vgl. Beschluß des Senats vom 12. Dezember 1991 (a.a.O.)). Näher liegt allerdings anzunehmen, daß die zuletzt zitierte Erwägung des Berufungsgerichts diesen Rechtssatz überhaupt nicht betrifft, sondern allein die ihm vorgelagerte und, wie in dem wiederholt schon erwähnten Senatsbeschluß vom 8. November 1993 dargelegt, einzelfallabhängige Frage zum Gegenstand hat, welche Umstände für die Abwägung der Interessen von Schwerbehindertem und Arbeitgeber maßgeblich und damit für die Ermessensentscheidung der Hauptfürsorgestelle erheblich sind; in diesem Fall kommt eine Revisionszulassung wegen Divergenz erst recht nicht in Betracht. öEin Verfahrensmangel, auf dem das Berufungsurteil beruhen kann und der deshalb die Revision gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO rechtfertigen könnte, läßt sich dem Beschwerdevorbringen ebenfalls nicht entnehmen. Soweit die Beschwerde rügt, das Berufungsgericht habe die von ihm geforderte zusätzliche Tatsachenerhebung selbst durchführen oder jedenfalls dem Verwaltungsgericht überlassen müssen, und damit eine Aufklärungsrüge (§ 86 Abs. 1 VwGO) begründen will, läßt sie außer Betracht, daß bei der Prüfung, ob dem Tatsachengericht ein Verfahrensfehler unterlaufen ist, nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts von der materiellrechtlichen Rechtsauffassung des Tatsachengerichts auszugehen ist, und zwar selbst dann, wenn diese Auffassung einer Überprüfung nicht standhalten sollte (vgl. Urteil vom 25. März 1987 - BVerwG 6 C 10.84 - (Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 183 S. 4)). Hier ist der Verwaltungsgerichtshof ersichtlich davon ausgegangen, daß es nach § 15 SchwbG im Hinblick auf die nach dieser Vorschrift gebotene Ermessensentscheidung (s. dazu auch BVerwGE 90, 287 (289)), also aus materiellrechtlichen Gründen, notwendig ist, daß die Hauptfürsorgestelle selbst die nach Ansicht des Berufungsgerichts noch erforderlichen Sachverhaltsermittlungen nachholt und zur Grundlage einer neuen Ermessensentscheidung macht. Vor diesem Hintergrund ist kein Raum für die Annahme, daß die Vorinstanz gegen § 86 Abs. 1 oder § 130 VwGO verstoßen haben könnte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 188 Satz 2 VwGO.
Fundstellen
Haufe-Index 60564 |
Buchholz 436.61 § 15 SchwbG, Nr 9 (ST) |
RzK IV 8a, Nr 37 (S) |