Entscheidungsstichwort (Thema)
Überraschungsentscheidung. Freibeweis. schützenswertes Interesse an Gewißheit über die Pflicht zum Nachdienen nach Vollendung des 25. Lebensjahres
Leitsatz (amtlich)
Die Frage, ob ein Klageantrag zulässig ist, ist zum Zwecke der Vermeidung einer Überraschungsentscheidung – vom Gericht grundsätzlich in der mündlichen Verhandlung fallbezogen zu erörtern, wenn es hierauf seine Entscheidung stützen will und das Vorbringen der Beteiligten diese Frage bislang nicht umfaßt hat.
Normenkette
VwGO § 108 Abs. 2, § 43 Abs. 2; GG Art. 19 Abs. 4 S. 1, Art. 103 Abs. 1; WPflG § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 1, Abs. 3
Verfahrensgang
VG Würzburg (Entscheidung vom 14.01.1999; Aktenzeichen 1 K 98.914) |
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird das aufgrund mündlicher Verhandlung vom 14. Januar 1999 ergangene Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlußentscheidung vorbehalten.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 8 000 DM festgesetzt.
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger nach Vollendung seines 25. Lebensjahres noch zur Ableistung des Grundwehrdienstes einberufen werden darf.
Der Kläger ist am 4. Mai 1972 geboren. Nachdem er zunächst vom Grundwehrdienst zurückgestellt worden war, wurde er mit Bescheid vom 23. Januar 1997 zum Dienstantritt am 3. März 1997 einberufen. Auf seinen Antrag ordnete das Bayerische Verwaltungsgericht Würzburg mit Beschluß vom 22. April 1997 die aufschiebende Wirkung des Einberufungsbescheides an. Weitere gerichtliche Verfahren wurden bislang entweder nicht entschieden oder ruhen auf Antrag der Beteiligten.
Mit Schreiben vom 23. Januar 1998 beantragte der Kläger beim Kreiswehrersatzamt Würzburg die Feststellung, daß er nicht mehr zur Ableistung des Grundwehrdienstes wegen Vollendung des 25. Lebensjahres einberufen werden könne, nachdem das Wehrdienstverhältnis, zu dem er zum 3. März 1997 einberufen worden sei, am 30. Dezember 1997 geendet habe. Der Kläger ist der Ansicht, der Einberufungsbescheid sei rechtswidrig gewesen. Daraus folge, daß die Aussetzung nicht dazu führen dürfe, über das vollendete 25. Lebensjahr nachzudienen. § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 WPflG sei nicht anzuwenden.
Mit Bescheid vom 24. März 1998 lehnte das Kreiswehrersatzamt eine derartige Feststellung ab. Der Widerspruch des Klägers hatte keinen Erfolg. Mit seiner fristgemäßen Klage hat der Kläger beantragt,
- den Bescheid des Kreiswehrersatzamtes Würzburg vom 24. März 1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides der Wehrbereichsverwaltung VI vom 15. Juli 1998 aufzuheben,
- festzustellen, daß der Kläger nicht mehr zur Ableistung des Grundwehrdienstes in Friedenszeiten einberufen werden könne.
Aufgrund mündlicher Verhandlung vom 14. Januar 1999 wies das Verwaltungsgericht die Klage durch Urteil als unzulässig ab. Zur Begründung führte das Gericht aus: Der Feststellungsantrag – Klageantrag zu 2 – sei unzulässig. Der Kläger könne – statt einer Feststellungsklage – sein Begehren im Hinblick auf § 43 Abs. 2 VwGO durch Gestaltungs- oder Leistungsklage verfolgen. Wenn der Kläger zum Wehrdienst herangezogen werden sollte, sei der Erlaß eines erneuten Einberufungsbescheides erforderlich. Hiergegen könne der Kläger – ggf. durch Anfechtungsklage – erfolgreich vorgehen, wenn er nicht mehr zum Wehrdienst herangezogen werden dürfe. Für den Anfechtungsantrag – Klageantrag zu 1 – fehle das Rechtsschutzbedürfnis. Der Kläger habe aus einer Aufhebung der angegriffenen Bescheide keinerlei rechtlichen oder tatsächlichen Vorteil. Auch insoweit sei die Frage der Einberufbarkeit in einem (späteren) Einberufungsverfahren zu klären. Im jetzigen Zeitpunkt stehe nicht fest, ob der Kläger noch einberufen werden könne. Allerdings schließe sich das Gericht der Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts an, nach der die Nachdienenspflicht des § 5 Abs. 3 WPflG im Falle der Aussetzung der Vollziehung des Einberufungsbescheides bis zur Vollendung des 28. Lebensjahres des Wehrpflichtigen gelte, wenn sich der Bescheid nachträglich als rechtmäßig erweise.
Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Klägers, mit der die Zulassung der Revision begehrt wird. Zur Begründung wird ausgeführt: Das angegriffene Urteil werfe Fragen von grundsätzlicher Bedeutung auf und weiche außerdem von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ab. Das Urteil sei auch verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Es beruhe auf einer Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Das vorinstanzliche Gericht habe die Möglichkeit, die gestellten Anträge als unzulässig anzusehen, zu keinem Zeitpunkt angesprochen. Daher sei der Kläger durch die Entscheidung überrascht worden. Der Kläger führt näher aus, was er dem Gericht im Falle eines richterlichen Hinweises vorgetragen hätte.
Der Beklagte ist der Beschwerde entgegengetreten.
Das Beschwerdegericht hat über den Hergang der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht eine dienstliche Äußerung des Vorsitzenden der zuständigen Kammer eingeholt. Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers hat anwaltlich versichert, daß der im Beschwerdevorbringen enthaltene Tatsachenvortrag richtig sei. Auf die abgegebenen Erklärungen wird verwiesen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Beschwerde ist begründet.
Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg leidet unter einem Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO. Zum Zwecke der Verfahrensbeschleunigung macht der beschließende Senat von der Möglichkeit der Zurückverweisung der Sache gemäß § 133 Abs. 6 VwGO Gebrauch.
1. Das Urteil des Verwaltungsgerichts beruht auf einer Verletzung des § 108 Abs. 2 VwGO in Verbindung mit Art. 103 Abs. 1 GG. Nach dem zugrunde zu legenden Sachverhalt ist zugunsten des Klägers davon auszugehen, daß er im Rechtssinne durch die angegriffene Entscheidung „überrascht” wurde.
a) Das Verwaltungsgericht hat die Klageanträge als unzulässig abgewiesen. Es meint, daß die vom Kläger zur Klärung gestellte materiellrechtliche Frage inzident in einem etwaigen späteren Einberufungsverfahren noch geklärt werden könne. Der Kläger trägt vor, daß diese prozessuale Möglichkeit zu keinem Zeitpunkt erörtert worden sei.
Trifft dieses Vorbringen zu, so liegt im Rechtssinne eine Überraschungsentscheidung vor, welche den Kläger in seinen prozessualen Rechten verletzt. Kein Beteiligter darf aufgrund unzureichender tatsächlicher oder rechtlicher Erörterung durch die spätere Entscheidung überrascht werden. Eine Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das Gericht seiner Entscheidung tragend eine Rechtsauffassung zugrunde legt, die weder im Verwaltungs- noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren erörtert wurde und die etwa in ihrer Spezialität zunächst als fernliegend anzusehen ist (vgl. Urteil vom 19. Juli 1985 – BVerwG 4 C 62.82 – NJW 1986, 445 = Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 170 und Beschluß vom 23. Dezember 1991 – BVerwG 5 B 80.91 – Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 241). Die Frage, ob ein Klageantrag überhaupt zulässig ist, stellt im Prozeß stets einen derartigen zentralen Gesichtspunkt dar. Er ist vom Gericht als Möglichkeit zu erörtern, wenn hierauf die Endentscheidung – abweichend vom bisherigen materiellrechtlich ausgerichteten Vorbringen der Beteiligten – gestützt werden könnte. Das gilt vor allem dann, wenn eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat. Denn diese dient gerade dazu, rechtliche Zweifelsfragen zu behandeln (vgl. § 104 Abs. 1 VwGO).
Das Vorbringen des Klägers steht zur Überzeugung des Beschwerdegerichts als zutreffend fest. Die Niederschrift über die mündliche Verhandlung enthält keinen Hinweis darauf, daß die Frage der Zulässigkeit der Klage behandelt wurde. Daraus allein läßt sich indes nicht zwingend auf die Nichterörterung schließen. Eine förmliche Protokollierungspflicht besteht nämlich insoweit nicht. Immerhin vermerkt die Niederschrift im vorliegenden Fall, daß der Prozeßbevollmächtigte des Klägers eingehend das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. Oktober 1996 behandelt und daß hierauf der Beklagtenvertreter erwidert habe. Diese Protokollierung könnte als Hinweis darauf zu werten sein, daß materiellrechtliche Fragen im Vordergrund der mündlichen Verhandlung standen. Das wird durch den nachgereichten klägerischen Schriftsatz vom 28. Januar 1999 bestätigt. Dieser Schriftsatz behandelt mit keinem Wort die Frage der Zulässigkeit der gestellten Klageanträge. Das hätte nahegelegen, wenn hierüber in der mündlichen Verhandlung erkennbare Zweifel aufgetreten wären. Da zu diesem Zeitpunkt ausweislich der Akten die Entscheidungsformel, obwohl gemäß § 116 Abs. 2 VwGO übergeben, nicht telefonisch erfragt worden war, ist davon auszugehen, daß der Inhalt des Schriftsatzes vom 28. Januar 1999 unbeeinflußt von dem Entscheidungsergebnis verfaßt wurde. Die Urteilsgründe wurden erst durch das am 21. bzw. 22. April 1999 zugestellte Urteil bekannt.
Dieser Sachverhalt wird durch die vom Beschwerdegericht veranlaßte anwaltliche Versicherung vom 13. August 1999 hinreichend bestätigt. Zwar wird in der Versicherung auch mitgeteilt, daß der Bevollmächtigte der Beklagten die Frage aufgeworfen habe, ob es im vorliegenden Verfahren einer Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des Einberufungsbescheides bedürfe. Daraus läßt sich jedoch nicht entnehmen, daß damit die Frage der Unzulässigkeit der Klageanträge aufgeworfen wurde oder daß diese Frage dadurch auch nur nahelag. Im Gegenteil ist eher anzunehmen, daß jene Frage Bestandteil der Sachprüfung nach § 5 WPflG war. Die dienstliche Äußerung des Vorsitzenden der urteilenden Kammer vom 12. August 1999 steht mit dem Inhalt der anwaltlichen Versicherung nicht im Widerspruch, sondern bestätigt sie eher. Naheliegend mag hier sein, daß das Gericht das Verhältnis der beiden Klageanträge zueinander erörterte und insoweit die Zulässigkeit der Klageanträge behandelte. Maßgebend wäre indes – wie es auch zu Recht die dienstliche Erklärung sieht –, ob Zulässigkeitsbedenken fallbezogen erörtert wurden. Das hätte hier bedeutet, gerade die Frage der Zulässigkeit der Klageanträge mit dem Gesichtspunkt zu verbinden, daß die vom Kläger in den Mittelpunkt seiner rechtlichen Überlegungen gestellte Frage zu einem späteren Zeitpunkt, nämlich aus Anlaß eines erneuten Einberufungsbescheids, beantwortet werden könnte. Auf einen derartigen Gedanken – so ist nach Lebenserfahrung anzunehmen – wäre der Prozeßbevollmächtigte des Klägers in seinem nachgereichten Schriftsatz ebenso detailliert eingegangen, wie er es zu der materiellrechtlichen Fragestellung getan hat. Daß dies – wie erwähnt – nicht geschah, begründet die innere Glaubwürdigkeit des Beschwerdevorbringens. Auch die Beschwerdeerwiderung enthält keine hiervon abweichenden Gesichtspunkte.
b) Das vorinstanzliche Urteil beruht auch auf dem bezeichneten Verfahrensfehler. Das Verwaltungsgericht hat durch die Abweisung der Klage als unzulässig die vom Kläger begehrte materielle Entscheidung verweigert. In der Beschwerdebegründung wird hinreichend plausibel dargelegt, was der Kläger im Falle eines richterlichen Hinweises dem vorinstanzlichen Gericht vorgetragen hätte. Ob dieser Vortrag letztlich das entscheidende Gericht in der vom Kläger gewünschten Richtung hätte bewegen können, braucht das Beschwerdegericht nicht abschließend festzustellen.
In ihrer Beschwerdeerwiderung trägt die Beklagte vor, auch bei angenommener Zulässigkeit der Klageanträge hätte der Kläger die gewünschte Sachentscheidung ohnehin nicht erreichen können. Die Beklagte meint damit ersichtlich, daß sich die angegriffene Entscheidung etwa im Sinne des § 144 Abs. 4 VwGO jedenfalls aus anderen Gründen als richtig erweise. Ob die Aussetzung der Vollziehung den Ausnahmegründen des § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 WPflG (die Beklagte nennt insoweit wohl nur versehentlich § 5 Abs. 2 Nr. 1 WPflG) zugeordnet werden kann, ist im übrigen eine materiellrechtliche Frage. Hierzu verweisen beide Beteiligte auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. Oktober 1996 (– BVerwG 8 C 17.96 – BVerwGE 102, 184 = Buchholz 448.0 § 5 WPflG Nr. 24). Das bedarf indes hier keiner Erörterung. Denn das erstinstanzliche Gericht hat hierauf nicht abgehoben, sondern den Kläger auf einen späteren Einberufungsbescheid „vertröstet” und sich damit einer Sachentscheidung entzogen. Es ist hierbei auf die vom Kläger im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Argumente, nämlich insbesondere, ob u.a. die noch offenen Streitverfahren im Hinblick auf die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG im Streitfall hinreichend Gründe dafür abgeben, dem Kläger die verständlicherweise erstrebte „alsbaldige” Klärung seiner Situation zu versagen, noch nicht eingegangen. Im Hinblick auf das schützenswerte Interesse des Klägers, die Frage seiner Einberufbarkeit schnell und möglichst endgültig geklärt zu haben, um bei künftigen beruflichen Dispositionen nicht beeinträchtigt zu sein, ist es nicht auszuschließen, daß das Verwaltungsgericht diese Frage im Zuge einer erneuten Entscheidung überdenken und anders als bislang beantworten wird. Bei einer materiellrechtlichen Entscheidung in der Sache wird es kaum außer acht lassen, daß es auch nach der genannten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. Oktober 1996 (BVerwG 8 C 17.96) eine Nachdienenspflicht nach Vollendung des 25. Lebensjahrs nicht unabhängig von der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des ursprünglichen Einberufungsbescheids ergehen darf, worauf das angegriffene Urteil im übrigen bereits ausdrücklich hingewiesen hat.
c) Auf weitere geltend gemachte Zulassungsgründe kommt es bei dieser Sach- und Rechtslage nicht an.
2. Die Festsetzung des Wertes des Streitgegenstands beruht auf § 14 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3, § 13 Abs. 1 Satz 2 GKG.
Unterschriften
Niehues, Eckertz-Höfer, Büge
Fundstellen
NVwZ-RR 2000, 396 |
ThürVBl. 2001, 13 |