Verfahrensgang
OVG für das Land NRW (Beschluss vom 10.01.2023; Aktenzeichen 11 A 1139/22.A) |
VG Minden (Entscheidung vom 31.05.2022; Aktenzeichen 12 K 1120/22.A) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 10. Januar 2023 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
Rz. 1
Die auf einen Verfahrensmangel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.
Rz. 2
1. Der von der Beschwerde allein geltend gemachte Verfahrensmangel in Gestalt einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO), den sie darin begründet sieht, dass das Berufungsgericht im Beschlussverfahren gemäß § 130a VwGO entschieden hat, liegt nicht vor.
Rz. 3
a. Nach § 130a Satz 1 VwGO kann das Oberverwaltungsgericht über die Berufung durch Beschluss entscheiden, wenn es sie einstimmig für begründet oder einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Ist das sich auf die Begründetheit oder Unbegründetheit der Berufung beziehende Einstimmigkeitserfordernis erfüllt, steht die Entscheidung, ob ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss befunden wird, im Ermessen des Gerichts. Die Grenzen des dem Berufungsgericht eingeräumten Ermessens sind weit gezogen (BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 2022 - 1 B 95.21 - juris Rn. 11 m. w. N.). Mit dem Grad der Schwierigkeit der Rechtssache wächst auch das Gewicht der Gründe, die gegen die Anwendung des § 130a VwGO und für die Durchführung einer mündlichen Verhandlung sprechen. Die Grenzen von § 130a Satz 1 VwGO sind erreicht, wenn im vereinfachten Berufungsverfahren ohne mündliche Verhandlung entschieden wird, obwohl die Sache in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht außergewöhnliche Schwierigkeiten aufweist (BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 2022 - 1 B 95.21 - juris Rn. 12 m. w. N.).
Rz. 4
b. Gemessen daran erweist sich die Durchführung des vereinfachten Berufungsverfahrens nach § 130a VwGO durch das Oberverwaltungsgericht nicht als ermessensfehlerhaft.
Rz. 5
aa) Das Berufungsgericht hat die Beteiligten zu seiner Absicht, durch Beschluss nach § 130a VwGO zulasten des Klägers zu entscheiden, mit Verfügung vom 10. November 2022 vorab gehört. Dabei hat es auf seine am 25. August 2022 - 11 A 861/20.A. - und am 19. September 2022 - 11 A 200/20.A - ergangenen Entscheidungen Bezug genommen, nach denen in Rumänien nach den aktuellen Erkenntnismitteln derzeit nicht von einer Gefahrenlage für nicht vulnerable anerkannte Schutzberechtigte auszugehen ist, die zu einem Verstoß gegen Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK führt.
Rz. 6
Der Kläger hat innerhalb der gesetzten Äußerungsfrist mit Schriftsatz vom 2. Dezember 2022 einer Entscheidung nach § 130a VwGO widersprochen und geltend gemacht, ihm drohten bei einer Rückführung nach Rumänien Haft und illegale Push-Backs nach Serbien durch die rumänischen Behörden. Hierzu hat er Beweis durch Einholung verschiedener Auskünfte angeboten.
Rz. 7
(1) Hat das Berufungsgericht eine Anhörung durchgeführt und stellt ein Beteiligter einen Beweisantrag, der in der mündlichen Verhandlung gemäß § 86 Abs. 2 VwGO beschieden werden müsste, wird das Gericht seiner Pflicht der Gewährung rechtlichen Gehörs in der Regel nur dadurch gerecht, dass es den Beteiligten durch eine erneute Anhörungsmitteilung im Sinne des § 130a VwGO in Verbindung mit § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO auf die unverändert beabsichtigte Entscheidung durch Beschluss und damit darauf hinweist, dass es seinem Beweisantrag nicht nachgehen werde (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 22. Juni 2007 - 10 B 56.07 - juris Rn. 8 und vom 2. Mai 2018 - 6 B 69.17 - Buchholz 402.5 WaffG Nr. 112 Rn. 5). Von einer nochmaligen Anhörungsmitteilung kann allerdings abgesehen werden, wenn das neue Vorbringen des Beschwerdeführers nicht den Anforderungen genügt, die erfüllt sein müssen, damit das Tatsachengericht gehalten ist, durch weitere Ermittlungen bzw. eine Vorabentscheidung darauf einzugehen (BVerwG, Beschluss vom 18. März 1992 - 5 B 36.92 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 4 S. 3). Der Anspruch auf rechtliches Gehör bezieht sich nur auf entscheidungserhebliches Vorbringen; er verpflichtet das Gericht nicht, Ausführungen zur Kenntnis zu nehmen oder zu erörtern, auf die es aus seiner Sicht unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt ankommt. Deshalb erübrigt sich eine erneute Anhörung beispielsweise, wenn das Vorbringen unsubstantiiert ist, neben der Sache liegt oder früheren Vortrag lediglich wiederholt; entsprechendes gilt bei Beweisanträgen (BVerwG, Beschluss vom 18. Juni 1996 - 9 B 140.96 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 16 S. 10). Maßgeblich für die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit ist hierbei die sachlich-rechtliche Auffassung des Berufungsgerichts (BVerwG, Beschluss vom 22. Juni 2007 - 10 B 56.07 - juris Rn. 9). Hält das Berufungsgericht an einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 130a VwGO fest, ohne eine Vorabentscheidung über einen gestellten Beweisantrag zu treffen, muss aus den Entscheidungsgründen seines Beschlusses ersichtlich sein, dass es die Ausführungen des Beteiligten zur Kenntnis genommen und seine Beweisanträge vorher auf ihre Rechtserheblichkeit geprüft hat. Insoweit korrespondiert der Verzicht auf eine Vorabentscheidung über einen Beweisantrag mit der Pflicht des Berufungsgerichts, die Erheblichkeit der Beweiserhebung vor der Entscheidung zu prüfen und sich in den Entscheidungsgründen damit auseinanderzusetzen (BVerwG, Beschlüsse vom 22. Juni 2007 - 10 B 56.07 - juris Rn. 10 und vom 2. Mai 2018 - 6 B 69.17 - Buchholz 402.5 WaffG Nr. 112 Rn. 6).
Rz. 8
Welche Anforderungen im Detail an das Vorbringen, das das Berufungsgericht zu einer neuerlichen Anhörung zu einer Entscheidung durch Beschluss nach § 130a VwGO oder zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung veranlassen muss, zu stellen sind, richtet sich nach dem jeweiligen Verfahrensstand. Sind neben Fragen des individuellen Verfolgungsschicksals auch - wie oftmals im Flüchtlingsrecht und so auch hier - fallübergreifend klärungsfähige Tatsachenfragen zu den allgemeinen Verhältnissen in einem Verfolgerstaat, einem Transitland oder einem Mitgliedstaat zu beurteilen, die in der Rechtsprechung des jeweiligen Gerichts bereits bewertet und in bestimmter Weise geklärt sind, reicht es regelmäßig nicht aus, dem Ergebnis dieser Klärung lediglich entgegenzutreten oder zu diesen Fragen Beweisanträge zu stellen, wenn diese Rechtsprechung allgemein zugänglich oder auf sie in der Anhörung ausdrücklich hingewiesen worden ist. Erforderlich ist insoweit dann Vorbringen, das sich mit dieser Bewertung erkennbar - jedenfalls in der Sache - auseinandersetzt und zumindest in Ansätzen darlegt, dass und aus welchen Gründen diese Bewertung unzutreffend ist, sich weitergehender oder neuerlicher Klärungsbedarf ergibt oder sie wegen welcher auf die Person des Schutzsuchenden bezogener Besonderheiten für diesen nicht zutrifft (BVerwG, Beschluss vom 22. März 2021 - 1 B 4.21 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 93 Rn. 13).
Rz. 9
(2) Nach diesen Grundsätzen konnte das Berufungsgericht verfahrensfehlerfrei ohne neuerliche Anhörung und insbesondere auch ohne Vorabbescheidung der Beweisanträge an der angekündigten Entscheidung durch Beschluss nach § 130a VwGO festhalten. Es hat sich mit dem Vorbringen des Klägers auseinandergesetzt und ist zu der nicht mit weiteren Verfahrensrügen angegriffenen Erkenntnis gelangt, ihm drohe nicht die Gefahr, in Rumänien als Folgeantragsteller behandelt oder unmittelbar nach seiner Überstellung in Haft genommen zu werden. Ein Verstoß gegen das Non-Refoulement-Prinzip stehe nicht zu befürchten, weil der Kläger im Rahmen eines (förmlichen) Dublin-Verfahrens nach Rumänien überstellt werde. Entgegen der Behauptung der Beschwerde hat sich das Berufungsgericht auch zu den Beweisanträgen verhalten und die im Schriftsatz vom 2. Dezember 2022 angegebenen Erkenntnisse zur Situation von Dublin-Rückkehrern, deren Asylverfahren in Rumänien bestandskräftig erfolglos beendet ist, für unerheblich erachtet, weil das Asylverfahren des Klägers in Rumänien fortgesetzt werden könne (BA S. 20 ff.). Damit hat das Berufungsgericht der Pflicht zur Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör Rechnung getragen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 24. April 2017 - 6 B 17.17 - juris Rn. 11). Es bestand für das Berufungsgericht kein Anlass, von einer Entscheidung nach § 130a VwGO abzusehen oder seine darauf bezogene Ermessensentscheidung zu ergänzen. Dies entspricht auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, wonach dann keine mündliche Verhandlung durchgeführt werden muss, wenn die Rechtssache keine Tatsachen- oder Rechtsfragen aufwirft, die sich nicht unter Heranziehung der Akten und der schriftlichen Erklärungen der Parteien angemessen lösen lassen (EuGH, Urteil vom 26. Juli 2017 - C-348/16 [ECLI:EU:C:2017:591], Moussa Sacko - Rn. 47 m. w. N.). Für die Berufungsinstanz gelten jedenfalls keine strengeren Maßstäbe (vgl. dazu EGMR, Urteil vom 29. Oktober 1991 Nr. 11826/85, Helmers - NJW 1992, 1813).
Rz. 10
bb) Ebenso wenig gebot Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Die Norm findet auf den vorliegenden Rechtsstreit keine direkte Anwendung (BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 2022 - 1 B 95.21 - juris Rn. 15 m. w. N.). Davon unberührt bleibt, dass die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 1 EMRK entwickelten Anforderungen bei konventionskonformer Anwendung im Rahmen der Ermessensausübung nach § 130a VwGO vom Berufungsgericht zu berücksichtigen sind.
Rz. 11
cc) Das nach nationalem Recht in konventionskonformer Auslegung eröffnete Ermessen, ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zu entscheiden, war hier auch nicht mit Blick auf Unionsrecht eingeschränkt oder ausgeschlossen.
Rz. 12
Weder Art. 46 RL 2013/32/EU noch Art. 47 Abs. 1 und 2 GRC oder eine andere Bestimmung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sehen die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem mit dem Rechtsbehelf befassten Gericht zwingend vor. Jedenfalls dann, wenn das Gericht der Auffassung ist, dass es seiner Verpflichtung zur umfassenden ex-nunc-Prüfung des Rechtsbehelfs nach Art. 46 Abs. 3 RL 2013/32/EU allein auf der Grundlage des Akteninhalts einschließlich der Niederschrift oder des Wortprotokolls der persönlichen Anhörung des Antragstellers nachkommen kann, kann es die Entscheidung treffen, den Antragsteller im Rahmen des Rechtsbehelfs nicht anzuhören und von einer mündlichen Verhandlung abzusehen (BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 2022 - 1 B 95.21 - juris Rn. 16 m. w. N.). Davon ausgehend hat die Beschwerde keine Gründe aufgezeigt, aus denen das Berufungsgericht unter unionsrechtlichen Gesichtspunkten verpflichtet gewesen wäre, eine mündliche Verhandlung durchzuführen.
Rz. 13
dd) Das Ermessen des Berufungsgerichts, im vereinfachten Berufungsverfahren nach § 130a VwGO zu entscheiden, war auch nicht dadurch eingeschränkt, dass bereits die Entscheidung des Verwaltungsgerichts mit Zustimmung der Beteiligten (und damit ohne den Beteiligten die Möglichkeit des persönlichen Vortrages zu nehmen) ohne mündliche Verhandlung ergangen ist.
Rz. 14
Zwar verlangt die bei der Ermessensausübung zu beachtende Regelung des Art. 6 Abs. 1 EMRK nach der ständigen, auf der Grundlage der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entwickelten höchstrichterlichen Rechtsprechung, dass die Beteiligten im gerichtlichen Verfahren mindestens einmal die Gelegenheit erhalten, zu den entscheidungserheblichen Rechts- und Tatsachenfragen in einer mündlichen Verhandlung Stellung zu nehmen. Wenn die Beteiligten in der ersten Instanz Gelegenheit zu einer mündlichen Verhandlung hatten und sie freiwillig und ausdrücklich auf eine mündliche Verhandlung verzichtet haben (§ 101 Abs. 2 VwGO), steht dem Berufungsgericht die Möglichkeit einer Entscheidung durch Beschluss nach § 130a VwGO aber grundsätzlich offen. Auf die Gründe, aus denen ein Beteiligter von der ihm in erster Instanz jedenfalls eröffneten Möglichkeit, in einer mündlichen Verhandlung persönlich zur Sache vorzutragen, keinen Gebrauch gemacht hat, kommt es dabei nicht an (BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 2022 - 1 B 95.21 - juris Rn. 19 m. w. N.).
Rz. 15
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.
Fundstellen
Dokument-Index HI15747698 |