Entscheidungsstichwort (Thema)
Rücknahme von auf der rückwirkenden Anwendung von § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG BB n.F. beruhenden Beitragsbescheiden.
Leitsatz (amtlich)
1. Die Verfassungs- und Grundrechtsbindung der öffentlichen Gewalt (Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3 GG) führt nicht dazu, dass das einer Behörde durch eine Ermächtigung zur Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte eingeräumte Ermessen allein deshalb auf Null reduziert ist, weil der zurückzunehmende Verwaltungsakt verfassungs- oder grundrechtswidrig ist.
2. Zur entsprechenden Anwendbarkeit von § 144 Abs. 4 VwGO im Verfahren über die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision bei Versagung des rechtlichen Gehörs in Fällen, in denen zentrale rechtliche Gesichtspunkte im Vorbringen des Beschwerdeführers vom Berufungsgericht nicht in Erwägung gezogen worden sind.
Leitsatz (redaktionell)
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, der das Bundesverwaltungsgericht gefolgt ist, ist dem Grundgesetz keine allgemeine Verpflichtung der vollziehenden Gewalt zu entnehmen, rechts- oder verfassungswidrige belastende Verwaltungsakte unbeschadet des Eintritts ihrer Bestandskraft von Amts wegen oder auf Antrag des Adressaten aufzuheben. Dies gilt auch für bestandskräftige Verwaltungsakte, deren Rechtsgrundlage gegen Verfassungsrecht verstößt oder die auf der verfassungswidrigen Anwendung einer gültigen Rechtsnorm beruhen. Letzteres ist hier mit der gegen Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes aus Art. 20 Abs. 3 GG verstoßenden rückwirkenden Anwendung von § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG BB i.d.F des Zweiten Gesetzes zur Entlastung der Kommunen von pflichtigen Aufgaben vom 17. Dezember 2003 (GVBl. I S. 294; KAG BB n.F.) in Fällen, in denen Beiträge nach § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG BB in seiner ursprünglichen Fassung vom 27. Juni 1991 (GVBl. I S. 200; KAG BB a.F.) nicht mehr erhoben werden können, der Fall.
Normenkette
GG Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3; AO § 130 Abs. 1; KAG BB § 8 Abs. 7 S. 2, § 12 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. b
Verfahrensgang
OVG Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 08.04.2020; Aktenzeichen OVG 9 B 19.19) |
VG Frankfurt (Oder) (Urteil vom 26.09.2019; Aktenzeichen 8 K 1878/16) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 8. April 2020 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 13 200,85 € festgesetzt.
Gründe
Rz. 1
Die Beschwerde, die auf die Zulassungsgründe nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 3 VwGO gestützt ist, hat keinen Erfolg.
Rz. 2
1. Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen.
Rz. 3
Grundsätzlich bedeutsam im Sinne dieser Vorschrift ist eine Rechtssache nur, wenn für die angefochtene Entscheidung der Vorinstanz eine konkrete, fallübergreifende und bislang ungeklärte Rechtsfrage des revisiblen Rechts von Bedeutung war, deren Klärung im Revisionsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint.
Rz. 4
Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Denn die vom Kläger aufgeworfene Frage,
ob die Bindungswirkung des Verfassungsrechts, insbesondere die der Grundrechte aus Art. 1 Abs. 3 GG, dazu führt, dass das im Rahmen einer Regelung über die Rücknahme eines Bescheides (wie hier durch § 12 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. b KAG BB in Verbindung mit § 130 Abs. 1 AO) eingeräumte Ermessen dann auf Null reduziert wird, wenn feststeht, dass der zurückzunehmende Bescheid verfassungswidrig ist und insbesondere unter Verstoß gegen Grundrechte erlassen wurde,
rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision. Zu ihrer Klärung bedarf es nicht der Durchführung eines Revisionsverfahrens, weil sie sich anhand der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts ohne Weiteres verneinen lässt.
Rz. 5
a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, der das Bundesverwaltungsgericht gefolgt ist, ist dem Grundgesetz keine allgemeine Verpflichtung der vollziehenden Gewalt zu entnehmen, rechts- oder verfassungswidrige belastende Verwaltungsakte unbeschadet des Eintritts ihrer Bestandskraft von Amts wegen oder auf Antrag des Adressaten aufzuheben. Dies gilt auch für bestandskräftige Verwaltungsakte, deren Rechtsgrundlage gegen Verfassungsrecht verstößt oder die auf der verfassungswidrigen Anwendung einer gültigen Rechtsnorm beruhen (BVerfG, Beschluss vom 11. Oktober 1966 - 1 BvR 164/64, 1 BvR 178/64 - BVerfGE 20, 230 ≪235 f.≫, Urteil vom 24. Mai 2006 - 2 BvR 669/04 - BVerfGE 116, 24 ≪55≫, Beschluss vom 27. Februar 2007 - 1 BvR 1982/01 - BVerfGE 117, 302 ≪315≫ und Kammerbeschluss vom 30. Januar 2008 - 1 BvR 943/07 - NVwZ 2008, 550 ≪551≫; BVerwG, Urteil vom 24. Februar 2011 - 2 C 50.09 - Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 58 Rn. 14). Letzteres ist hier mit der gegen Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes aus Art. 20 Abs. 3 GG verstoßenden rückwirkenden Anwendung von § 8 Abs. 7 Satz 2 des Kommunalabgabengesetzes für das Land Brandenburg (KAG BB) in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Entlastung der Kommunen von pflichtigen Aufgaben vom 17. Dezember 2003 (GVBl. I S. 294; KAG BB n.F.) in Fällen, in denen Beiträge nach § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG BB in seiner ursprünglichen Fassung vom 27. Juni 1991 (GVBl. I S. 200; KAG BB a.F.) nicht mehr erhoben werden können, der Fall (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. November 2015 - 1 BvR 2961/14, 3051/14 - juris Rn. 2, 4 und 39 ff.).
Rz. 6
Dabei findet diese Rechtsprechung trotz der Bindung der öffentlichen Gewalt an die verfassungsmäßige Ordnung (Art. 20 Abs. 3 GG) und die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) insbesondere auch dann Anwendung, wenn die Verfassungswidrigkeit oder verfassungswidrige Anwendung der Rechtsnorm, auf die ein bestandskräftiger Verwaltungsakt gestützt ist, auf ihrer Grundrechtswidrigkeit beruht (BVerfG, Beschluss vom 11. Oktober 1966 - 1 BvR 164/64, 1 BvR 178/64 - BVerfGE 20, 230 ≪234 f.≫: Unvereinbarkeit der Auslegung mit Art. 6 Abs. 1 GG; vgl. dazu BVerfG, Urteil vom 21. Februar 1961 - 1 BvL 29/57, 1 BvL 20/60 - BVerfGE 12, 151 ≪166 ff.≫; Kammerbeschluss vom 30. Januar 2008 - 1 BvR 943/07 - NVwZ 2008, 550 ≪551≫: Unvereinbarkeit der Rechtsgrundlage mit Art. 3 Abs. 1 GG). Verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist dies im Hinblick auf den im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Grundsatz der Rechtssicherheit, dem der Gesetzgeber jedenfalls grundsätzlich den Vorrang vor dem Prinzip der Gerechtigkeit im Einzelfall auch dann einräumen darf, wenn infolgedessen die Durchsetzung eines Grundrechts in abgeschlossenen Verfahren nicht mehr möglich ist (BVerfG, Beschlüsse vom 12. Dezember 1957 - 1 BvR 678/57 - BVerfGE 7, 194 ≪195 f.≫ und vom 11. Oktober 1966 - 1 BvR 164/64, 1 BvR 178/64 - BVerfGE 20, 230 ≪235≫). Denn selbst die Einschränkung von vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten kann nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durch Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechte und Rechtswerte verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein (vgl. etwa BVerfG, Beschlüsse vom 26. Mai 1970 - 1 BvR 83/69 u.a. - BVerfGE 28, 243 ≪260 f.≫ und vom 26. Juni 1991 - 1 BvR 779/85 - BVerfGE 84, 212 ≪228≫).
Rz. 7
Dass rechts- oder verfassungswidrige Verwaltungsakte nicht zwingend zurückgenommen werden müssen, gilt auch für die Fälle, in denen die Rücknahme solcher Verwaltungsakte wie in § 48 Abs. 1 VwVfG und § 12 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. b KAG BB in Verbindung mit § 130 Abs. 1 AO in das Ermessen der Behörde gestellt ist. Denn sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch das Bundesverwaltungsgericht haben in solchen Fällen unter Berufung auf diese Rechtsprechung eine Ermessensreduktion auf Null allein wegen der Grundrechts- oder Verfassungswidrigkeit eines bestandskräftigen Verwaltungsakts verneint (BVerfG, Kammerbeschluss vom 30. Januar 2008 - 1 BvR 943/07 - NVwZ 2008, 550 ≪551≫; BVerwG, Urteil vom 24. Februar 2011 - 2 C 50.09 - Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 58 Rn. 11 ff., 14, jeweils zu § 48 VwVfG).
Rz. 8
Auf der Grundlage dieser Rechtsprechung lässt sich die vom Kläger aufgeworfene Frage also ohne Weiteres dahingehend beantworten, dass die Bindung der öffentlichen Gewalt an die verfassungsmäßige Ordnung (Art. 20 Abs. 3 GG) und die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) nicht dazu führt, dass das einer Behörde durch eine Regelung über die Rücknahme von Verwaltungsakten wie § 12 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. b KAG BB in Verbindung mit § 130 Abs. 1 AO eingeräumte Ermessen allein deshalb auf Null reduziert ist, weil der zurückzunehmende Bescheid verfassungs- oder grundrechtswidrig ist.
Rz. 9
b) Dieses Ergebnis wird auch nicht durch die Einwände des Klägers gegen die Berücksichtigung des Nichtannahmebeschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Januar 2008 - 1 BvR 943/07 - (NVwZ 2008, 550) in Frage gestellt.
Rz. 10
Zwar entfaltet diese Entscheidung keine Bindungswirkung nach § 31 Abs. 1 BVerfGG, weil Nichtannahmebeschlüsse keine Sachentscheidungen sind (BVerfG, Beschluss vom 24. Januar 1995 - 1 BvL 18/93 u.a. - BVerfGE 92, 91 ≪107≫). Jedoch gibt sie die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Sache nach so wieder, wie dies bereits in vorausgegangenen Entscheidungen geschehen ist (BVerfG, Urteil vom 24. Mai 2006 - 2 BvR 669/04 - BVerfGE 116, 24 ≪55≫ und Beschluss vom 27. Februar 2007 - 1 BvR 1982/01 - BVerfGE 117, 302 ≪315≫) und wie sie auch vom Bundesverwaltungsgericht übernommen worden ist (BVerwG, Urteil vom 24. Februar 2011 - 2 C 50.09 - Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 58 Rn. 14).
Rz. 11
Soweit der Kläger geltend macht, die Beschlüsse vom 27. Februar 2007 - 1 BvR 1982/01 - (BVerfGE 117, 302 ≪313≫) und vom 30. Januar 2008 - 1 BvR 943/07 - (NVwZ 2008, 550 ≪551≫) gingen insoweit über den von ihnen zitierten Beschluss vom 11. Oktober 1966 - 1 BvR 164/64, 1 BvR 178/64 - (BVerfGE 20, 230 ≪235 f.≫) hinaus, als sie eine Rücknahmeverpflichtung nicht nur von Amts wegen, sondern auch auf Antrag verneinten, trifft dies nicht zu. Denn auch dem Beschluss vom 11. Oktober 1966 lag ein Antrag der Adressaten auf Aufhebung oder Änderung der bestandskräftigen verfassungswidrigen Bescheide zugrunde (BVerfG, Beschluss vom 11. Oktober 1966 - 1 BvR 164/64, 1 BvR 178/64 - BVerfGE 20, 230 ≪232 f.≫). Dass der vorgenannte Beschluss nicht die Frage einer Ermessensreduktion auf Null betraf, ändert nichts daran, dass das Bundesverfassungsgericht und das Bundesverwaltungsgericht vom Fehlen einer Verpflichtung, rechts- und verfassungswidrige bestandskräftige Verwaltungsakte aufzuheben, auch in Fällen ausgegangen sind, in denen die Rücknahme in das Ermessen der Behörde gestellt war; sie haben auch in solchen Fällen eine Ermessensreduktion auf Null allein wegen der Rechts- oder Verfassungswidrigkeit der betreffenden Bescheide verneint (BVerfG, Kammerbeschluss vom 30. Januar 2008 - 1 BvR 943/07 - NVwZ 2008, 550 ≪551≫; BVerwG, Urteil vom 24. Februar 2011 - 2 C 50.09 - Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 58 Rn. 14).
Rz. 12
2. Die Revision ist auch nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen eines Verfahrensmangels zuzulassen.
Rz. 13
a) Soweit der Kläger geltend macht, ihm sei im Hinblick auf die aufgeworfene Grundsatzfrage das rechtliche Gehör versagt worden, kann offenbleiben, ob dieser Verfahrensmangel vorliegt (aa), denn im Hinblick auf § 144 Abs. 4 VwGO, der im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren entsprechend anwendbar ist, wäre auch dann die Zulassung der Revision nicht gerechtfertigt (bb).
Rz. 14
aa) Der Senat lässt offen, ob der vom Kläger geltend gemachte Gehörsverstoß vorliegt.
Rz. 15
Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch in Erwägung zu ziehen. Davon ist zwar grundsätzlich auszugehen; dies setzt aber voraus, dass das wesentliche Vorbringen in den Entscheidungsgründen verarbeitet wird. Auch wenn das Gericht nicht verpflichtet ist, sich mit jedem Argument in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen, ist es aber gehalten, in angemessener Weise zum Ausdruck zu bringen, weshalb es von einer Auseinandersetzung mit dem Parteivorbringen abgesehen hat. Enthält dagegen das Urteil zu zentralen rechtlichen Gesichtspunkten im Vortrag eines Beteiligten keine nähere Auseinandersetzung in den Entscheidungsgründen und auch keinen Hinweis darauf, weshalb diese Argumente nach Ansicht des Gerichts nicht entscheidungserheblich sind, liegt ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör vor (BVerwG, Urteil vom 31. Juli 2002 - 8 C 37.01 - Buchholz 428 § 1 Abs. 3 VermG Nr. 35 S. 109 und Beschluss vom 4. Juli 2008 - 3 B 18.08 - juris Rn. 10).
Rz. 16
Der Kläger hat hier bereits in seiner Berufungsbegründung vom 18. November 2019 geltend gemacht, die verfassungsrechtlichen Grundprinzipien und die Grundrechte setzten der Anwendung der Gesetze Grenzen, die die Behörden zu beachten hätten; für die Grundrechte ergebe sich dies ausdrücklich aus Art. 1 Abs. 3 GG. Dies habe zwangsläufig zur Folge, dass Entscheidungen, die unter Verstoß gegen Verfassungsrecht ergingen, zwingend aufzuheben seien. Denn ihre Aufrechterhaltung stelle einen erneuten Verfassungsverstoß dar. Nachdem das Oberverwaltungsgericht den Beteiligten unter Bezugnahme auf seine Urteile vom 12. November 2019 - 9 B 40.18 und 9 B 11.19 - Gelegenheit gegeben hatte, sich zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 130a VwGO zu äußern, wies der Klägerbevollmächtigte mit Schriftsatz vom 5. März 2020 darauf hin, dass diese Urteile die "wichtigste Frage", die in der Berufungsbegründung aufgeworfen worden sei, nicht thematisierten, denn sie gingen nicht darauf ein, dass eine Ermessensentscheidung, die einen verfassungswidrigen Zustand aufrechterhalte, selbst verfassungswidrig sei. Mit Schriftsatz vom 31. März 2020 wiederholte er schließlich nochmals sein Vorbringen.
Rz. 17
Es kann dahinstehen, ob es angesichts dieser nachdrücklichen Hinweise des Klägers geboten war, sich ausdrücklich mit der zentralen rechtlichen Argumentation des Klägers in den Gründen der Berufungsentscheidung auseinanderzusetzen, denn selbst bei Annahme einer Gehörsverletzung wäre die Revision nicht zuzulassen.
Rz. 18
bb) Dies folgt aus einer analogen Anwendung von § 144 Abs. 4 VwGO.
Rz. 19
Dieser Vorschrift liegt der Rechtsgedanke zugrunde, dass eine Rechtsverletzung durch die Begründung einer Entscheidung, die sich aus anderen Gründen als richtig erweist, nicht zum Erfolg des Rechtsmittels führen soll. Das Verfahren soll nicht um eines Fehlers willen fortgeführt werden, der mit Sicherheit für das endgültige Ergebnis bedeutungslos bleiben wird. Dieser Gedanke wirkt auf das Verfahren über die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision vor, so dass nach dem Sinn und Zweck des § 144 Abs. 4 VwGO auch eine Nichtzulassungsbeschwerde nicht zur Fortsetzung des Verfahrens wegen eines Fehlers führen kann, der mit Sicherheit ohne Einfluss auf das Verfahrensergebnis wäre (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 22. August 1996 - 8 B 100.96 - Buchholz 310 § 144 VwGO Nr. 62 und vom 21. November 2019 - 7 B 30.18 - Buchholz 406.27 § 16 BBergG Nr. 2, jew. m.w.N.).
Rz. 20
Dem steht nicht entgegen, dass die Berufungsentscheidung nach § 138 Nr. 3 VwGO als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen ist, wenn einem Beteiligten das rechtliche Gehör versagt war. Zwar findet § 144 Abs. 4 VwGO beim Vorliegen eines absoluten Revisionsgrundes nach § 138 VwGO im Revisionsverfahren regelmäßig keine Anwendung. Dies gilt in den Fällen des Gehörsverstoßes allerdings insbesondere dann nicht, wenn lediglich nicht hinreichend Gelegenheit bestand, zu Rechtsfragen Stellung zu nehmen, oder der Vortrag eines Beteiligten zu Rechtsfragen vom Berufungsgericht nicht in Erwägung gezogen worden ist. Denn ein solcher Mangel verletzt anders als ein den Tatsachenvortrag eines Beteiligten betreffender Gehörsverstoß das rechtliche Gehör nicht im Sinne von § 138 Nr. 3 VwGO, weil er im Revisionsverfahren heilbar ist, wenn es sich nicht um eine bloße Verfahrensrevision handelt (BVerwG, Urteile vom 30. Juni 1965 - 5 C 29.64 - BVerwGE 21, 274 ≪275 f.≫ und vom 31. Juli 2002 - 8 C 37.01 - Buchholz 428 § 1 Abs. 3 VermG Nr. 35 S. 109 f.).
Rz. 21
Eine entsprechende Anwendung von § 144 Abs. 4 VwGO kommt danach insbesondere dann in Betracht, wenn einem Beteiligten zwar das rechtliche Gehör zu Rechtsfragen versagt worden ist, sich dies aber auf das endgültige Ergebnis des Rechtsstreits mit Sicherheit nicht auswirken kann, weil bereits im Verfahren über die Nichtzulassungsbeschwerde feststeht, dass auch eine Berücksichtigung des Beteiligtenvorbringens, auf das sich der Gehörsverstoß bezieht, nicht zu einem anderen Ausgang des Verfahrens führen kann (vgl. zu einer ähnlichen Konstellation BVerwG, Beschluss vom 22. Juni 2005 - 7 B 51.05 - juris Rn. 3). So liegt es hier.
Rz. 22
Die Berufungsentscheidung erweist sich auch unter Berücksichtigung der vom Oberverwaltungsgericht nicht ausdrücklich in Erwägung gezogenen Argumentation des Klägers als richtig. Denn auch die Verfassungs- und Grundrechtsbindung der Behörde bewirkt - wie oben zur Grundsatzrüge ausgeführt wurde - nicht, dass verfassungs- oder grundrechtswidrige Verwaltungsakte zwingend aufzuheben sind und das Rücknahmeermessen der Behörde zwangsläufig auf Null reduziert ist.
Rz. 23
b) Eine die Zulassung der Revision rechtfertigende Gehörsverletzung ist auch nicht dargetan, soweit der Kläger geltend macht, das Berufungsgericht habe Vortrag zu einem angeblich vom Kläger angesprochenen Hinweisbeschluss des Kammergerichts vom 7. Oktober 2019 - 28 U 19/18 - verworfen, obwohl er mit diesem Beschluss nicht argumentiert habe. Insoweit fehlt es schon an einer Darlegung, wie sich der behauptete Fehler auf die Entscheidung ausgewirkt haben könnte. Der Verweis des Klägers auf Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl. 2020, § 132 Rn. 21, mit dem er belegen will, dass es seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzen kann, wenn ihm Erklärungen unterstellt werden, die er nicht abgegeben hat, betrifft keine Gehörsverletzung, sondern einen Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Dass ein solcher Verstoß hier vorliegen könnte, zeigt die Beschwerdebegründung jedoch nicht auf.
Rz. 24
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 3 Satz 1 GKG.
Fundstellen
Haufe-Index 14709669 |
LKV 2021, 502 |
VR 2021, 432 |
BayVBl. 2021, 825 |