Verfahrensgang
Bayerischer VGH (Urteil vom 13.09.2006; Aktenzeichen 12 BV 06.808) |
Tenor
Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 13. September 2006 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 50 000 € festgesetzt.
Gründe
Die auf Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 2 VwGO gestützte Beschwerde, mit welcher der Beklagte geltend macht, der Verwaltungsgerichtshof habe zu Unrecht die Voraussetzungen für einen Kostenerstattungsanspruch nach § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX angenommen, bleibt ohne Erfolg.
1. Die Divergenzrüge greift – sofern sie nicht bereits am Erfordernis einer hinreichenden Bezeichnung einer Divergenz scheitert – jedenfalls mangels tatsächlichen Vorliegens einer Divergenz nicht durch.
Eine die Revision gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO eröffnende Divergenz ist nur dann im Sinne des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO hinreichend bezeichnet, wenn die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden Rechtssatz benennt, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts tragenden Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat. Das Aufzeigen einer fehlerhaften oder unterbliebenen Anwendung von Rechtssätzen, die das Bundesverwaltungsgericht in seiner Rechtsprechung aufgestellt hat, genügt den Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Divergenzrüge nicht (vgl. nur Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 19. August 1997 – BVerwG 7 B 261.97 – ≪Buchholz 310 § 133 (n.F.) VwGO Nr. 26≫ m.w.N.; stRspr). Danach ist im Ausgangspunkt bereits zweifelhaft, ob den Darlegungserfordernissen genügt ist, wenn die Beschwerde geltend macht, das angefochtene Urteil beruhe auf einer “fehlerhaften Auslegung” des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. September 1999 – BVerwG 5 C 26.98 – (BVerwGE 109, 325), welches die Leistungskongruenz zwischen konkurrierenden Leistungen der Jugendhilfe und der Sozialhilfe im Rahmen der Auslegung der Vor- und Nachrangregelung in § 10 Abs. 2 SGB VIII a.F. (jetzt § 10 Abs. 4 SGB VIII) betrifft.
Auch die inhaltlichen Ausführungen zur Begründung der Rüge lassen eine Divergenz im Rechtssatz nicht erkennen. Der Beklagte macht mit Blick auf die Besonderheiten des vorliegenden Hilfefalles (durch Verhaltensstörungen ausgelöster Wechsel des Hilfeempfängers von einer ambulant besuchten Schule für Hörbehinderte auf ein spezialisiertes Förderzentrum, dessen Entfernung vom Elternhaus eine Internatsunterbringung erforderlich macht) im Wesentlichen geltend, bei einem komplexen, durch körperliche (Hörbehinderungen) und seelische (daraus folgenden Verhaltensstörungen) Behinderungen gekennzeichneten Hilfebedarf sei nach dem genannten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts eine Gleichartigkeit der Ansprüche auf Jugendhilfe und auf Sozialhilfe wegen geistiger oder körperlicher Behinderung zu verneinen, wenn bei alleiniger Berücksichtigung der körperlichen Behinderung eine Beschulung ohne auswärtige Unterbringung erfolgen könne; für eine infolge der seelischen Behinderung erforderliche spezielle auswärtige Beschulung mit Internatsunterbringung sei dann allein der Jugendhilfeträger zuständig.
Ein solcher Rechtssatz, wonach bei einer Veränderung des behinderungsbedingten Bedarfs infolge Entwicklung einer zunächst körperlichen Funktionsbehinderung zu einem psychophysischen Gesamtkomplex der Anspruch gegen den Sozialhilfeträger auf den ursprünglichen, durch eine körperliche Funktionsstörung bedingten Bedarf beschränkt bleibe, ist dem genannten Urteil nicht zu entnehmen. Vielmehr enthält das Urteil zum Verhältnis der Sätze 1 und 2 des § 10 Abs. 2 SGB VIII a.F. zunächst den Satz (juris-Ausdruck Rn. 12), dass es nicht gerechtfertigt sei, bei vermeintlichen Abgrenzungsschwierigkeiten im Fall einer sog. Mehrfachbehinderung auf die Regelung des Satzes 1 als Grundsatzregelung zurückzugreifen. Sodann wird weiter ausgeführt (juris-Ausdruck Rn. 13), die Regelung eines Vor- bzw. Nachrangs zwischen Leistungen der Jugendhilfe und der Sozialhilfe nach § 10 Abs. 2 SGB VIII (a.F.) setze “notwendig voraus, dass sowohl ein Anspruch auf Jugendhilfe als auch ein Anspruch auf Sozialhilfe besteht und beide Leistungen gleich, gleichartig, einander entsprechend, kongruent, einander überschneidend oder deckungsgleich sind.” Ein Rechtssatz dahingehend, dass bei einer Veränderung des Hilfebedarfs die Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers auf den ursprünglichen Bedarfsfall einer allein körperlichen Behinderung beschränkt bleibe, ist dem Urteil nicht zu entnehmen.
2. Soweit die Beschwerde als rechtsgrundsätzlich bedeutsam die Frage formuliert,
“ob § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII so auszulegen ist, dass Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII für körperlich oder geistig behinderte oder von einer solchen Behinderung bedrohte Kinder und Jugendliche den Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB VIII bereits dann vorgehen, wenn der behinderte Mensch eine bestimmte Eingliederungshilfemaßnahme benötigt und diese generell zum Leistungskatalog der Eingliederungshilfe für körperlich oder geistig behinderte Menschen nach dem SGB XII gehört … oder … § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII vielmehr so auszulegen (ist), dass es Voraussetzung für die vorrangige Leistungsverpflichtung des Sozialhilfeträgers ist, dass der körperlich oder geistig behinderte junge Mensch gerade bereits wegen seiner körperlichen oder geistigen Behinderung speziell diese Maßnahme benötigt”
kommt eine Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht in Betracht.
Diese Frage stellte sich bereits nicht nach der – nicht mit der Verfahrensrüge angegriffenen – tatsächlichen Feststellung des Berufungsgerichts, dass “der Hilfeempfänger nur auf der Hörbehindertenschule des R…-W…-H… Förderzentrums beschult werden konnte, nachdem er wegen seiner massiven Verhaltensproblematik die J…-R…-Schule in S… nicht mehr länger besuchen durfte. Im Bereich des Klägers gab es zu Beginn des Schuljahres 2004/2005 wie auch heute noch keine Hörbehindertenschule, auf die der Hilfeempfänger hätte gehen können”. Denn daraus ergibt sich, dass in dem konkreten Einzelfall der bestehende eingliederungshilferechtliche Bedarf der Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung auch sozialhilferechtlich nur durch die gewählte Einrichtung im Rahmen einer stationären Betreuung gedeckt werden konnte. Hierauf stellt zutreffend auch das Berufungsgericht ab, wenn es ausführt: “Auf den vom Beklagten hervorgehobenen Umstand, dass der Hilfeempfänger ohne seine – mutmaßlich auf einer seelischen Behinderung beruhende – Verhaltensauffälligkeit weiterhin die Hörbehindertenschule in S… hätte ambulant besuchen können, kommt es angesichts des konkreten, tatsächlichen Hilfebedarfs des Hilfeempfängers für eine vollstationäre Beschulung nicht an (Urteilsabdruck S. 12 Abs. 1 letzter Satz).”
Soweit der Beklagten als klärungsbedürftig bezeichnen wollte, ob der im Einzelfall bestehende konkrete Hilfebedarf für die Anwendung des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII in einzelne Komponenten aufzuspalten und dann lediglich die sich bei isolierter Betrachtung einzelner Komponenten hypothetisch erforderlichen Hilfeleistungen gegenüberstellen zu seien, folgte unmittelbar aus dem Gesetz und dem sozialhilferechtlichen Bedarfsdeckungsgrundsatz, dass dies nicht der Fall ist. Dass von dem Erstattungsbegehren Aufwendungen für Leistungen umfasst wären, die von der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe nicht umfasst wären (dazu BVerwG, Urteil vom 2. März 2006 – BVerwG 5 C 15.05 – BVerwGE 125, 95), ist nicht geltend gemacht.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskostenfreiheit besteht nach § 188 Satz 2 Halbs. 2 VwGO (i.d.F. des Gesetzes vom 20. Dezember 2001, BGBl I S. 3987) nicht. Diese Fassung des Gesetzes ist nach § 194 Abs. 5 VwGO anzuwenden, weil das Beschwerdeverfahren erst nach dem 1. Januar 2002 beim Bundesverwaltungsgericht anhängig geworden ist (Beschluss vom 5. Mai 2004 – BVerwG 5 KSt 1.04 –).
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 1, § 72 Nr. 1 GKG i.d.F. des Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes vom 5. Mai 2004 (BGBl I S. 718) und stimmt mit der Streitwertfestsetzung durch das Berufungsgericht überein.
Unterschriften
Schmidt, Dr. Franke, Prof. Dr. Berlit
Fundstellen