Verfahrensgang

OVG für das Land NRW (Aktenzeichen 2 A 2764/98)

 

Tenor

Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 22. November 2000 wird zurückgewiesen.

Der Antrag der Kläger, ihnen Prozesskostenhilfe zu bewilligen und Rechtsanwalt Krempels in Freiburg beizuordnen, wird abgelehnt.

Die Kläger tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 24 000 DM festgesetzt.

 

Gründe

Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die für die Zulassung der Revision geltend gemachten Gründe liegen nicht vor.

1. Die Revision kann nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen werden.

a) Nicht klärungsbedürftig wäre im zukünftigen Revisionsverfahren die Frage, „ob eine Erklärung im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BVFG (hier und im Folgenden in der Neufassung vom 2. Juni 1993 ≪BGBl I S. 829≫) nur dann als Erklärung angesehen werden kann, wenn sie gegenüber den Passbehörden abgegeben wurde, oder ob eine solche Erklärung auch dann angenommen werden kann, wenn sie gegenüber anderen staatlichen oder den Staat vertretenden Stellen abgegeben wurde.” In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass in der Abgabe der unterschriebenen Forma I mit dem Antrag, eine nichtdeutsche Nationalität in den Pass einzutragen, grundsätzlich ein die deutsche Volkszugehörigkeit ausschließendes Gegenbekenntnis zu einem fremden Volkstum liegt (vgl. BVerwGE 99, 133 ≪140 ff.≫; 102, 214 ≪217 f.≫; 105, 60 ≪62 ff.≫ m.w.N.). Nach dem Passrecht der früheren Sowjetunion waren Abkömmlinge aus volkstumsverschiedenen Ehen im Alter von 16 Jahren bei der Ausstellung des ersten Inlandspasses berechtigt und verpflichtet, sich für die Nationalität eines ihrer Elternteile zu entscheiden. Diese passrechtlich zwingend verlangte Nationalitätenerklärung war mittels des unterschriebenen Formularantrags gegenüber der Passbehörde abzugeben. Äußerungen gegenüber anderen staatlichen oder privaten Stellen, etwa den Eltern, Mitschülern oder Lehrern im Vorfeld der Formularabgabe waren nicht nur passrechtlich, sondern auch in aller Regel unter dem Gesichtspunkt, ob sich in ihnen ein anderes Volkstumsbekenntnis niederschlug, irrelevant. Denn aufgrund der rechtlichen Fixierung auf die Formularerklärung gegenüber der Passbehörde und der Dokumentationswirkung des Nationalitäteneintrags im Pass fokussierte der dem jungen Passbewerber abverlangte Entscheidungsprozess in der Ausfüllung der Forma I. Erst hier musste er „Farbe bekennen”. Daraus erklärt sich die im Rahmen des § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BVFG gegenüber davor liegenden Umständen maßgebliche Bedeutung der Formularerklärung. Abweichende Äußerungen im Vorfeld können deshalb grundsätzlich nur als Ausdruck von Entscheidungsunsicherheit oder schwankenden Volkstumsbewusstseins verstanden werden. Es trifft deshalb auch nicht zu, dass – wie die Beschwerde vorträgt – im vorliegenden Fall die gleiche Situation anzunehmen sei, wie sie im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. März 2000 – BVerwG 5 C 25.99 – (Buchholz 412.3 § 6 BVFG Nr. 92) festgestellt worden sei. Denn der dort entschiedene Fall lag in einem entscheidenden Punkt anders: Die Passbewerberin hatte sich zur deutschen Nationalität nicht im Vorfeld der Formularabgabe gegenüber Eltern oder Lehrern, sondern in der bei der Passbehörde abgegebenen Forma I erklärt und diese Formularerklärung später zugunsten der russischen Nationalität geändert.

b) Auch die von der Beschwerde aufgeworfene Frage, „ob und wann von einer ‚freien’ Willenserklärung im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BVFG ausgegangen werden kann und welche Maßstäbe an die Freiheitlichkeit der Willenserklärung ausschließenden Ereignisse angesetzt werden können”, bedarf keiner Klärung in einem Revisionsverfahren. Aus dem systematischen Zusammenhang von § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 mit Satz 2 Halbsatz 2 BVFG folgt ohne weiteres, welche Gesichtspunkte es rechtfertigen, ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum zu fingieren. Von einem nicht freiwilligen Bekenntnis zu einem nichtdeutschen Volkstum kann angesichts dessen nur – wie das Oberverwaltungsgericht zutreffend angenommen hat – bei völligem Ausschluss der Freiheit der Willensentschließung ausgegangen werden (vgl. auch BVerwGE 98, 367 ≪379≫: „gezwungenermaßen”). Wann eine Erklärung im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BVFG als „Lippenbekenntnis” oder „Scheinerklärung” angesehen werden kann oder nicht in dem genannten Sinne auf dem freien Willen des Erklärenden beruhte, ist ansonsten eine Frage des Einzelfalles und nicht von grundsätzlicher Bedeutung.

2. Eine Zulassung der Revision wegen Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) scheidet aus. Soweit die Beschwerde eine Divergenz zum Urteil des Senats vom 23. März 2000 – BVerwG 5 C 25.99 – (a.a.O.) behauptet, übersieht sie, dass die dortige Entscheidung zu einer Fallgestaltung erging, in der die erstmalige Ablegung eines Volkstumsbekenntnisses in der Abgabe des unterschriebenen Formularantrags bei der Passbehörde bestand. In dieser wie auch in allen anderen von der Beschwerde bezeichneten Entscheidungen werden entscheidungstragend nur Nationalitätserklärungen gegenüber Volkszählungs- oder Passbehörden als bekenntnisrelevant im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BVFG bezeichnet (BVerwGE 98, 367 ≪376 ff.≫; 102, 214 ≪217 f.≫; 105, 60 ≪62 ff.≫; die weiter bezeichnete Entscheidung BVerwG 5 C 95.99 existiert nicht), nicht aber Äußerungen in der Schule im Vorfeld der Ausfüllung und Abgabe der Forma I.

3. Die Revision kann auch nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zugelassen werden.

a) Soweit die Beschwerde eine Verletzung der Grundsätze der Beweiswürdigung rügt, übersieht sie, dass diese Grundsätze revisonsrechtlich regelmäßig dem sachlichen Recht zuzurechnen sind und deshalb mit Angriffen gegen die Beweiswürdigung grundsätzlich ein Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO nicht bezeichnet werden kann (stRspr; vgl. etwa BVerwG, Beschlüsse vom 10. Februar 1978 – BVerwG 1 B 13.78 – ≪Buchholz 402.24 § 2 AuslG Nr. 8≫ und vom 12. Januar 1995 – BVerwG 4 B 197.94 – ≪Buchholz 406.12 § 22 BauNVO Nr. 4 S. 4≫). Eine Verletzung der Denkgesetze im Rahmen der Tatsachenwürdigung der Vorinstanz, die ausnahmsweise als Verfahrensmangel in Betracht gezogen werden könnte (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 19. Januar 1990 – BVerwG 4 C 28.89 – BVerwGE 84, 271 ≪272 f.≫; Beschluss vom 12. Januar 1995 – BVerwG 4 B 197.94 – ≪a.a.O. S. 4≫), liegt ersichtlich nicht vor. Ein Tatsachengericht hat nicht schon dann gegen die Denkgesetze verstoßen, wenn es nach Meinung des Beschwerdeführers unrichtige oder fern liegende Schlüsse gezogen hat; ebenso wenig genügen objektiv nicht überzeugende oder sogar unwahrscheinliche Schlussfolgerungen; es muss sich vielmehr um einen aus Gründen der Logik schlechthin unmöglichen Schluss handeln (stRspr; BVerwG, Urteil vom 20. Oktober 1987 – BVerwG 9 C 147.86 – ≪Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 37 S. 4≫ m.w.N.). Nach dem Sachverhalt darf denkgesetzlich ausschließlich eine einzige Folgerung möglich sein, die das Gericht nicht gezogen hat (vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 12. Januar 1995 – BVerwG 4 B 197.94 – ≪a.a.O. S. 4≫). Davon kann im vorliegenden Fall keine Rede sein.

b) Die weiter erhobene Aufklärungsrüge (§ 86 Abs. 1 VwGO) scheitert daran, dass sie nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügt. Wer, wie die Kläger, die Rüge der Verletzung der Aufklärungspflicht erhebt, obwohl er – anwaltlich vertreten – in der Vorinstanz keinen förmlichen Beweisantrag gestellt hat (vgl. § 86 Abs. 2 VwGO), muss, um den gerügten Verfahrensmangel prozessordnungsgemäß zu bezeichnen, substantiiert darlegen, warum sich dem Tatsachengericht aus seiner für den Umfang der verfahrensrechtlichen Sachaufklärung maßgebenden materiellrechtlichen Sicht die Notwendigkeit einer weiteren Sachaufklärung in der aufgezeichneten Richtung hätte aufdrängen müssen (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 2. März 1978 – BVerwG 6 B 24.78 – ≪Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 164 S. 43 f.≫, vom 1. April 1997 – BVerwG 4 B 206.96 – ≪NVwZ 1997, 890, 893≫ sowie vom 19. August 1997 – BVerwG 7 B 261.97 – ≪NJW 1997, 3328≫). Daran lässt es die Beschwerde fehlen. Warum sich dem Tatsachengericht eine weitere Sachaufklärung in einer Richtung hätte aufdrängen müssen, legt die Beschwerde nicht dar.

4. Die Beschwerde war nach alledem mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 13 Abs. 1, § 14 Abs. 1 GKG.

 

Unterschriften

Prof. Dr. Pietzner, Schmidt, Dr. Rothkegel

 

Fundstellen

Dokument-Index HI660178

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